Alfeld hatte einst beides: Handwerk und Bildung. Hier wurden Schuhleisten und Bildtafeln mit lateinischen Sprüchen aus Holz geschnitzt.
Die von Walter Gropius geplante Schuhleistenfabrik Fagus-Werk gehört seit 2011 zum Weltkulturerbe. Ich halte den einmaligen Bilderschmuck der alten Lateinschule für ungleich bedeutender.
Der Renaissancebau (1610) zeigt mit den farbigen Holzschnitzereien des Meisters Andreas Steiger den Kanon einer Bildungstradition, die über Jahrhunderte höheren deutschen Schulen das Profil gab: Vorbilder aus Bibel und Antike, berühmte Politiker und Propheten, Christus und die Evangelisten, Symbole der christlichen Tugenden und der Kardinaltugenden, der sieben freien Künste und der neun Musen. Diese Ikonen lateinischer Leitkultur regten lernwillige und lernfähige Schüler zu Gespräch und Studium an.
Alfeld liegt an der Leine. Das Flüßchen fließt in die niedersächsische Landeshauptstadt. Hier residiert die grüne Kultusministerin Julia Willie Hamburg. Sie hat in Göttingen ohne Studienabschluß vier Jahre verbracht und liebt Comics. Auch Ricarda Lang und Claudia Roth haben sich nicht lange mit Examensprüfungen aufgehalten. Wie es um ihre Lateinkenntnisse steht, wissen wir nicht.
An einer Münsteraner Knabenpresse war Dr. Albert Allerup mein Lateinlehrer. Er unterteilte das Leistungsniveau der Lerngruppe in Hilfsbremser (Note 4), Bremser (Note 5) und Oberbremser (Note 6). Fünf Prozent eines Jahrgangs besuchten 1962 das Gymnasium. Heute im Zeitalter der Noteninflation werden 54 Prozent eines Jahrgangs beim Abitur durchgewunken. Ich erlebte am Schlaun-Gymnasium die Geburt dieser Laisser-faire-Pädagogik.
In dem Weihnachtsklassiker Alle Jahre wieder (1967) von Ulrich Schamoni spielte Dr. Allerup sich selbst. Da hatten wir bereits einen neuen Lateinlehrer. Er war Mitglied der DKP. Eines Tages überraschte er uns mit der Frage »Wo findet heute der Gallische Krieg statt?« Mit diesem Transfer in die Gegenwart traten wir aus der Schule und solidarisierten uns mit jenen »Radaubrüdern und langhaarigen Affen«, vor denen uns die Eltern gewarnt hatten.
Wir schlossen die Lateinbücher und demonstrierten mit Franz Schwarz gegen die Bombardierung Vietnams und die Erhöhung der lokalen Buspreise. Die nächste Lateinklausur sparten wir uns.
Die alte Lateinschule in Alfeld repräsentiert ein Museum der verlorenen Bildung. Keine Medienpädagogik holt das Vergangene und Verratene zurück. Aber es gibt sie noch, die genialen Lehrer, die als große Einzelne unbekümmert um das Tralala der Bildungsdeformer und Inkompetenzteams unseren Kindern und Enkelkindern eine geistige Welt erschließen.
Ein Spruchband in elegischen Distichen mit wechselnden Hexametern und Pentametern erinnert an Jakobs Traum von der Himmelsleiter (Genesis 28,10 – 22). Es vergleicht diese Lehrer mit Engeln, die vom Himmel höherer Bildung hinabsteigen, die Kinder aus dem Schlaf der Unwissenheit erwecken und hinaufführen zu einem Leben mit Durchblick: »Was für ein Bild! Denn was bedeutet Schule? Was? Ist sie nicht eine mystische Leiter, deren wohlbehaltene Spitze sowohl die Religion als auch die Region ist.« (»ECCE TYPUM! QUID ENIM SCHOLA? QUID? NISI MYSTICA SCALA CUIUS APEX SALVA ET RELIGIO ET REGIO EST.«)
In ihrer Begrifflichkeit und Syntax muten die Verse schon merkwürdig an und gereichten der Anstalt nicht gerade zur Ehre, meint mein Freund. Ich bin des Lateinischen nicht so kundig und daher weniger streng, höre allein die Botschaft und will sie wohl glauben: Immer sind es einzelne, die erwecken oder sich wecken lassen. Von dieser Elite lebt die Heimat und gedeihen Religion und Region.
Paul Graff gehörte zu jenen Pastoren und Lehrern alter Schule, die in ihrer Freizeit Heimatkunde betrieben und Bücher schrieben, deren Niveau nie wieder erreicht wurde. Die Geschichte des Kreises Alfeld (1927) ist so ein Heimatbuch. Wer den Umkreis seines Wohnsitzes erkunden möchte, wird bei den alten Schwarten fündig.
Was ihre Entdeckung überreich schenkt, hat Paul Graff in zeitlos gültige Worte gefaßt: »Freude an der Heimat, Liebe zu ihrer Geschichte, Ehrfurcht vor der Vergangenheit und sicheres Schreiten durch die Gegenwart.« Überall im Umkreis sind Freude, Liebe, Ehrfurcht und sicheres Schreiten zu finden. Machen wir uns auf den Weg!