Carl Schmitt und Alexandre Kojève an der Schwelle zur Globalisierung

pdf der Druckfassung aus Sezession 8 / Januar 2005

sez_nr_8von Galin Tihanov

Alexandre Kojève (1902 – 1968) und Carl Schmitt (1888 – 1985) stammten aus recht unterschiedlichen Milieus, schlugen unterschiedliche Laufbahnen ein und positionierten sich an den beiden entgegengesetzten Polen zeitgenössischen politischen Denkens. Kojève inspirierte eine ganze Generation französischer Intellektueller, deren Sympathien und politische Aktivität zumeist der Linken galten. Schmitt hingegen wurde zu einer angesehenen, ja kanonisierten Figur in der konservativen Tradition sozialer und politischer Theorie in Deutschland, ein so einflußreicher wie bis heute umstrittener Denker. Beide aber werden neuerdings als bedeutende Vorgänger der europäischen Debatte um die Moderne gehandelt, die im letzten Drittel des 20. Jahrhundert mit großer Heftigkeit ausgebrochen ist. Schmidt wie Kojève stellten zunächst die Frage nach dem Selbst und dem Anderen in den Mittelpunkt ihres Nachdenkens über die Moderne, stießen aber bald auf die Notwendigkeit, in diesem Kontext auch die in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg anbrechende Globalisierung zu berücksichtigen. Aus diesem Grund ist die Beschäftigung mit Schmitts und Kojèves Schriften zu Moderne und Globalisierung zwingend geboten, um ein tieferes Verständnis sowohl ihrer intellektuellen Entwicklung und ihrer Rolle für diese wichtigen frühen Debatten als auch der politischen und philosophischen Widersprüche zu erlangen, die die heraufziehende Globalisierung prägten.

Kojè­ve und Schmitt begeg­ne­ten sich wahr­schein­lich nur ein­mal per­sön­lich. Von 1955 bis zu ihrem Tref­fen 1957 in Deutsch­land führ­ten sie einen leb­haf­ten Brief­wech­sel. Danach nahm die Inten­si­tät ihres Gedan­ken­aus­tau­sches ab, und der letz­te erhal­ten geblie­be­ne Brief ist – nach einer Lücke von zwei Jah­ren – auf den 4. April 1960 datiert. Die ein­und­zwan­zig Brie­fe umfas­sen­de Kor­re­spon­denz wur­de erst 1998 von Piet Tom­mis­sen im Rah­men einer Mono­gra­phie zu Kojè­ve ver­öf­fent­licht, nach­dem sich aka­de­mi­sche Auf­sät­ze bereits auf ein­zel­ne Brie­fe beru­fen hatten.
In die­ser Stu­die wer­de ich zunächst die genau­en Details ihrer Bekannt­schaft rekon­stru­ie­ren, um dann die Hin­ter­grün­de zu erläu­tern, vor denen die­ser Dia­log nicht nur mög­lich, son­dern für Schmitt wie für Kojè­ve wün­schens­wert wur­de. Abschlie­ßend ver­su­che ich eine prä­gnan­te ver­glei­chen­de Ana­ly­se ihrer Stra­te­gien, die Moder­ne an der Schwel­le zur Glo­ba­li­sie­rung zu theoretisieren.
Wie Schmitt sel­ber zugibt, war ihm Kojè­ve bis 1948 kein Begriff. Erst nach der Ver­öf­fent­li­chung sei­nes 1947 erschie­ne­nen Haupt­wer­kes Intro­duc­tion à la lec­tu­re de Hegel sei er auf ihn gesto­ßen. In Wirk­lich­keit muß ihm Kojè­ves Name schon vor­her begeg­net sein. Leo Strauss, der 1932 wich­ti­ge Anmer­kun­gen zu Schmitts Der Begriff des Poli­ti­schen geschrie­ben hat­te, ver­öf­fent­lich­te 1938 sein Buch The Poli­ti­cal Phi­lo­so­phy of Hob­bes und kün­dig­te dar­in an, gemein­sam mit Kojè­ve „eine detail­lier­te Unter­su­chung der Ver­bin­dun­gen zwi­schen Hegel und Hob­bes“ in Angriff neh­men zu wol­len. Zu die­sem Zeit­punkt arbei­te­te Schmitt sei­ner­seits an einem Buch über Hegel, und man kann davon aus­ge­hen, daß er von Strauss‘ und Kojè­ves Plä­nen wuß­te. Jedoch hat­te Kojè­ve sich damals als Phi­lo­soph noch kei­nen Namen gemacht, und so soll­te es nicht ver­wun­dern, daß Schmitt ihn erst in den spä­ten 1940er Jah­ren, nach der Ver­öf­fent­li­chung von Kojè­ves Vor­le­sun­gen zur „Phä­no­me­no­lo­gie des Geis­tes“, bewußt wahr­nahm. Am 17. Okto­ber 1951 schrieb Schmitt einem sei­ner Schü­ler: „Die Ent­de­ckung von Hegels Phä­no­me­no­lo­gie des Geis­tes war ein eben­so unge­heu­res Erwa­chen wie jenes, das um 1905 mit der Ent­de­ckung Höl­der­lins begann. Es ist scha­de, daß Ihnen die Zeit fehlt, Alex­and­re Kojè­ve, Intro­duc­tion à la lec­tu­re de Hegel, Paris (Gal­li­mard) 1950 zu lesen“. Armin Moh­ler, an den sich die­ser höf­lich drän­gen­de Rat­schlag rich­te­te, war damals Ernst Jün­gers Pri­vat­se­kre­tär und Schmitts enger Ver­trau­ter, und offen­kun­dig hat­te Schmitt das Bedürf­nis, ihm Kojè­ves bedeu­ten­des Werk ans Herz zu legen.

Die Kor­re­spon­denz mit Kojè­ve selbst scheint im April 1953 von Iring Fet­scher in die Wege gelei­tet wor­den zu sein, der auf Schmitts Wunsch mit die­ser Bit­te auf ihn zuging. Noch im sel­ben Monat gab Kojè­ve sein Ein­ver­ständ­nis und gestat­te­te Fet­scher, sei­ne Adres­se an Schmitt wei­ter­zu­ge­ben. Wie einem Brief vom 27. Mai 1953 zu ent­neh­men ist, betrau­te Fet­scher mit die­sem Auf­trag Roman Schnur, der aktiv an der Her­aus­ga­be des Archivs für Rechts- und Sozi­al­phi­lo­so­phie betei­ligt war. Aller­dings dau­er­te es eine Wei­le, bis der Brief­wech­sel initi­iert wur­de. 1955 hielt sich Schnur von Anfang März bis Ende August in Paris auf, wo er ein Habi­li­ta­ti­ons­sti­pen­di­um inne­hat­te; er behaup­tet, den Kon­takt zwi­schen den bei­den Män­ner nach sei­ner Rück­kehr nach Deutsch­land ver­mit­telt zu haben. Schnurs Erin­ne­rung an die­se Ereig­nis­se scheint jedoch unge­nau zu sein, denn der ers­te erhal­ten geblie­be­ne Brief datiert vom 2. Mai 1955 und ist die Ant­wort auf einen ver­schol­le­nen Brief Schmitts.
Am 16. Janu­ar 1957 sprach Kojè­ve durch Ver­mitt­lung Schmitts vor dem Rhein-Ruhr-Club in Düs­sel­dorf zum The­ma „Kolo­nia­lis­mus in euro­päi­scher Sicht“. Sei­ne Aus­füh­run­gen waren von gro­ßem Inter­es­se für Schmitt, des­sen Den­ken und Schrei­ben eben­falls um die Fra­ge der Geo­po­li­tik im her­auf­zie­hen­den Zeit­al­ter des Post­ko­lo­nia­lis­mus und der Glo­ba­li­sie­rung kreis­te. Fest steht außer­dem, daß Kojè­ve sein The­ma nicht nur in Abspra­che mit dem Ver­eins­vor­stand wähl­te, son­dern auch im Zuge sei­nes Gedan­ken­aus­tau­sches mit Schmitt über die gera­de ent­ste­hen­de neue Welt­ord­nung und die unmit­tel­bar ersicht­li­chen räum­li­chen Aspek­te der Poli­tik, wie sie Schmitt in sei­nem Begriff vom Nomos der Erde konzipiert.
Bei aller gemein­sa­men Begeis­te­rung für Hob­bes und der Bedeu­tung ihrer Dis­kus­sio­nen über Geschich­te und Geo­po­li­tik Mit­te der fünf­zi­ger Jah­re – daß Kojè­ve und Schmitt für eine kri­ti­sche Ana­ly­se der Moder­ne so rele­vant sind, hat noch einen ande­ren wesent­li­chen Grund: ihr Inter­es­se an der Dia­lek­tik zwi­schen dem Selbst und dem Ande­ren und Hegels Rol­le in die­ser Debat­te. Erst auf der Basis ihres Ver­ständ­nis­ses einer von die­ser Dia­lek­tik in ihren ver­schie­de­nen Facet­ten gepräg­ten Moder­ne kön­nen wir bei­der Aus­ein­an­der­set­zung mit der nach dem Zwei­ten Welt­krieg ein­set­zen­den Glo­ba­li­sie­rung würdigen.
Kojè­ves Haupt­werk ist Zeug­nis einer idio­syn­kra­tisch mar­xis­ti­schen, mit exis­ten­tia­lis­ti­schem Gedan­ken­gut ange­rei­cher­ten Inter­pre­ta­ti­on Hegels. Schon die Ent­ste­hung des Gegen­sat­zes zwi­schen Her­ren und Skla­ven wird als Ergeb­nis einer frei­en Ent­schei­dung und in die­sem Sin­ne als exis­ten­tia­lis­ti­scher Akt dar­ge­stellt. Kojè­ve pos­tu­liert zwar, daß der zukünf­ti­ge Herr und der zukünf­ti­ge Skla­ve die glei­che Frei­heit haben, sich jeweils als sol­cher zu erschaf­fen, scheint die­se Frei­heit dann aber nur dem zukünf­ti­gen Skla­ven zuzu­ge­ste­hen, der die Unter­wer­fung dem Tod vor­zieht. Der künf­ti­ge Herr muß eine völ­lig anders gear­te­te Ent­schei­dung tref­fen, näm­lich ob er sei­nen Riva­len tötet oder ver­schont. Da bei­de um die Aner­ken­nung des jeweils ande­ren kämp­fen, muß der stär­ke­re Geg­ner den schwä­che­ren am Leben las­sen, um als Sie­ger aner­kannt zu wer­den. Statt des­sen gilt es Kojè­ve zufol­ge, den Geg­ner „dia­lek­tisch“ zu über­win­den, indem er ihm „Leben und Bewußt­sein läßt und ledig­lich sei­ne Auto­no­mie zer­stört“. Man könn­te Kojè­ves The­se post­struk­tu­ra­lis­tisch lesen und sagen, er stel­le sich eine Ursze­ne der mensch­li­chen Geschich­te vor, in der bis auf den Tod gekämpft wird, ohne daß am Ende Tote zurück­blei­ben. Damit die Geschich­te wei­ter­ge­hen kann, muß die­sel­be Ursze­ne immer wie­der von neu­em durch­ge­spielt wer­den, jedes­mal mit dem­sel­ben Ergeb­nis. An ihrem Ursprung, so insis­tiert Kojè­ve, sei der Mensch immer ent­we­der Herr oder Skla­ve. Die Geschich­te ist zu Ende, „wenn der Unter­schied, der Gegen­satz zwi­schen Her­ren und Skla­ven ver­schwin­det“. Solan­ge die Geschich­te andau­ert, muß die­ser Gegen­satz stets unter Kon­trol­le gehal­ten wer­den, denn soll­te einer der bei­den ster­ben, wäre ihr Ver­hält­nis zuein­an­der aufgelöst.

Da Hegels Geschichts­bild jedoch einen Punkt vor­sieht, an dem der sich selbst genü­gen­de Geist die Geschich­te ablöst, sagt Kojè­ve mit eini­ger Berech­ti­gung vor­aus, das Ver­hält­nis zwi­schen Her­ren und Skla­ven müs­se „letzt­lich in der ‚dia­lek­ti­schen Über­win­dung‘ bei­der enden“. Aller­dings tut er Hegels Pro­jekt wie­der­um unrecht, indem er behaup­tet, die­ses Sta­di­um kön­ne nur durch das Han­deln des Skla­ven erreicht wer­den. Doch selbst wenn er die Geschich­te als Gan­zes als „Geschich­te des arbei­ten­den Skla­ven“ bezeich­net, läßt sich Kojè­ves Ana­ly­se nicht auf eine rein mar­xis­ti­sche Sicht­wei­se beschrän­ken. Sei­ne The­se ist wei­ter gefaßt und zeugt von grö­ße­rer den­ke­ri­scher Frei­heit: Er geht nicht davon aus, daß Arbeit als sol­che den Men­schen in sei­ner Ent­wick­lung vor­an­brin­ge, son­dern sieht Herr­schaft als „exis­ten­tia­lis­ti­sche Sack­gas­se“. Hat der Herr sei­nen Geg­ner ein­mal ver­sklavt, wird ihm schnell klar, daß „er gekämpft und sein Leben ris­kiert hat für eine Aner­ken­nung, die für ihn wert­los ist“. Der ein­zi­ge, der ihn als Herr aner­ken­nen kann, ist der Skla­ve, der ihm nicht mehr ist als ein Tier oder ein Ding. Aus die­sem Grund wird der Herr nie zufrie­den sein. Den­noch bleibt Herr­schaft für ihn der höchs­te Wert, und er kann sich von dem Ver­lan­gen nach ihr nicht lösen. So ist er am Ende sei­ner Ent­wick­lung ange­kom­men: „er kann nicht über sich selbst hin­aus, sich wan­deln, sich wei­ter­ent­wi­ckeln … Er kann getö­tet wer­den; ver­än­dern oder erzie­hen läßt er sich nicht“. Das Ver­lan­gen des Skla­ven, Herr zu sein, ist dage­gen weni­ger stark (sonst hät­te er dafür auf Leben und Tod gekämpft); Skla­ve möch­te er aber auch nicht blei­ben: Er hat­te sich nur in die­ses Schick­sal gefügt, um sein Leben zu ret­ten. Also ist er an kei­ne der bei­den Daseins­for­men gebun­den. „Er ist zur Ver­än­de­rung bereit; von sei­nem Wesen her ist er Ver­än­de­rung, Wan­del, ‚Erzie­hung‘“. Die Zukunft und die Geschich­te gehö­ren also nicht dem krie­ge­ri­schen Her­ren, der ent­we­der stirbt oder für immer mit sich selbst iden­tisch bleibt, son­dern dem arbei­ten­den Sklaven.
Zum Ver­ständ­nis die­ser Epis­te­mo­lo­gie der Umkeh­rung und Thea­tra­lik ist es uner­läß­lich zu wis­sen, daß in Kojè­ves Geschichts­bild die bür­ger­li­che Gesell­schaft geprägt ist von den Bezie­hun­gen zwi­schen her­ren­lo­sen Skla­ven und Her­ren, denen die Skla­ven abhan­den gekom­men sind. In der bür­ger­li­chen Gesell­schaft, die bei Hegel wie bei Kojè­ve auf das frü­he Chris­ten­tum zurück­geht, „ist der Gegen­satz zwi­schen Herr­schaft und Skla­ve­rei ‚über­wun­den‘. Und zwar nicht etwa, weil die Skla­ven die wah­ren Her­ren wären. Tat­säch­lich wer­den sie eins in einer Pseu­do-Herr­schaft, die tat­säch­lich eine Pseu­do-Skla­ve­rei ist, eine Skla­ve­rei ohne Her­ren“. Die bür­ger­li­che Welt baut dem­nach auf dem Grund­satz der Pseu­do-Ver­än­de­rung auf, der gera­de soviel Raum läßt, daß der Sta­tus quo gedei­hen kann. Die bür­ger­li­che Gesell­schaft ist die end­gül­ti­ge Bestä­ti­gung einer Umkeh­rung ohne Umsturz; in ihr setzt sich der „Kampf auf Leben und Tod“, bei dem kei­ne Toten zurück­blei­ben, unend­lich fort; Iden­ti­tä­ten wer­den thea­tra­lisch gewech­selt, indem der Herr zum Skla­ven sei­nes eige­nen Besitz­tums wird und der Skla­ve zwar aus der Skla­ve­rei befreit, ohne jedoch zum Her­ren aufzusteigen.

Bei Schmitt fin­det Kojè­ves Gegen­satz zwi­schen Her­ren und Skla­ven sei­ne Ent­spre­chung in der Freund-Feind-Dia­lek­tik. Bei­de Paa­re sind Varia­tio­nen eines zen­tra­len The­mas der Moder­ne, näm­lich des Pro­blems der Gren­zen zwi­schen Selbst und Ande­rem. Die phi­lo­so­phi­schen Grund­la­gen der Moder­ne aus­führ­lich dar­zu­le­gen, wür­de an die­ser Stel­le zu weit füh­ren. Nur soviel soll vor­aus­ge­setzt wer­den: Die Logik der Moder­ne beruht auf der Akzep­tanz eines unver­än­der­li­chen sta­bi­len Kern-Selbst, das sich aller­dings gegen­über ande­ren, ja gegen­über der Anders­heit als sol­cher bewäh­ren und mit ihr zu koexis­tie­ren ler­nen muß. Die essen­tia­lis­ti­schen Vor­an­nah­men des moder­nen Pro­jek­tes der Kul­ti­vie­rung und Erzie­hung des Selbst sind in den letz­ten vier­zig Jah­ren von vie­len Sei­ten der Kri­tik unter­zo­gen wor­den. Die Schlüs­sel­fra­ge lau­tet: Wie ver­hält sich das Pro­jekt der Moder­ne mit sei­nem uner­schüt­ter­li­chen Glau­ben an eine zeit­lo­se mensch­li­che Essenz und deren Fähig­keit, sich mit (der eige­nen) Anders­heit zu arran­gie­ren, zu der Dyna­mik geschicht­li­chen Wan­dels? Eben­die­ses Rät­sel bestimmt die theo­re­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Pro­jekt der Moderne.
Auch Schmitts Deu­tung des Gegen­sat­zes zwi­schen Freund und Feind setzt vor­aus, daß der Feind kein per­sön­li­cher ist, son­dern ein Staats­feind, des­sen Feind­schaft sich aus einer bestimm­ten Kon­stel­la­ti­on der Macht­be­zie­hun­gen in der Welt oder in einer Gesell­schaft ergibt.
Wie inzwi­schen weid­lich bekannt ist, rück­te Schmitt in den 1930er Jah­ren von die­sem sta­ti­schen Begriff des Poli­ti­schen ab, so daß auch die Iden­ti­fi­ka­ti­on des Fein­des nicht mehr unbe­dingt Auf­ga­be des Staa­tes war. Freund und Feind befrei­ten sich Schritt für Schritt aus der öffent­li­chen Sphä­re, mit der Fol­ge, daß die Unter­schei­dung an Sta­bi­li­tät ver­lor und dabei an Bedeu­tung gewann.
Bei der Erst­ver­öf­fent­li­chung sei­ner Haupt­schrift Der Begriff des Poli­ti­schen 1927 behan­del­te Schmitts Erör­te­rung das Poli­ti­sche als einen eige­nen „Bereich“ des Gesell­schafts­le­bens, spä­ter kam er zu der Ansicht, das Poli­ti­sche sei eine so dif­fu­se wie all­ge­gen­wär­ti­ge Prä­senz, die von äußers­tem Kon­flikt gekenn­zeich­net sei. Mit ande­ren Wor­ten, alles ließ sich mit Hil­fe des Gegen­sat­zes zwi­schen Freund und Feind defi­nie­ren, denn alles – Wirt­schaft, Kul­tur, Ideo­lo­gie, Recht – konn­te Schau­platz des Poli­ti­schen wer­den, sobald der Kon­flikt in dem jewei­li­gen Bereich höchs­te Inten­si­tät erreich­te. Das Poli­ti­sche ist somit kein geson­der­ter Bereich des Gesell­schafts­le­bens mehr, son­dern eine uni­ver­sel­le Daseins­form, für die die radi­ka­le Inten­si­tät des Kon­flik­tes kenn­zeich­nend ist. Der poli­ti­sche Gegen­satz, so Schmitt, „ist der inten­sivs­te und äußers­te Gegen­satz und jede Gegen­sätz­lich­keit ist um so poli­ti­scher, je mehr sie sich dem äußers­ten Punk­te, der Freund-Feind­grup­pie­rung, nähert“.
Der Feind muß nicht mora­lisch böse oder ästhe­tisch häß­lich sein, doch er ist „der ande­re, der Frem­de, und es genügt zu sei­nem Wesen als Feind, daß er in einem beson­ders inten­si­ven Sin­ne exis­ten­ti­ell etwas ande­res und Frem­des ist, so daß im extre­men Fall Kon­flik­te mit ihm mög­lich sind …“. Genau­so wie Kojè­ves Herr und Skla­ve setzt also auch Schmitts Gegen­satz­paar eine gewis­se exis­ten­tia­lis­ti­sche Vor­stel­lung von der mensch­li­chen Natur vor­aus. Schmitts Freund-Feind-Dia­lek­tik ent­springt einer bestimm­ten phi­lo­so­phi­schen Anthro­po­lo­gie. Etwas brüsk, aber ohne ihm Zwang anzu­tun, könn­te man sagen, Schmitts Unter­schei­dung geht von einer bösen Ur-Natur des Men­schen aus. Alle ech­ten poli­ti­schen Theo­rien, schreibt er, set­zen vor­aus, daß der Mensch böse ist, „das heißt als kei­nes­wegs unpro­ble­ma­ti­sches, son­dern ‚gefähr­li­ches‘ und dyna­mi­sches Wesen“ zu betrach­ten ist. Dem­entspre­chend ist Feind­schaft die Grund­la­ge poli­ti­schen Lebens.

Man beach­te, daß Schmitt den Men­schen nicht nur als gefähr­lich bezeich­net – eine Fest­stel­lung, die ihm Hob­bes in die Feder dik­tiert haben dürf­te –, son­dern auch als dyna­misch. Statt die­ses letz­te­re Merk­mal aber einer genaue­ren Prü­fung zu unter­zie­hen, zähmt Schmitt die dyna­mi­sche Natur des Men­schen lie­ber, indem er ihn in die sta­bi­le­ren, wenn­gleich genau­so beweg­li­chen und kon­tin­gen­ten Kol­lek­ti­ve gesell­schaft­li­cher Grup­pen oder Natio­nen ein­schreibt. Bei­den spricht er das ein­zig dem Staat zuste­hen­de Recht ab, Krieg zu füh­ren. Kei­ne ande­re Ein­heit inner­halb der Gesell­schaft kön­ne den Feind bestim­men, und kei­ne ande­re Ein­heit dür­fe die Mit­tel haben, einen bewaff­ne­ten Kampf gegen die­sen Feind zu füh­ren. Kon­kur­rie­ren­de gesell­schaft­li­che Grup­pen, poli­ti­sche Ver­bin­dun­gen und Par­tei­en könn­ten inner­halb des Staa­tes exis­tie­ren, solan­ge sie die bestehen­de poli­ti­sche und recht­li­che Ord­nung nicht ernst­haft gefähr­den. Täten sie dies, müs­se der Staat sich ent­schei­den, sie als Staats­feind zu betrach­ten, ins­be­son­de­re wenn sie ihren Unge­hor­sam auf die Spit­ze trei­ben. Schmitt geht es hier­bei um Grup­pen, die das bestehen­de Sys­tem zu zer­stö­ren suchen oder in ihren Kon­flik­ten mit ande­ren Grup­pen die gan­ze Nati­on in inne­ren Auf­ruhr ver­set­zen. Wer­den inne­re Freund-Feind-Gegen­sät­ze jedoch so inten­siv, daß sie zu bewaff­ne­tem Kon­flikt füh­ren, wäre der Staat nicht län­ger die ent­schei­den­de poli­ti­sche Ein­heit. Ergeb­nis wäre ein Bür­ger­krieg, in dem jede Grup­pe ihrer­seits Freund-Feind-Unter­schei­dun­gen trä­fe und das Über­le­ben des Staa­tes auf der Kip­pe stün­de. So kann die Freund-Feind-Unter­schei­dung ent­we­der in Krie­gen zwi­schen Natio­nal­staa­ten oder in Bür­ger­krie­gen inner­halb eines Natio­nal­staa­tes zuta­ge tre­ten. Soll­te die­se Unter­schei­dung ver­schwin­den, wür­de das poli­ti­sche Leben ins­ge­samt verschwinden.
Je mehr sich Schmitt zurück­zog, weil er im Zuge der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kam­pa­gne gegen ihn (1936) und erst recht der Ent­na­zi­fi­zie­rung nach dem Krieg erken­nen muß­te, daß er es nie zu einer Stel­lung mit ech­ter poli­ti­scher Macht brin­gen wür­de, des­to stär­ker ver­än­der­te sich sei­ne Deu­tung der Freund-Feind-Bezie­hung. Sei­nem Glau­ben an die unbe­ding­te Not­wen­dig­keit der Unter­schei­dung zwi­schen bei­den blieb Schmitt treu, aber er wur­de sich zuneh­mend der Schwie­rig­keit bewußt, den Feind in einer Welt aus­fin­dig zu machen, die von Bünd­nis­sen und „Groß­räu­men“ – mehr zu die­sem Begriff spä­ter – anstatt von über­sicht­li­che­ren Natio­nal­staa­ten beherrscht wird. In einer 1969 geführ­ten und 1970 als Gespräch über den Par­ti­sa­nen ver­öf­fent­lich­ten Kon­ver­sa­ti­on mit Joa­chim Schi­ckel ana­ly­siert Schmitt den Par­ti­sa­nen­krieg haupt­säch­lich in Kolo­ni­al­ge­bie­ten und fol­gert, anders als die Armee des Natio­nal­staa­tes sei der Par­ti­sa­nen­krie­ger irre­gu­lär, hyper­mo­bil, lokal und eben des­halb über­all. Der Par­ti­san sei schwie­ri­ger zu erken­nen und daher schwie­ri­ger zu bekämp­fen. Als Feind in neu­er Gestalt kün­de er von einem Zeit­al­ter der anbre­chen­den Glo­ba­li­sie­rung, in dem der tra­di­tio­nel­le Freund-Feind-Gegen­satz spek­tra­ler wer­de, ohne des­halb weni­ger ant­ago­nis­tisch zu sein.
Anders als Kojè­ve sah Schmitt kein Ende der Geschich­te vor­aus, ja die blo­ße Vor­stel­lung erschien ihm schreck­lich und quä­lend. Daher rührt Schmitts Furcht vor der Dia­lek­tik und sein zwie­späl­ti­ges Ver­hält­nis zu Hegel, dem er einer­seits als Staats­theo­re­ti­ker tie­fen Respekt ent­ge­gen­brach­te; ande­rer­seits emp­fand Schmitt Hegels star­ken Drang nach einem Ende des poli­ti­schen Kon­flik­tes regel­recht als depri­mie­rend. Das Ende der Geschich­te in der abso­lu­ten Ver­voll­komm­nung des Geis­tes – die­se Vor­stel­lung war Schmitt fremd, und er lehn­te sie bis zuletzt ab.

Daß Hegels Bedeu­tung für eine poli­ti­sche Phi­lo­so­phie, die von der Freund-Feind-Unter­schei­dung aus­geht, zu den wich­tigs­ten Streit­fra­gen in Schmitts Brief­wech­sel mit Kojè­ve zählt, soll­te also nicht über­ra­schen. Am 14. Dezem­ber 1955 frag­te Schmitt Kojè­ve nach der wah­ren Bedeu­tung des Feind­be­griffs in Hegels Phä­no­me­no­lo­gie: „Kann es bei Hegel über­haupt einen Feind geben, wenn er, der Feind, doch ent­we­der ein not­wen­di­ges Über­gangs­sta­di­um der Ver­nei­nung oder aber nich­tig und ohne Sub­stanz ist?“. Auf die­se dra­ma­tisch for­mu­lier­te, fast schon rhe­to­ri­sche Fra­ge ant­wor­tet Kojè­ve am 4. Janu­ar 1956 mit dem zu erwar­ten­den Gleich­mut: „,Kann es bei Hegel über­haupt einen Feind geben?‘ fra­gen Sie. Wie immer: ja und nein. Ja – inso­fern und solan­ge als es einen Kampf um Aner­ken­nung, das heißt Geschich­te gibt. Die Welt­ge­schich­te ist die Geschich­te der Feind­schaft zwi­schen Men­schen … Nein – inso­fern als und sobald Geschich­te (= Kampf um Aner­ken­nung) in abso­lu­tes Wis­sen ‚sub­la­tiert‘ wird“.
So schält sich her­aus, daß für Kojè­ve wie für Schmitt eine Theo­rie der Moder­ne vor allem die Fra­ge nach dem onto­lo­gi­schen Sta­tus des Selbst gegen­über dem Ande­ren wenn nicht klä­ren, so doch stel­len muß­te. Herr und Skla­ve, Freund und Feind stel­len zwei unter­schied­li­che Ent­wür­fe dar, die­se grund­le­gen­de Bezie­hung zum Aus­druck zu brin­gen. Bei­de sind als binä­re Oppo­si­tio­nen kon­stru­iert, so modi­fi­ziert, bedingt und elas­tisch sie auch for­mu­liert wur­den. Dar­in dem phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs der klas­si­schen Moder­ne ver­haf­tet, schei­nen sie doch die für die Spät­mo­der­ne so typi­sche Unmög­lich­keit der spä­ten Moder­ne zu reflek­tie­ren, ein abso­lu­tes und auto­no­mes Selbst zu behaup­ten. Statt des­sen wird das Selbst ent­we­der im Akt des Ver­lan­gens nach den Ver­lan­gen des Ande­ren gebil­det, oder es ent­steht durch den selbst-ent­frem­den­den Akt des Den­kens, in dem das Den­ken selbst Anders­heit als Teil des Selbst implan­tiert. Aus eben­die­sem Grund kann kei­nes der Ele­men­te des Herr-Skla­ve- oder Freund-Feind-Gegen­sat­zes wie­der­um als das Selbst iden­ti­fi­ziert oder behaup­tet wer­den. In gegen­sei­ti­ger Abhän­gig­keit wer­den sie von­ein­an­der angezogen.
Der wich­tigs­te Unter­schied zwi­schen den bei­den Ent­wür­fen jedoch scheint mir der fol­gen­de zu sein. In Kojè­ves Gegen­satz kann die Span­nung zwi­schen den bei­den Ele­men­ten in der Geschich­te gelöst wer­den, indem der Herr und der Skla­ve letzt­end­lich als Ver­lie­rer und Gewin­ner iden­ti­fi­ziert wer­den, denen ein unter­schied­li­ches mora­li­sches Poten­ti­al anhaf­tet. Für Schmitts Ent­wurf gilt dies nicht. Anders als der Kon­flikt zwi­schen Her­ren und Skla­ven beruht die Span­nung zwi­schen Freund und Feind nicht auf der Annah­me ihrer dia­lek­ti­schen Ver­keh­rung und Auf­he­bung im Fluß der Geschich­te, noch sind die Begrif­fe in irgend­ei­ner Wei­se mora­lisch auf­ge­la­den. Die Kon­fi­gu­ra­ti­on poli­ti­scher Freund- und Feind­schaft erweist sich als weit­aus fle­xi­bler, der Gegen­satz zwi­schen bei­den weit­aus weni­ger geschichts­phi­lo­so­phisch oder mora­lisch entscheidbar.
Eben­die­ser Unent­scheid­bar­keit des Freund-Feind-Gegen­sat­zes ver­dankt sich Schmitts radi­kal ande­rer Umgang mit der anbre­chen­den Glo­ba­li­sie­rung in der Fol­ge des Zwei­ten Welt­kriegs. Für Kojè­ve scheint die Glo­ba­li­sie­rung die natür­li­che Fol­ge der Kon­ver­genz der bei­den Blö­cke im Kal­ten Krieg zu sein; mit sei­nem uner­schüt­ter­li­chen Sinn für Iro­nie schrieb er Schmitt am 11. Juli 1955: „Molo­tows Cow­boy­hut ist für mich ein Sym­bol der Zukunft“.
Unter die­sen neu­en Umstän­den läßt sich die Welt nicht län­ger in kolo­nia­le Schei­ben zer­tei­len; der zivi­li­sier­te Wes­ten hat den Kampf um Gebiets­er­werb angeb­lich hin­ter sich gelas­sen und den Pro­zeß der poli­ti­schen Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung als unver­meid­li­che Fol­ge der zuneh­men­den Homo­ge­ni­sie­rung einer am Ende der Geschich­te ange­kom­me­nen Welt hingenommen.

Kojè­ves Glau­be, daß die­ses Ende unver­meid­lich sei, beruht auf der Erkennt­nis, daß das wich­tigs­te poli­ti­sche Instru­ment, der Staat, tot ist. Über den Unter­gang des Staa­tes waren sich Schmitt und Kojè­ve völ­lig einig: „Es ist vor­bei mit dem ‚Staat‘, das ist wahr; die­ser sterb­li­che Gott ist tot, und dar­an kann man nichts ändern“, schrieb ein resi­gnier­ter Schmitt 1955 an Kojè­ve. Schmitt aber schloß dar­aus nicht, daß das Ende der Geschich­te bevor­stand – ganz im Gegen­teil. In Rück­be­sin­nung auf den Begriff des Groß­raums, den er bereits 1938 aus­zu­ar­bei­ten begann, behaup­te­te er, die bipo­la­re Struk­tur der Welt wer­de am Ende durch eine Rück­kehr zu ech­tem poli­ti­schem Plu­ra­lis­mus über­wun­den, der auf der Exis­tenz einer Viel­zahl lebens­fä­hi­ger Groß­räu­me beruh­te. Die­se The­se, die Schmitt nach dem Zwei­ten Welt­krieg in einer Rei­he von Auf­sät­zen ent­wi­ckel­te, fin­det ihre aus­ge­reif­tes­te For­mu­lie­rung 1955 in sei­nem Bei­trag zur Fest­schrift für Ernst Jün­ger. Dort führt er den Dua­lis­mus zwi­schen Wes­ten und Osten, Kapi­ta­lis­mus und Kom­mu­nis­mus auf die ursprüng­li­che Tren­nung zwi­schen Land und Meer zurück. In die­sem Text, Schmitts wahr­schein­lich bes­tem geo­so­phi­schem Auf­satz der Nach­kriegs­zeit, bemüh­te er sich nach Kräf­ten, die Kon­tu­ren einer Welt zu skiz­zie­ren, die nicht län­ger zwi­schen den bei­den Super­mäch­ten auf­ge­rie­ben wird, son­dern sich poly­zen­trisch ent­wi­ckelt. Trä­ger des Poli­ti­schen ist nicht mehr der Natio­nal­staat, nicht ein­mal mehr der Staat als Super­macht, son­dern die wie­der­erstan­de­nen Groß­räu­me, die früh­zei­tig unter dem Schutt des Krie­ges begra­ben wor­den waren. In dem oben zitier­ten Brief an Kojè­ve erläu­ter­te Schmitt, die Kon­kur­renz zwi­schen die­sen Groß­räu­men wer­de für eine „sinn­vol­le Feind­schaft“ sor­gen, die eine dau­er­haf­te „Geschichts­fä­hig­keit“ gewähr­leis­te. Nicht ein­mal die glo­ba­le Reich­wei­te des tech­no­lo­gi­schen Fort­schritts, so füg­te Schmitt spä­ter hin­zu, kön­ne völ­lig mit der Feind­schaft auf­räu­men. Tech­no­lo­gie, behaup­te­te er im sel­ben Ton­fall, wie er die dama­li­gen deut­schen Debat­ten zu die­sem The­ma kenn­zeich­ne­te, ver­schie­be den Ursprung der Feind­schaft von Krieg und poli­ti­scher Kon­kur­renz auf das Ver­hält­nis des Men­schen zur Umwelt: Wenn die Men­schen die außer­or­dent­li­chen Kräf­te der Tech­no­lo­gie gegen­über der Erde anwen­den, wer­den sie sich schließ­lich selbst zum Feind.
Als Kojè­ve also im Janu­ar 1957 in Düs­sel­dorf ein­traf, um sei­nen Vor­trag zu hal­ten, war er sich die­ser grund­sätz­li­chen Dis­kre­panz in der Fra­ge, ob die Geschich­te zu Ende sei, nur all­zu­sehr bewußt. In sei­nem Düs­sel­dor­fer Vor­trag for­mu­lier­te Kojè­ve den Gedan­ken eines „geben­den Kapi­ta­lis­mus“, der heu­te inves­tiert, um die gefähr­li­chen Exzes­se des wirt­schaft­li­chen Kolo­nia­lis­mus in der Gegen­wart zu ver­mei­den und für mor­gen einen Absatz­markt zu schaf­fen. Arme Kun­den, so warn­te er, sei­en „schlech­te Kun­den und sogar gefähr­li­che Kun­den“. Kojè­ves eigent­li­ches Inter­es­se galt dem Pro­blem, wie die Prak­ti­ken des wirt­schaft­li­chen Kolo­nia­lis­mus, die den Unter­gang des poli­ti­schen Kolo­nia­lis­mus unüber­seh­bar über­leb­ten, zu „zivi­li­sie­ren“ und akzep­ta­bler zu gestal­ten sei­en. Eine Lösung such­te er im for­dis­ti­schen Kapi­ta­lis­mus-Modell, dem es gelun­gen war, so mein­te Kojè­ve, das Pro­le­ta­ri­at mit­tels eines höhe­ren Lebens­stan­dards zu befrie­den. Auf ähn­li­che Wei­se müs­se der Kapi­ta­lis­mus nun in der Drit­ten Welt einen wirt­schaft­li­chen Kolo­nia­lis­mus mit mensch­li­chem Ant­litz errich­ten. Den Mehr­wert, den die rech­te Hand nimmt, soll­te die lin­ke Hand zurück­ge­ben oder bes­ser gesagt, inves­tie­ren. Das Zeit­al­ter des „Neh­mens“ sei vor­über, an sei­ne Stel­le tre­te eine Poli­tik der wirt­schaft­li­chen Lin­de­rung, die der Wes­ten als ein­zi­ges Zen­trum der Welt­macht aus­füh­ren müs­se. Es ist inter­es­sant zu beob­ach­ten, wie Kojè­ve nach dem rich­ti­gen Wort für die neue „geben­de“ Form des Kapi­ta­lis­mus sucht. Post­ko­lo­nia­lis­mus wäre ein hoher Favo­rit gewe­sen. Doch auch ohne einen geeig­ne­ten Begriff erklärt er den „geben­den“ Kapi­ta­lis­mus fei­er­lich zum „Gesetz der Erde von heu­te … Nomos der west­li­chen Erde“. Nomos der Erde war natür­lich eine unmiß­ver­ständ­li­che Anspie­lung auf Schmitts bekann­tes Buch von 1950 und inso­fern ein wei­te­res Indiz für die andau­ern­de Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen den bei­den Män­nern. Schmitts Erwi­de­rung erfolg­te im Herbst des­sel­ben Jah­res (1957), als er sei­ne Ver­fas­sungs­recht­li­chen Auf­sät­ze zur Ver­öf­fent­li­chung vor­be­rei­te­te. In die­se Samm­lung nahm Schmitt auch den Auf­satz Nehmen/Teilen/Weiden (1953) auf, den Kojè­ve sei­nem Brief vom 2. Mai 1955 zufol­ge im Jahr sei­nes Erschei­nens gele­sen hat­te. Die­sem Text füg­te Schmitt nun eine Ent­geg­nung auf Kojè­ves Theo­rie des „geben­den Kapi­ta­lis­mus“ an. Nur Gott, schloß er, kön­ne geben, ohne vor­her zu nehmen.
Daß Gott als schlu­ßend­li­che Wider­le­gung einer Dok­trin beschwo­ren wird, die Schmitt für falsch und gefähr­lich hielt, zeigt, wie wich­tig ihm die­se Debat­te war. Auf der Basis eines tie­fen gegen­sei­ti­gen Respekts, einer Begeis­te­rung für Hegel und der Einig­keit über den unauf­halt­sa­men Unter­gang des Staa­tes in der Nach­kriegs­po­li­tik ent­war­fen Kojè­ve und Schmitt eige­ne Vor­stel­lun­gen der Moder­ne und nicht mit­ein­an­der zu ver­söh­nen­de Vor­her­sa­gen für die Welt, die ent­stün­de, sobald der Eiser­ne Vor­hang auf­ge­zo­gen wür­de. Bei­de ver­or­te­ten sich als Den­ker der Moder­ne, doch nur Kojè­ve begrüß­te die Glo­ba­li­sie­rung als eine unver­meid­li­che Ent­wick­lung, die Anlaß zur Freu­de statt zur Trau­er gibt. Schmitt blieb zumeist miß­trau­isch gegen­über der Vor­stel­lung einer homo­ge­ni­sier­ten Welt. Für ihn war sie die beun­ru­hi­gen­de Kon­se­quenz der schwin­den­den Macht der Mensch­heit, gegen die Neu­tra­li­sie­rungs­pro­zes­se anzu­kämp­fen, die das Poli­ti­sche genau­so unwei­ger­lich zurück­drän­gen wie die exis­ten­ti­el­len Risi­ken gesell­schaft­li­chen Handelns.

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