Wo die Substanz schwindet, wächst die Bedeutung des Symbols. Weil es der Berliner Republik aber selbst an Symbolik fehlt, bleibt nur die Phrase. In der Dunkelflaute der Politik soll sie um so heller leuchten.
Wesentlich dabei: Die moralisch hochgerüsteten Leitphrasen werden so permanent wie penetrant präsentiert, weil das, was sie bezeichnen, für nichts mehr steht. Um so mehr braucht es rituelle Beschwörungsformeln.
Zur Verdeutlichung ein Alltagsbeispiel:
Wird Liebe nicht besonders dort betont, wo sie längst erloschen ist? Lebendige Liebe bedarf ihrer beteuernden Selbstbestätigung ebensowenig wie der neurotischen Schwüre und Ewigkeitsversicherungen. Die setzen vielmehr ein, wenn die Liebe selbst vergeht. – Laut beschrien wird, was still verschwand – in der Illusion, es bestünde fort. – Allgemeiner: Gerade mitten in der Lüge wird mit Emphase die Wahrheit beteuert.
Um es politisch zu verdeutlichen:
Wenn die DDR-Propaganda von der „unverbrüchlichen Freundschaft mit dem Lande Lenins“ sprach oder davon, daß der „Marxismus-Leninismus allmächtig“ wäre, weil er wahr sei, dann wußten die Nachdenklicheren, daß dies zwar so immer und überall betont wird und sie betonten es bisweilen artig mit, jedenfalls dort, wo es nun mal verlangt, ja geradezu vorausgesetzt wurde, aber ihnen war doch klar:
Es gab weder diese „unverbrüchliche Freundschaft“ zur Besatzungsmacht noch – bei allem Respekt davor – die Allmacht des Marxismus-Leninismus, schon weil keine Lehre je irgendwo allmächtig war und es besser auch niemals würde.
(Volkes Stimme war da immer derber und gab ihrer Abneigung Ausdruck, wo es möglich war – so etwa auf dem Pausenplatz nach dem Russischunterricht: „Russki, Russki, du mußt wissen, deine Sprache ist beschissen!“ Das steht alles andere als unverbrüchliche Freundschaft, es stimmt so auch nicht, aber eruptiver Zorn und bitterer Witz taugen zur kurzfristigen Kompensation des langfristig verordneten Frustes.)
Politische Losungen werden in der Krise und Richtung Untergang nicht leiser, sondern lauter und schriller, und sie werden vor allem gebetsartig wiederholt – so, als wollten die vorbetenden Propagandisten selbst ihre schmerzlich wuchernden Zweifel übertönen, ja die Geltung ihrer Suggestionen mit noch aufdringlicherer Performance erzwingen.
Der inszenierte Jubel des an den Tribünen der geriatrischen Funktionäre vorbeiziehenden Volkes sollte in der End-DDR die aufgebrochenen zu Tage liegenden Lebenslügen für ein paar trügerische Momente zudecken. In der Dämmerung vorm Ende sollte es noch einmal licht werden.
Bekennt man sich äußerlicher noch leidenschaftlicher zu einem Glauben, wenn die Hoffnung auf Erlösung innerlich schwindet? Will man wenigstens im Denk‑, Sprech- oder performativen Akt sichern, was man an sich schon verloren weiß?
Zurück zum Politischen:
In den Fünfzigern und Sechzigern war die Bundesrepublik selbstverständlich eine Demokratie. Wie heute. Aber Politik und Kultur bedurften ganz offenbar nicht der pastoralen Dauerbestätigung, daß dem so sei.
Ebenso stand der heute geradezu mystifizierte Artikel eins seit 1949 im Grundgesetz festgeschrieben, aber die Politik machte in den frühen Jahren der Bundesrepublik darum nicht so ein gewaltiges Aufheben wie heute, schon gar nicht in glorioser Verklärung des Begriffes der Würde. Obwohl (oder weil?) diese „Würde des Menschen“ damals doch antastbarer erschien als heute.
Ohne sakrale Betonung von Demokratie und Würde ist heute keine Rede von Gewicht mehr zu denken. Und Demokratie als vermeintliches Optimum von Herrschaft gar in Frage zu stellen, das ist mittlerweile gefährlichste Blasphemie, ja direkt Ketzerei, hat sie doch ganz eschatologisch als heilsbringender Endzweck der Menschheitsgeschichte und höchstmögliche Vollendung der Gerechtigkeit zu gelten. Zuweilen wird freiheitlich-demokratische Grundordnung wie eine Allmachtspartei abgekürzt: FDGO.
Drückt sich im Dauerbekenntnis zur Demokratie das Bewußtwerden ihrer akuten Gefährdung, gar Endlichkeit aus? Trotz aller immer wieder neu gesiegelten Ewigkeitsgarantien?
Eine nächste Beschwörungsformel: Vielfalt! Obwohl entgegen dieser Verheißung mehr denn je verlangt, ja bereits vorausgesetzt wird, die gesamte Gesellschaft habe mit verständigem Gehorsam eher gleichgeschaltet und gleichförmig „Grundvereinbarungen“ zu folgen, die sich ideologisch und didaktisch immer enger gefaßt finden.
Obwohl die einzig lebhafte Opposition von Bedeutung kraß kriminalisiert, als vermeintlich verfassungsfeindlich stigmatisiert und möglichst verboten und noch besser irgendwie verschwinden soll, ist der Leitbegriff der „Vielfalt“ dauerpräsent, ohne daß jene, die ihn sich ins Banner weben, bemerken würden, wie uniformiert sie selbst bereits unterwegs sind und nur das gelten lassen, was ihr eigenes Selbstverständnis ausmacht, kurzschlüssig davon ausgehend, dies habe per se genauso für alle zu gelten, weil es – Eitelkeit des aufklärerischen Gestus – nun mal vernünftig sei, während alles andere krank und gefährlich wäre, wie ja rechtes Denken nicht als zum Vielfaltsspektrum gehörend, sondern als pathologisch dargestellt wird, insofern es solches Denken – wiederum: vernünftigerweise – nach den hohen Dosen politischer Bildung gar nicht mehr geben dürfte. Mit “Vielfalt” gemein ist: Konformität!
In seiner Rede zum Erhalt des Hegel-Preises erörtert Orlando Patterson den Zustand unserer Demokratie:
„Wenn die Demokratie zu einer inklusiven Form der Exklusivität wird, verfällt sie in die Übel des Chauvinismus und der Entmenschlichung von Außenseitern (…).“
Ja, Patterson meint hier Trump, aber sein Hinweis paßt eher auf unsere deutsche Gegenwart und die Behandlung der AfD sowie der politischen Rechten.
Der Ritus des Beschwörens dessen, was an sich vermisst wird, was aber genau deswegen von den Verkündigern um so mehr herbeigeredet und beschworen werden will, reicht bis ins Alltägliche:
So sind gegenwärtig die Krankenstände, insbesondere jene mit psychischen oder psychosomatischen Diagnosen, so exorbitant hoch wie noch nie, weil die Leute komfortverzärtelt immer weniger Widrigkeiten aushalten, aber dennoch – oder eben deswegen – ist durchgängig von Resilienz die Rede – einem Zustand, für den es Abhärtung und Training bräuchte, mindestens aber das Vermögen, Phasen der Herausforderungen, der Härte oder des Mangels offensiv und fit durchzustehen.
Weniger denn je erweisen sich Deutsche in dieser Weise als resilient, aber deswegen wird Resilienz um so mehr herbeigeredet: Sie fehlt, sie wird vermißt, kaum jemand bemüht sich aktiv darum, deswegen hat der Begriff in der verhausschweinten Gesellschaft Konjunktur, ohne daß er sich noch verlebendigt fände.
Interessant wäre zudem die Klärung der Frage, weshalb in einem Land, dessen Regierung immer mehr Teilhabe und Gerechtigkeit verspricht und realisiert, insbesondere bei jungen Menschen ganz signifikant die Depressionen zunehmen. Es scheinen expressionistische Weltendestimmung und apokalyptische Endzeithoffnungen zu herrschen.
Während zudem kalter Egoismus regiert, jeder sich solitär oder allenfalls noch seine Familie durchzubringen versucht und überhaupt die Vereinzelung beängstigend zunimmt, während, mehr noch, die gesamte Gesellschaft schärfstens gespalten ist, sich im Zuge dessen „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ am eindrucksvollsten gegen Anhänger der AfD richtet, für die kein Schmähwort deftig und verletzend genug sein kann, während sich die Polarisierung also spürbar verstärkt, verkündigen die Meinungsführer und Tonangeber mehr denn je Toleranz und Empathie.
Wo Intoleranz waltet, erscheint die leere Phrase von der Toleranz um so präsenter. Wo Denunziation blüht, gilt sie als Courage und will sich sogar mit Respekt verbunden sehen,
Geradezu auf bittere Weise komisch, immer das zu beschreien, was doch spürbar fehlt, und verlebendigen zu wollen, was längst tot ist, weil’s die ideologischen Akteure selbst abgetötet haben. So wenig, wie soziale Medien sozial sind, ist die pluralistische Gesellschaft pluralistisch.
Man überlege sich, wann einem zuletzt – und das noch gar politisch – jemand wirklich empathisch oder tolerant entgegenkam, achtsam und aufmerksam zuzuhören und zu diskutieren bereit war. Wann einem also wirklich mal der freilassende und wertschätzende Dialog ernsthaft und fair angeboten wurde …
Nein, vielmehr wird verlangt, Bekenntnisse folgsam nachzusprechen, auch entgegen der eigenen Erkenntnis und Urteilskraft. Kommt man dem nicht willfährig nach, gilt man selbst als intolerant. Den Appell „Aber so kannst du das doch nicht sehen!“ soll man noch als freundlich und als gut gemeinten Impuls empfinden.
Zu diesem Thema paßt ein anderes Phänomen, nämlich der wiederum politisch bestimmte Dauergebrauch von Begriffen, die zwar positiv konnotiert aufgerüstet sind, aber durchweg unkritisch verwendet werden. Niemand darf deren Semantik nachfragen. So gilt etwa Bildung immer als positiv, ohne daß geklärt wird, welche Bildung nun genau gemeint ist.
Gleiches trifft auf Begriffe zu wie Europa, Digitalisierung oder Nachhaltigkeit. So primitiv wie in der Werbung, wo ein Wort wie Gel gleichfalls nur positiv gefärbt ist, einerlei, ob es sich nun in der Zahnpasta, in Sportschuhen, in Schreibstiften oder im Haar befindet, gern gesteigert als Aktiv- oder Super-Gel.
Solche Worthülserei läuft bis ins Bürokratische: So wird etwa alles Geplante heutzutage angeblich evaluiert, ohne daß es allerdings wirklich kritisch geprüft und bei Untauglichkeit verworfen würde. Eine einfache konventionelle Prüfung wäre wirksamer als eine modische Evaluation, die nur bedeutet: Wir sehen mal irgendwie zu, wie’s läuft, und dann lassen wir es laufen oder auslaufen.
Sprache soll Wirklichkeiten generieren, selbst wenn es die so konstruierten Wirklichkeiten nicht oder nicht mehr gibt. Alle Politik ist Sprache, die Gesellschaft wesentlich Kommunikation. Auch mit dem Vorteil, daß man daran die Zwecke, die Manipulationen und, ja, bisweilen echte Redlichkeit ablesen kann.
frdnkndr
"Alle Politik ist Sprache, die Gesellschaft wesentlich Kommunikation. Auch mit dem Vorteil, daß man daran die Zwecke, die Manipulationen und, ja, bisweilen echte Redlichkeit ablesen kann."
Der Zweck dieser auch hier im Artikel beschriebenen Entwicklung hin zum vollkommenen Entgegengesetzten, Verdrehten, Entkernten, Entleerten besteht letzten Endes unter anderem auch darin, auch noch diesen letzten 'Vorteil' auszumerzen. Niemand soll mehr irgendetwas glauben, sich auf was auch immer verlassen können - und schon gar nicht soll er es sich so einfach machen und schlicht das Gegenteil des Proklamierten als wahr oder zumindest wahrscheinlich annehmen dürfen.
Vollkommene Unsicherheit in jedem noch so kleinen wie großen Bereich des kompletten öffentlichen wie privaten Lebens - unter dem wirds hier nicht mehr gemacht.
Agamben sprach bereits vor Jahren und auch schon einmal hier zitiert von kompletten Verdrängung alles auch nur im Ansatz Wahrhaftigen, wo die einzige minimale Chance auf zumindest ein winziges Stück Echtheit nur noch in dem unwahrscheinlichen Bruchteil einer Sekunde existiert, in der alle Lügen schweigen.
Praktisch sind wir aber auch darüber beinah hinaus. Konnte man bspw. den Grad der Falschheit der Berichterstattung über ein aktuelles Ereignis bis vor Kurzem noch anhand der Zeitdauer bis zu ihrem allseits synchronisierten Erscheinen grob abschätzen, funktioniert dies schon länger nicht mehr richtig, da dieses 'Schlupfloch' u.a. mittels gezielter Verschleppung etc. weitgehend geschlossen wurde.