Im Umkreis (3): Die alte Lateinschule in Alfeld

von Uwe Wolff -- PDF der Druckfassung aus Sezession 120/ Juni 2024

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Alfeld hat­te einst bei­des: Hand­werk und Bil­dung. Hier wur­den Schuh­leis­ten und Bild­ta­feln mit latei­ni­schen Sprü­chen aus Holz geschnitzt.

Die von Wal­ter Gro­pi­us geplan­te Schuhleisten­fabrik ­Fagus-Werk gehört seit 2011 zum Welt­kul­tur­er­be. Ich hal­te den ein­ma­li­gen Bil­der­schmuck der alten Latein­schu­le für ungleich bedeutender.

Der Renais­sance­bau (1610) zeigt mit den far­bi­gen Holz­schnit­ze­rei­en des Meis­ters Andre­as ­Stei­ger den Kanon einer Bil­dungs­tra­di­ti­on, die über Jahr­hun­der­te höhe­ren deut­schen Schu­len das Pro­fil gab: Vor­bil­der aus Bibel und Anti­ke, berühm­te Poli­ti­ker und Pro­phe­ten, Chris­tus und die Evan­ge­lis­ten, Sym­bo­le der christ­li­chen Tugen­den und der Kar­di­nal­tu­gen­den, der sie­ben frei­en Küns­te und der neun Musen. Die­se Iko­nen latei­ni­scher Leit­kul­tur reg­ten lern­wil­li­ge und lern­fä­hi­ge Schü­ler zu Gespräch und Stu­di­um an.

Alfeld liegt an der Lei­ne. Das Flüß­chen fließt in die nie­der­säch­si­sche Lan­des­haupt­stadt. Hier resi­diert die grü­ne Kul­tus­mi­nis­te­rin Julia ­Wil­lie Ham­burg. Sie hat in Göt­tin­gen ohne Stu­di­en­ab­schluß vier Jah­re ver­bracht und liebt Comics. Auch Ricar­da Lang und Clau­dia Roth haben sich nicht lan­ge mit Examens­prü­fun­gen auf­ge­hal­ten. Wie es um ihre Latein­kennt­nis­se steht, wis­sen wir nicht.

An einer Müns­te­ra­ner Kna­ben­pres­se war Dr. Albert Aller­up mein Latein­leh­rer. Er unter­teil­te das Leis­tungs­ni­veau der Lern­grup­pe in Hilfs­brem­ser (Note 4), Brem­ser (Note 5) und Ober­brem­ser (Note 6). Fünf Pro­zent eines Jahr­gangs besuch­ten 1962 das Gym­na­si­um. Heu­te im Zeit­al­ter der Noten­in­fla­ti­on wer­den 54 Pro­zent eines Jahr­gangs beim Abitur durch­ge­wun­ken. Ich erleb­te am Schlaun-Gym­na­si­um die ­Geburt die­ser Laisser-faire-Pädagogik.

In dem Weih­nachts­klas­si­ker Alle Jah­re wie­der (1967) von Ulrich Scha­mo­ni spiel­te Dr. ­Aller­up sich selbst. Da hat­ten wir bereits einen neu­en Latein­leh­rer. Er war Mit­glied der DKP. Eines Tages über­rasch­te er uns mit der Fra­ge »Wo fin­det heu­te der Gal­li­sche Krieg statt?« Mit die­sem Trans­fer in die Gegen­wart tra­ten wir aus der Schu­le und soli­da­ri­sier­ten uns mit jenen »Radau­brü­dern und lang­haa­ri­gen Affen«, vor denen uns die Eltern gewarnt hatten.

Wir schlos­sen die Latein­bü­cher und demons­trier­ten mit Franz Schwarz gegen die Bom­bar­die­rung Viet­nams und die Erhö­hung der loka­len Bus­prei­se. Die nächs­te Latein­klau­sur spar­ten wir uns.

Die alte Latein­schu­le in Alfeld reprä­sen­tiert ein Muse­um der ver­lo­re­nen Bil­dung. Kei­ne Medi­en­päd­ago­gik holt das Ver­gan­ge­ne und Ver­ra­te­ne zurück. Aber es gibt sie noch, die genia­len Leh­rer, die als gro­ße Ein­zel­ne unbe­küm­mert um das Tra­la­la der Bil­dungs­de­for­mer und Inkom­pe­tenz­teams unse­ren Kin­dern und Enkel­kin­dern eine geis­ti­ge Welt erschließen.

Ein Spruch­band in ele­gi­schen Disti­chen mit wech­seln­den Hexa­me­tern und Pen­ta­me­tern erin­nert an Jakobs Traum von der Him­mels­lei­ter (Gene­sis 28,10 – 22). Es ver­gleicht die­se Leh­rer mit Engeln, die vom Him­mel höhe­rer Bil­dung hin­ab­stei­gen, die Kin­der aus dem Schlaf der Unwis­sen­heit erwe­cken und hin­auf­füh­ren zu einem Leben mit Durch­blick: »Was für ein Bild! Denn was bedeu­tet Schu­le? Was? Ist sie nicht eine mys­ti­sche Lei­ter, deren wohl­be­hal­te­ne Spit­ze sowohl die Reli­gi­on als auch die Regi­on ist.« (»ECCE TYPUM! QUID ENIM SCHOLA? QUID? NISI MYSTICA SCALA CUIUS APEX SALVA ET RELIGIO ET REGIO EST.«)

In ihrer Begriff­lich­keit und Syn­tax muten die Ver­se schon merk­wür­dig an und gereich­ten der Anstalt nicht gera­de zur Ehre, meint mein Freund. Ich bin des Latei­ni­schen nicht so kun­dig und daher weni­ger streng, höre allein die Bot­schaft und will sie wohl glau­ben: Immer sind es ein­zel­ne, die erwe­cken oder sich wecken las­sen. Von die­ser Eli­te lebt die Hei­mat und gedei­hen Reli­gi­on und Region.

Paul Graff gehör­te zu jenen Pas­to­ren und Leh­rern alter Schu­le, die in ihrer Frei­zeit Hei­mat­kun­de betrie­ben und Bücher schrie­ben, deren Niveau nie wie­der erreicht wur­de. Die Geschich­te des Krei­ses Alfeld (1927) ist so ein Hei­mat­buch. Wer den Umkreis sei­nes Wohn­sit­zes erkun­den möch­te, wird bei den alten Schwar­ten fündig.

Was ihre Ent­de­ckung über­reich schenkt, hat Paul Graff in zeit­los gül­ti­ge Wor­te gefaßt: »Freu­de an der Hei­mat, Lie­be zu ihrer Geschich­te, Ehr­furcht vor der Ver­gan­gen­heit und siche­res Schrei­ten durch die Gegen­wart.« Über­all im Umkreis sind Freu­de, Lie­be, Ehr­furcht und siche­res Schrei­ten zu fin­den. Machen wir uns auf den Weg!

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