Dissidente Figuren der Weltliteratur

von Günter Scholdt -- PDF der Druckfassung aus Sezession 120/ Juni 2024

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Jedes Gemein­we­sen ten­diert auf Dau­er zur Ent­ar­tung, indem es bei­spiels­wei­se selbst­ver­ant­wor­te­tes Han­deln beschränkt, abwei­chen­de Mei­nun­gen äch­tet oder Will­kür statt Recht wal­ten läßt.

Ohne eine nen­nens­wer­te Zahl an Dis­si­den­ten droht der Gesell­schaft somit ihr bal­di­ger Über­gang in auto­ri­tä­re bzw. tota­li­tä­re Struk­tu­ren. Von daher erklä­ren sich zeit­über­grei­fen­de Wün­sche nach rea­len wie künst­le­risch ima­gi­nier­ten Vor­bil­dern und ‑kämp­fern, die sich unter Inkauf­nah­me erheb­li­cher Nach­tei­le dem frei­heits­feind­li­chen Trend entgegenstemmen.

Die fol­gen­de Typo­lo­gie sol­cher Prot­ago­nis­ten der Welt­li­te­ra­tur zeigt exem­pla­ri­sche For­men des Wider­spruchs und die ihnen zugrun­de lie­gen­den Moti­ve. Die Ska­la reicht von blo­ßem Zwei­fel an der Rich­tig­keit einer vom Regie­rungs­sys­tem favo­ri­sier­ten »Wahr­heit« über trot­zi­ges Behar­ren in einer Mehr­heits­ty­ran­nei bis zur Bereit­schaft, für das (eige­ne) Recht gegen des­sen Miß­brauch not­falls auch mit der Waf­fe einzustehen.

Wer in Sachen Bel­le­tris­tik übli­cher­wei­se eher frem­delt (vgl. G. Scholdt: »Kon­ser­va­ti­ve und ­Lite­ra­tur«, in: Sezes­si­on 39/2010, S. 22 – 26), möge sich immer­hin bewußt machen: Die hier emp­foh­le­nen Tex­te behan­deln auf – abge­se­hen von ­Orwell – gera­de mal 450 Sei­ten (teils brand­ak­tu­el­le) Polit­mo­del­le in höchs­ter Anschau­lich­keit und Kon­zen­tra­ti­on. Das erspart die Lek­tü­re etli­cher sozio­lo­gi­scher Lehrbücher.

 

Geor­ge Orwell: 1984 (1949)

Mit die­sem Werk kön­nen wir es kurz machen. Gibt es doch im alter­na­ti­ven Lager wohl kaum jeman­den, dem die­ser Klas­si­ker eines moder­nen Polit­ro­mans unbe­kannt wäre. Ein­schließ­lich sei­ner sich auf­drän­gen­den aktu­el­len Par­al­le­len in Sachen staat­lich geför­der­tes Spitzel­wesen, »Wahr­heits­mi­nis­te­ri­um«, Neu­sprech-Gebo­te, retro­spek­ti­ve Zen­sur und Geschichts­po­li­tik, »Gedan­ken­ver­bre­chen« und ‑Poli­zei.

Nicht zu ver­ges­sen eine (auch heu­te geläu­fi­ge) pro­pa­gan­dis­ti­sche Rund­um­be­schal­lung mit täg­li­chem »Zwei-Minu­ten-Haß« gegen die Oppo­si­ti­on. In die­ser Voll­dik­ta­tur bleibt für die Zentral­figur Win­s­ton Smith nur die undank­ba­re Rol­le, Opfer statt Held sein zu kön­nen. Die von ihm kurz­fris­tig ersehn­te Dis­si­denz hät­te sich ohne­hin nur im Unter­grund rea­li­sie­ren las­sen. Doch wird er schnells­tens ent­tarnt, see­lisch gebro­chen und gehirngewaschen.

 

Eugè­ne Ionesco: Die Nas­hör­ner (1957)

Was pas­siert, wenn sich eine Gemein­schaft Schritt für Schritt in eine dumpf tram­peln­de Nas­horn­her­de ver­wan­delt, alles bedro­hend, was zuvor huma­ner Ver­stän­di­gung und einem zivi­len Herr­schafts­dis­kurs zugäng­lich war? Die­se gera­de ein­mal 17seitige Erzäh­lung spielt die­sen sozia­len Ero­si­ons­pro­zeß im Sinn einer mas­sen­psy­cho­lo­gi­schen Fall­stu­die durch.

Ihn för­der­ten gut­mensch­li­ches Ver­drän­gen, sprach­li­ches Bemän­teln und dia­lek­ti­sche Infra­ge­stel­lung des Pro­blems im Ver­bund mit behörd­li­cher Untä­tig­keit. Bald setzt ein Run (der Eli­ten) auf inzwi­schen mehr­heits­fä­hi­ge Posi­tio­nen ein. Schlag­wor­te wie »Gleich­heit«, »Tole­ranz«, »Anti­dis­kri­mi­nie­rung« oder »Auf der Höhe der Zeit blei­ben« erwei­sen sich als argu­men­ta­ti­ve Ein­falls­to­re für neue Ideo­lo­gen. Als die­se an die Macht gelan­gen, fackeln sie nicht lan­ge, und am Ende bleibt ein­zig der Ich-Erzäh­ler als unver­wan­del­ter Mensch übrig.

Bedrängt von Selbst­zwei­feln und Angst­träu­men, schließt er sich zu Hau­se ein. Iso­la­ti­on unter­mi­niert sei­ne Über­zeu­gung und drängt ihn zur Anpas­sung. Ein­zig sein Cha­rak­ter hin­dert ihn dar­an, ins Mehr­heits­la­ger zu deser­tie­ren. »Ich konn­te es ein­fach nicht.« Die äußerst redu­zier­te Hoff­nung die­ser Fabel lau­tet somit: Ech­te Non­kon­for­mis­ten wer­den durch Gewis­sen, Ekel, Trotz oder was auch sonst vom Über­tritt ins Lager der Mas­sen­men­schen abge­hal­ten. Sie sind zah­len­mä­ßig klein, aber so unaus­rott­bar wie für den Rest die Nei­gung zur Herde.

 

Chris­ti­an Ander­sen: Des Kai­sers neue Klei­der (1837)

Darf man in die­sem Kon­text eine Mär­chen­fi­gur anfüh­ren, gar noch ein Kind, das sich in sei­ner unschul­di­gen Reak­ti­on der Bri­sanz sei­ner Äuße­rung gar nicht bewußt ist? Ich glau­be, ja. Denn sol­che Nai­vi­tät reprä­sen­tiert ja den (wie­der zuneh­men­den) Anteil unse­res Vol­kes, der sich den gesun­den Men­schen­ver­stand noch nicht gänz­lich hat abdres­sie­ren las­sen – Pfahl im Fleisch einer Tal­mi-Eli­te, die sich nur mehr durch Aus­gren­zung, Zen­sur und Ver­leum­dung zu hel­fen weiß, wo etli­che uns von »Exper­ten« (in künst­li­cher Renom­mier­spra­che) appli­zier­te Nar­ra­ti­ve auf dem Prüf­stand stehen.

Dar­un­ter ein hal­bes Dut­zend Glo­ba­la­gen­den, die uns vom Segen ­einer über­bor­den­den­den Euro­kra­tie und der Massen­immigration über das Gen­der-Unwe­sen und das Ein­kni­cken vor CO2- und Coro­na-Nar­ra­ti­ven bis zu diver­sen angeb­lich erfor­der­li­chen Bel­li­zis­men über­zeu­gen wol­len – von Can­cel Cul­tu­re und Sprech­ver­bo­ten ganz zu schweigen.

In Ander­sens Geschich­te ver­kau­fen wort­mäch­ti­ge Betrü­ger dem Kai­ser ver­meint­li­che Wun­der­klei­der, so fein, daß nur Amts­taug­li­che sie wahr­neh­men. In Wirk­lich­keit gibt es sie nicht. Doch das aus­zu­spre­chen, wagt kaum jemand. Alle schreckt die Behaup­tung, nur intel­lek­tu­ell Erleuch­te­te sei­en in der Lage, die­se Inno­va­ti­on zu würdigen.

Als die heuch­le­ri­sche Kol­lek­tiv­ver­dum­mung ihren Höhe­punkt erreicht und der Kai­ser nackt eine Pro­zes­si­on anführt, erweist sich ein­zig ein Kind noch als fähig, das Offen­sicht­li­che aus­zu­spre­chen. Der Kai­ser selbst unter­wirft sich ent­ge­gen bes­se­rer Ahnung der Unver­nunft und dem Macht­kal­kül. Auch er will sein Pres­ti­ge nicht gefähr­den. Und wenig spricht dafür, daß unse­re heu­ti­gen »Volks­ver­tre­ter« stets ver­ste­hen, was sie angeb­lich ver­ant­wor­ten. So kommt es zum lem­ming­haf­ten »Augen zu und durch!« wie in Ander­sens Mär­chen: »›Aber er hat ja gar nichts an!‹ rief zuletzt das gan­ze Volk. Das ergriff den Kai­ser, denn es schien ihm, sie hät­ten recht; aber er dach­te bei sich: ‚Nun muß ich die Pro­zes­si­on durch­hal­ten.‘ Und die Kam­mer­her­ren gin­gen noch stol­zer und tru­gen die Schlep­pe, die gar nicht da war.«

 

Sopho­kles: Anti­go­ne (Urauf­füh­rung der Tra­gö­die um 442 v.Chr.)

The­bens König Kre­on ver­bie­tet bei Todes­stra­fe, die Lei­che des im Kampf gegen die eige­ne Polis gefal­le­nen Polyn­ei­kes zu beer­di­gen. Sie blei­be unbe­stat­tet, den Tie­ren zum Fraß. Aus Schwes­ter­lie­be und treu dem gött­li­chen Gebot der Fami­li­en­pflicht ver­stößt Ödi­pus’ Toch­ter Anti­go­ne gegen die Anord­nung, wor­auf man sie leben­dig in ein Fel­sen­grab ein­schließt. Seher Tei­re­si­as und der Staats­rat stim­men Kre­on zwar schließ­lich um, doch läßt sich die Fami­li­en­tra­gö­die mit drei Selbst­tö­tun­gen nicht mehr ver­hin­dern. Zurück bleibt ein ver­ein­sam­ter Herr­scher, dem Wahn­sinn nahe.

An die­sen Kon­flikt zwi­schen Offi­zi­al­mo­ral und zeit­über­grei­fen­dem Sit­ten­ge­setz erin­nern ver­gleich­ba­re Pein­lich­kei­ten der Gegen­wart. Exem­pla­risch die Anti-Bit­burg-Kam­pa­gne von 1985, als Bun­des­kanz­ler Kohl und US-Prä­si­dent Rea­gan auf dem dor­ti­gen Sol­da­ten­fried­hof eine Ver­söh­nungs­ges­te beschlos­sen, um den Zwei­ten Welt­krieg auch emo­tio­nal zu beenden.

Unter dem Vor­wand, daß sich dort auch Grä­ber (rang­nied­ri­ger) SS-Män­ner befan­den, kam es zu welt­wei­ten Pro­tes­ten gegen eine angeb­li­che deut­sche Schuld­ni­vel­lie­rung. Ver­gleich­ba­re poli­ti­sche Lemu­ren­tän­ze mit der Exhu­mie­rung oder Anony­mi­sie­rung der Grä­ber wie­der­hol­ten sich nach dem Tod von Rudolf Heß oder des SS-Haupt­sturm­füh­rers Erich Prieb­ke. Selbst das Toten­ge­den­ken eines lang­jäh­ri­gen Mit­glieds von Wald­hof Mann­heim, der für die NPD im Stadt­rat saß, führ­te zum sofor­ti­gen Rück­tritt des Pres­se­spre­chers. Im Umgang mit ver­gan­gen­heits­po­li­tisch heik­len Toten fehlt es uns also noch heu­te an Souveränität.

Sopho­kles’ Hal­tung gegen­über solch volks­päd­ago­gi­scher Abschre­ckung ist ein­deu­tig: Tote noch­mals zu »mor­den« bzw. ihr Able­ben tages­po­li­tisch aus­zu­beu­ten, sei schmäh­lich: »Nach Ermor­de­ten / Stich nicht; Gestorb­ne wie­der mor­den, wel­cher Ruhm?« Das spürt Anti­go­ne, die nicht zögert, ihrem Bru­der, was immer er getan haben moch­te, die letz­te Reve­renz zu erwei­sen. Und dies macht den über Jahr­tau­sen­de wäh­ren­den Ruhm die­ser Rebel­lin aus.

 

Hein­rich von Kleist: Micha­el Kohl­haas (1810)

Der Titel­held der Novel­le von einem, der aus­zog, sich das ihm durch Adels­in­tri­gen ver­wei­ger­te Recht per Selbst­hil­fe zurück­zu­ho­len, ist zur mythi­schen Figur der Rechts­ge­schich­te gewor­den. Alles beginnt mit zwei unzu­läs­sig als Pfand ein­be­hal­te­nen Pfer­den, die sich bei Rück­kehr des Roß­händ­lers Kohl­haas in jäm­mer­li­chem ­Zustand befin­den und am Ende der Hand­lung auf kur­fürst­lich-bran­den­bur­gi­schen Gerichtsent­scheid hin vom Jun­ker von Tron­ka als Süh­ne wie­der auf­ge­füt­tert wer­den müssen.

Dazwi­schen liegt eine lei­den­schaft­li­che, teils juris­ti­sche, teils gewalt­sa­me Aus­ein­an­der­set­zung, geprägt von Kaba­len und Ver­mitt­lungs­ver­su­chen. Als Kohl­haas’ Frau dabei zu Tode kommt, zieht er sen­gend und mor­dend gegen Schlös­ser und Städ­te. Am Ende sieht er froh­ge­mut der Voll­stre­ckung sei­nes Todes­ur­teils ent­ge­gen, weil auch sein Pro­zeß­geg­ner dem Recht unter­wor­fen wurde.

Um sei­nen Typus zu kenn­zeich­nen, haben sich lei­der zwei ungleich­wer­ti­ge Bedeu­tun­gen durch­ge­setzt. Als Kohl­haas-Natur gilt einer­seits ein mutig-kom­pro­miß­lo­ser Rechts­kämp­fer, ande­rer­seits ein bloß que­ru­la­to­ri­scher Eife­rer um Nich­tig­kei­ten. Doch mit des­sen Ver­hal­ten hat Kleists Kohl­haas nichts gemein. Auch wo wegen zwei­er mal­trä­tier­ter Pfer­de Hun­der­te Men­schen ihr Leben las­sen müs­sen, gilt sein Kampf einem der höchs­ten ideel­len Güter, indem er den Staat an sei­ne vor­nehms­te Pflicht der Rechts­wah­rung erinnert.

Kohl­haas’ Replik auf Luther, der sei ver­sto­ßen, »dem der Schutz der Geset­ze ver­sagt ist«, berührt noch heu­te, wo die aktu­el­le Rechts­staats­ge­fähr­dung durch eine zuneh­mend poli­tisch instru­men­ta­li­sier­te Jus­tiz täg­lich sinn­fäl­li­ger wird. (Man den­ke an den Pro­zeß gegen Höcke in Hal­le.) Das wahrt sei­nen Sta­tus als impo­nie­ren­der Sym­pa­thie­trä­ger, so ambi­va­lent und pro­ble­ma­tisch sich sein Han­deln auch erweist.

Schließ­lich zeigt Kleist in ihm zugleich ein unauf­heb­ba­res Dilem­ma und eine tra­gi­sche Para­do­xie, inso­fern die cou­ra­giert ver­such­te Hei­lung der Gesell­schaft die­se erneut ver­letzt. Denn der Unbeug­sa­me, der herr­schafts­be­ding­te Unge­rech­tig­keit nicht hin­nimmt, schafft durch sol­che Selbst­hil­fe nicht schlicht Gerech­tig­keit. Auch tak­tisch spricht wenig für ihn. Denn natür­lich nut­zen die Mäch­ti­gen Gewalt­ak­tio­nen weid­lich zur Selbstrechtfertigung.

Tat­ex­zes­se gel­ten ihnen als Schein­be­weis für das von Anfang an Abwe­gi­ge von Kohl­haas’ Anlie­gen. Und die eta­blier­te Macht ver­fügt über Mit­tel, Infor­ma­tio­nen ent­spre­chend zu fil­tern. Das ist die Zwick­müh­le, in die jeder gerät, der sein Recht selbst in die Hand nimmt. Es sei denn, er sieg­te als Revo­lu­tio­när, eine Chan­ce unter Tau­sen­den, die alles ändert, nicht zuletzt die Wahr­neh­mung der »Wahr­heit«.

 

Hen­rik Ibsen: Volks­feind (Urauf­füh­rung 1883) 

Das Dra­ma ver­an­schau­licht das Ver­hält­nis von Wahr­heits­su­che und poli­ti­scher Repres­si­on sowie den schnel­len Umschlag von »Hosi­an­na!« zu »Kreu­zi­get ihn!« am Schick­sal des Kur­arz­tes Dr. Tomas Stock­mann. Die von ihm initi­ier­te Bade­an­stalt hat wesent­lich zum Auf­schwung sei­ner Gemein­de bei­getra­gen. Doch etli­che Typhus­fäl­le nötig­ten ihn zu einer Unter­su­chung. Sie ergibt eine Ver­gif­tung des Was­sers durch die Ger­be­rei sei­nes Schwiegervaters.

Die zunächst dank­ba­re Aner­ken­nung der Bür­ger für die­se Auf­klä­rung schmilzt in dem Maße, wie die Stadt­ver­wal­tung die hohen Sanie­rungs­kos­ten ins Spiel bringt. Und da Stock­mann es trotz finan­zi­el­ler Avan­cen ablehnt, ein beschwich­ti­gen­des Gut­ach­ten zu ver­fas­sen, wen­det sich das Blatt.

Die anfangs am Skan­dal inter­es­sier­te Pres­se arran­giert sich mit der Macht und ver­wei­gert Stock­mann den Abdruck sei­ner medi­zi­ni­schen Ana­ly­se. Eins­ti­ge Oppo­si­tio­nel­le hän­gen ihr Fähn­chen nach dem Wind und pro­vo­zie­ren ihn zur hef­ti­gen Par­tei­en­schel­te. Auch in der Volks­ver­samm­lung ver­liert der poli­tisch Uner­fah­re­ne die Zustim­mung, als er sich zu demo­kra­tie­s­kep­ti­schen Fun­da­men­ta­lis­men und pau­scha­li­sie­ren­den Schmä­hun­gen der wan­kel­mü­ti­gen Bür­ger hin­rei­ßen läßt. Sie sei­en will­fäh­ri­ge, eine Dik­ta­tur för­dern­de Mas­sen­men­schen. Der »gefähr­lichs­te Feind der Wahr­heit und der Frei­heit« sei »die kom­pak­te Majo­ri­tät«. Daher müs­se nicht nur die gif­ti­ge Sicker­gru­be, son­dern die »gan­ze Gesell­schafts­ord­nung« »gerei­nigt« werden.

In der Fol­ge erklärt man ihn öffent­lich zum »Volks­feind«, und die (auch heu­te gän­gi­gen) Repres­sa­li­en set­zen ein. Anony­me Schmäh­brie­fe, Gewalt gegen ihn und sein Haus, Beläs­ti­gung sei­ner Fami­lie, die gesell­schaft­lich wie beruf­lich in Sip­pen­haft genom­men wird. Ange­ekelt denkt er ans Aus­wan­dern, bevor er sich trot­zig zum Blei­ben ent­schließt. Sei­nes Amts und sons­ti­ger Bin­dun­gen beraubt, wähnt er sich nun als über­mäch­tig, da er nur mehr für sich selbst stehe.

Immer­hin will er sein Auf­klä­rungs­werk mit unver­bil­de­ten, ein­fa­chen Men­schen fort­set­zen. In Stock­mann zeich­net Ibsen kein Vor­bild schlecht­hin. Eher das lehr­rei­che Psy­cho­gramm eines Rebel­len, des­sen Ver­bit­te­rung ihn auch mal zu unüber­leg­ten Wort­radikalismen treibt. So schließt sich der Teu­fels­kreis im Sin­ne der Herr­schaft, die auf sol­che Pro­vo­ka­tio­nen nur war­tet, um die medi­al ver­hetz­te Mas­se schein­mo­ra­lisch zu manipulieren.

 

Jean-Paul Sart­re: Die Flie­gen (Urauf­füh­rung 1943) 

Aus­gangs­punkt der Dra­men­hand­lung ist der Mord an König Aga­mem­non, dem Sie­ger über Tro­ja. Er wur­de von sei­ner Frau Klytäm­nes­tra und ihrem Lieb­ha­ber Ägisth erschla­gen, die in Argos herr­schen. Orest, Sohn des Ermor­de­ten, kehrt in eine graue Stadt vol­ler Flie­gen zurück, Sym­bo­le von Unter­drü­ckung durch einen von den Macht­ha­bern eta­blier­ten Reue­kult. Orest als exis­ten­tia­lis­ti­scher Frei­heits­held tötet das Regen­ten­paar und begreift dies als eine stell­ver­tre­tend für die Bür­ger von Argos voll­brach­te eman­zi­pa­to­ri­sche Tat, mit der er die Gemein­de vom Übel des schlech­ten Gewis­sens befreit.

Das 1943 im besetz­ten Paris urauf­ge­führ­te ver­deck­te Résis­tance-Stück soll­te die ­Fran­zo­sen aus der Depres­si­on ihrer Nie­der­la­ge erlö­sen. 1947 hat­te es auch in Deutsch­land Pre­mie­re im Kon­text von alli­ier­ter Deutsch­land­po­li­tik, Re­Education, Nürn­ber­ger Pro­zeß, Ent­na­zi­fi­zie­rung und Kol­lek­tiv­schuld-Ankla­gen, die über Gene­ra­tio­nen in immer neu­en Sprach­va­ri­an­ten (wie etwa »Kol­lek­tiv­scham«) wei­ter­trans­por­tiert werden.

Dage­gen bekämpft Sar­tres Orest die Pseu­do­mo­ral eines Schuld­kults, der jen­seits von selbst­kri­ti­scher Erin­ne­rung zu einem Herr­schafts­in­stru­ment ver­kam. Zur deut­schen Erst­aus­ga­be 1947 schrieb der Autor: »Nach unse­rer Nie­der­la­ge […] ver­fie­len zu vie­le Fran­zo­sen der Mut­lo­sig­keit […]. Ich aber schrieb Die Flie­gen und ver­such­te zu zei­gen, daß Selbst­ver­leug­nung nicht die Hal­tung war, die die Fran­zo­sen nach dem mili­tä­ri­schen Zusam­men­bruch unse­res Lan­des wäh­len durf­ten […]. Heu­te haben die Deut­schen das glei­che Problem.«

Auch für sie sei Selbst­ver­leug­nung »unfrucht­bar«. In die­sem Sin­ne bereut Orest sei­ne Befrei­ungs­tat nicht und stellt Jupi­ter gegen­über klar: »Ich bin kein Schul­di­ger, und du wirst mich nicht dazu brin­gen, für etwas zu süh­nen, was ich nicht als Ver­bre­chen aner­ken­ne.« Sozia­le Iso­la­ti­on akzep­tiert er, den man äch­ten wird wie ein räu­di­ges Schaf, weil er man­che aus der poli­ti­schen Reue-Apa­thie geris­sen hat, die zugleich ein Stück emo­tio­na­le Sicher­heit bot.

 

Gabri­el Gar­cía Már­quez: Der Oberst hat nie­mand, der ihm schreibt (1957)

Cha­rak­ter­fra­gen stel­len sich ­par­tei­über­grei­fend. So sei auch die­ser Kurz­ro­man geprie­sen, den Már­quez, ein Freund Fidel Cas­tros, ver­faßt hat. Sein Titel­held ver­kör­pert den wohl trau­rigs­ten Don Qui­jo­te, der sich den­ken läßt.

Nur sei­ne Klap­per­ge­stalt wie sein nicht mehr stan­des­ge­mä­ßes Äuße­res im Kon­trast zur noblen Hal­tung, mit der er Krank­hei­ten, Demü­ti­gun­gen und Schick­sals­schlä­ge erträgt, wei­sen die Spur zu sei­nem Ahn­herrn: ­Miguel de Cer­van­tes’ (gegen Wind­müh­len und den Zeit­geist kämp­fen­den) Rit­ter von La ­Man­cha. Mit die­sem roman­tisch-ver­spon­ne­nen Ver­tre­ter eines längst kor­rum­pier­ten Kon­ser­va­ti­vis­mus ver­bin­det den Oberst das uner­schüt­ter­te Fest­hal­ten an Werten.

Seit über 50 Jah­ren ver­trös­tet man ihn (den ehe­ma­li­gen Schatz­meis­ter der Revo­lu­ti­on im kolum­bia­ni­schen Bezirk Macon­do) hin­sicht­lich sei­ner Vete­ra­nen­pen­si­on. Sein Sohn Augus­tín wur­de beim Aus­tei­len von Flug­blät­tern durch Scher­gen der Mili­tär­jun­ta erschos­sen. An ihn erin­nert ein­zig ein Kampf­hahn, des­sen Fut­ter­kos­ten den völ­lig Ver­arm­ten zusätz­lich belas­ten. Sei­ne schwer asth­ma­ti­sche Frau drängt daher zum Ver­kauf, und an der Gren­ze zum Ver­hun­gern geht der Oberst dar­auf ein. Doch als er ihn im Trai­nings­camp kämp­fen sieht und die Begeis­te­rung bei den Unter­grund­ka­me­ra­den sei­nes Soh­nes spürt, ändert er den Entschluß.

Im tap­fe­ren Tier sieht die­ser »kind­li­che Rebell, der eine sau­be­re und gerech­te Welt sucht« (so der Über­set­zer Curt Mey­er-Cla­son), ein Zei­chen der Ver­bun­den­heit mit den auf­be­geh­ren­den jun­gen Kräf­ten, ein Signal neu erwach­ten Muts.

Der Text endet mit der völ­lig ver­zwei­fel­ten Fra­ge sei­ner Gat­tin, was man in den ver­blei­ben­den Wochen bis zum ersehn­ten Wett­kampf­ge­winn denn essen sol­le, und der pro­vo­zie­ren­den Schluß­poin­te: »Der Oberst hat­te […] fünf­und­sieb­zig Jah­re sei­nes Lebens, Minu­te für Minu­te gebraucht, um die­sen Augen­blick zu errei­chen. Er fühl­te sich rein, unbe­dingt und unbe­sieg­bar in der Sekun­de, als er ant­wor­te­te: ›Schei­ße.‹« Er und sein Kampf­hahn sind nicht (ver-)käuflich.

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