Carl R. Trueman: Fremde neue Welt

von Felix Dirsch --

Wer die Entwicklungen der Moderne verstehen und darstellen will, kommt nicht umhin, die »Quellen des Selbst« ausführlich zu berücksichtigen.

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Schon vor Jahr­zehn­ten hat der kana­di­sche Phi­lo­soph Charles Tay­lor die­ser fast uner­schöpf­li­chen Pro­ble­ma­tik eine magis­tra­le Mono­gra­phie gewid­met, die bis in den Wesens­kern neu­zeit­li­cher Phi­lo­so­phie vor­dringt. Seit dem Erschei­nen von Tay­lors Schrift ist die gera­de in inter­dis­zi­pli­nä­ren Debat­ten immer schon wich­ti­ge The­ma­tik der Iden­ti­tät noch stär­ker in den Fokus öffent­li­cher Auf­merk­sam­keit gerückt.

Der Grund liegt vor­nehm­lich in den prak­ti­schen Kon­se­quen­zen sol­cher Dis­kus­sio­nen, ins­be­son­de­re in den medi­al omni­prä­sen­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Geschlech­ter­viel­falt und (Anti-)Rassismus.

Eine christ­li­che Stim­me in die­sen welt­wei­ten Dis­pu­ten ist der Theo­lo­ge und His­to­ri­ker Carl R. True­man. Bei Tay­lors »sozia­lem Vor­stel­lungs­sche­ma« anset­zend, ver­folgt er den »expres­si­ven Indi­vi­dua­lis­mus«, der in Phä­no­me­nen wie dem Trans­gen­der-Kult sei­ne Kul­mi­nie­rung erfährt, durch die Geis­tes- und Phi­lo­so­phie­ge­schich­te hin­durch. Da Truem­ans Werk Der Sie­ges­zug des moder­nen Selbst man­chen Inter­es­sen­ten wohl zu umfang­reich ist, hat er unter dem vor­lie­gen­den Titel eine Kurz­fas­sung angefertigt.

True­man ver­steht sich nicht als wert­frei­er Betrach­ter des Zeit­ge­sche­hens und sei­ner Hin­ter­grün­de; er möch­te viel­mehr aus den Ana­ly­sen Schluß­fol­ge­run­gen dahin­ge­hend zie­hen, wel­che Aus­wir­kun­gen sich dar­aus für die christ­li­che Exis­tenz der Gegen­wart erge­ben. Klar ist, daß sich im Zuge des post­mo­der­nen Kults um das Indi­vi­du­um eine Bedeu­tungs­min­de­rung für tra­di­tio­nel­le Iden­ti­täts­mar­ker ergibt: Beson­ders gilt dies für Fami­lie, Nati­on und Religionsgemeinschaften.

Zu den zen­tra­len geis­tes­ge­schicht­li­chen Wur­zeln des­sen, was er »expres­si­ven Indi­vi­dua­lis­mus« nennt, zählt True­man Ein­flüs­se aus der Peri­ode der Roman­tik, nicht zuletzt von Rous­se­au. Wei­te­re Den­ker wer­den unter­sucht. Exem­pla­risch sind Marx, Nietz­sche und Freud zu nen­nen. In der spä­te­ren Rezep­ti­on wer­den eini­ge von ihnen geis­tig amal­ga­miert: So syn­the­ti­sier­te Wil­helm Reich Freud und Marx. Reich betrach­te­te Sexua­li­tät im poli­ti­schen Kon­text. Nicht zuletzt aus die­sem Grund wur­de er zu einer Iko­ne der 68er-Bewegung.

Neben der Phi­lo­so­phie sind nach True­man Tech­nik, Pop­kul­tur und Sozio­lo­gie dafür ver­ant­wort­lich, daß die Rea­li­tät immer mehr als form­ba­re betrach­tet wird und der Kon­struk­ti­vis­mus beson­ders im sozia­len Bereich selt­sa­me Blü­ten her­vor­bringt. Inhalt­li­che Ver­bin­dun­gen zwi­schen die­sen Den­kern sind leicht zu erken­nen: Der ein­zel­ne gilt, so eine zen­tra­le Sicht, als gut, aber die Insti­tu­tio­nen per­ver­tie­ren die posi­ti­ven Anla­gen; das Gefühl steht im Vor­der­grund, eben­so Geschmacksfragen.

Im Lau­fe der Ent­wick­lung kon­kre­ti­sie­ren sich sol­che Ansich­ten: Dem­nach trägt die tra­di­tio­nell bür­ger­li­che Fami­lie zur Unter­drü­ckung der Frau und der Sexua­li­tät bei. Die Wider­sprü­che zu Grund­li­ni­en christ­li­cher Moral­vor­stel­lung fal­len auf; den­noch gibt es cum gra­no salis gewis­se Par­al­le­len: ­Augus­ti­nus’ auto­bio­gra­phi­sche Intro­spek­ti­on nimmt vie­les von dem vor­weg, was heu­te als expres­siv-roman­tisch ein­ge­stuft wird.

Ein heu­te noch bekann­ter kon­gre­ga­tio­na­lis­ti­scher Pre­di­ger aus dem 18. Jahr­hun­dert, Jona­than ­Edwards, wur­de nicht müde, auf den not­wen­di­gen Zusam­men­hang von Affek­ten und Glau­be auf­merk­sam zu machen. Die­ser Reprä­sen­tant der Erweckungs­bewegung wuß­te avant la lett­re, was unter Authen­ti­zi­tät zu ver­ste­hen ist.

In sei­nen Rat­schlä­gen ver­sucht der Autor, Schät­ze der christ­li­chen Über­lie­fe­rung zu heben, um woken Kri­ti­kern etwas Posi­ti­ves ent­ge­gen­set­zen zu kön­nen. Dies geschieht vor allem mit­tels Rekurs auf das Natur­recht, das unter christ­li­chen Bedin­gun­gen eine neue Fun­die­rung erhält; wei­ter­hin blickt er posi­tiv auf die Tra­di­ti­on der Theo­lo­gie des Lei­bes, die in beson­de­rer Wei­se mit Papst Johan­nes Paul II. ver­bun­den ist – ein Hin­weis dar­auf, daß True­man, der aus einem pro­tes­tan­ti­schen Kon­text her­aus argu­men­tiert, kei­nes­falls sexu­al­feind­lich gesinnt ist.

Er möch­te dem Schwarz­weiß­dua­lis­mus ent­ge­hen. Am Ende spricht er sich dafür aus, von zu gro­ßem Opti­mis­mus wie über­trie­be­ner Ver­zweif­lung abzu­se­hen. Ein salo­mo­ni­scher Ver­such der Annä­he­rung an zen­tra­le Gegenwartsphänomene!

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Carl R. True­man: Frem­de neue Welt. Wie ­Phi­lo­so­phen und Akti­vis­ten Iden­ti­tät umde­fi­niert und die sexu­el­le Revo­lu­ti­on ent­facht haben, Bad Oeyn­hau­sen: Ver­bum Medi­en 2023. 254 S., 16,90 €

 

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