Am Ende wieder Konvoi. Man lotste uns zunächst bis Döbeln (Plan: Shuttlebus), dann nach Lommatzsch (Plan: andere Zufahrtsstraße), irgendwann durch Wohngebiete und halbe Feldwege in einen Verfügungsraum, an dem harte Antifa vorbeizog: laut, paramilitärisch, vermummt. Von dort aus dauerte es noch einmal eine Stunde, bis es endlich gelang, die Halle zu erreichen, in der die AfD ihren Bundesparteitag abhielt.
Dort hatte Alice Weidel ihre programmatische Rede längst gehalten, dort war sie längst ohne Gegenkandidat und per Akklamation zur Kanzlerkandidatin ihrer Partei ernannt worden. Dort nahm ich eine professionelle Organisation und Präsentation wahr, eine gereifte, geschlossene Partei, die entspannter wirkte als in den Jahren zuvor.
Es tut nichts zur Sache, ob ich das gut oder weniger gut finde, dieses Gereifte, das weniger Reibungsflächen bietet, weniger Spannung birgt; es ist nun eben so, die Partei ist so geworden, sie geht zum Glück nicht den Weg eines berufsjugendlichen Pfadfinders, der, erwachsen geworden, noch immer in kurzen Hosen am Feuer steht und in sich das Weltgefühl der Pubertät hütet.
Ich war zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt auf einem Parteitag. Die Einladungen zu Landes- und Bundesparteitagen hatte ich in der Vergangenheit stets ausgeschlagen: Es muß einen Unterschied zwischen Partei und Vorfeld geben, und er kann sich unter anderem darin ausdrücken, daß man dann, wenn Entscheidungen getroffen werden, nicht in derselben Halle sitzt.
In Riesa, das war nicht schwer vorherzusehen, würde es nicht um Kampfabstimmungen und um Richtungsstreitigkeiten gehen. Hier würden keine Netzwerke gegeneinander antreten und ihren Kuhhandel veranstalten. Nur in einem Punkt würde hart und emotional gefochten werden: dort, wo es um die Zukunft der Jugendorganisation ging.
Ich erwartete eine selbstsichere und von sich selbst überzeugte AfD, und ich traf sie an: Denn die AfD ist die einzige Partei, die sich darüber freut, daß aus der geschlossenen Eisdecke Packeis geworden ist, das in der Dünung schaukelt – sanft, aber spürbar.
Das ist das, was über Jahre vorbereitet worden ist: mit Begriffen und Argumentationsketten, mit Richtungskämpfen, Häutungen und Wahlerfolgen, mit einer Professionalisierung in allen Bereichen. Das hat zu einer internen Berechenbarkeit geführt, die natürlich den Bewegungsgesetzen von Parteien innerhalb der parlamentarischen Demokratie folgt – wie auch sonst? Denn diese Gesetze sind ehern, wir haben alle unseren Max Weber und unseren Robert Michels gelesen und sind nicht naiv.
Interne Berechenbarkeit ist eines der Ergebnisse aushärtender Strukturen. Sie ist außerdem eine der Voraussetzungen für Regierungsfähigkeit, für die Beteiligung an der politischen Macht. Das sagt noch gar nichts darüber aus, ob man nicht doch die politischen Gegner mit symbolpolitischen Handlungen und Personalentscheidungen und unberechenbaren Drehungen an entscheidenden Stellschrauben überraschen und schockieren kann. Aber so etwas wird nur mit einer Mannschaft möglich sein, die in sich geschlossen agiert und sich nicht selbst überrascht, sondern alles Unberechenbare gegen die Gegner wendet.
Das haben in der AfD die wesentlichen Leute begriffen. Der Parteitag hat für diesen Vorgang ein Symbolbild erzeugt. Es zeigt Björn Höcke am Fuß der Rednerbühne und eine Alice Weidel, die sich zu ihm beugt, um Gratulation und Blumen entgegenzunehmen. Höckes Geste und Weidels Dank haben nichts Aufgesetztes und Gezwungenes. Denn Weidel hatte sich zuvor mit ihrer harten, kämpferischen Rede und den in ihr enthaltenen Signalwörtern explizit zum Höcke-Teil der Partei herübergeneigt.
Überhaupt, Alice Weidel: Ihre Plauderei mit Elon Musk hat sie (obwohl inhaltsschwach, geradezu schief) zu einem Wahlkampfmotor gemacht, und es wäre fahrlässig, ihr in die Parade zu fahren und den Motor ins Stottern zu bringen. In allen Gesprächen, die ich auf dem Parteitag führte (mit Landes- und Fraktionschefs, mit Kreisvorsitzenden und Direktkandidaten, einfachen Mitgliedern und Leuten der allerersten Stunde), kam dies zum Ausdruck: Die Entdämonisierung und die Entlastung, die durch Musks lässige Vorstöße eingesetzt haben, sind das, was nur von außen hat bewirkt werden können. Daß es nun bewirkt wurde, ist in seiner Bedeutung und Dimension noch nicht begriffen worden.
Auch die hinter dem schmalen Gästekorridor platzierten Medienvertreter können diese Dimension nicht ermessen. Im Großen und Ganzen rückten sie dem Parteitag mit denselben Methoden zu Leibe, die sie seit Jahrzehnten anwenden, einfallslos, routiniert, dadurch irgendwie nicht an Entwicklungen interessiert und ratlos. Man möchte Nicole Diekmann, Ann-Katrin Müller, Paul Middelhoff und viele andere fragen, ob sie sich schon als Volontäre vorgenommen hatten, so festgelegt und eingerastet zu arbeiten und Propaganda für diejenigen zu betreiben, die sowieso an der Macht sind.
Dabei gäbe es inhaltlich und atmosphärisch vieles zu berichten – bloß braucht man dazu einen breiteren Blickwinkel und anderes Vokabular. Es ist von großer Bedeutung, daß sich die weitaus stärkste Oppositionskraft Deutschlands den Begriff “Remigration” endlich ganz zu eigen gemacht und in ihrem Wahlprogramm festgeschrieben hat. Die AfD hat außerdem (und trotz Musk) eine Äquidistanz zu den USA und Rußland betont und sich eine deutsche Europa-Konzeption zur Aufgabe gemacht, die unseren Kontinent als unabhängige Größe zwischen den beiden Weltmächten verortet.
Parteiintern hat Weidel das, was man ein “Momentum” nennt: Ihrem Kurs, ihren Vorschlägen folgte in Riesa eine starke Mehrheit. Im Zusammenspiel mit anderen setzte sie sogar mit einer Zweidrittelmehrheit die Eingliederung der Jungen Alternative in die Mutterpartei durch.
Diejenigen, die sich dagegen gewehrt haben, waren gegen die strukturelle Macht und die kontrollierende Mandatsvernunft chancenlos. Das ist kein gutes Zeichen. Was niemand braucht: eine weitere Altpartei. Ich bin schon etwas älter und darf das sagen, und ich weiß, daß Leute, auf die ich große Stücke halte, die Sache anders sehen.
Aber: Eine Partei, die nicht nur funktionieren, sondern auf allen wesentlichen Feldern einfallsreich und mit unkorrumpierbarem Stehvermögen eine andere, alternative Politik durchsetzen möchte, braucht Idealisten und Rauhbeine, Widerborste und impulsive Charaktere, Leute, die nicht an Karrieren interessiert sind, nicht geschickt, nicht smart und geschmeidig, sondern emotional bei der Sache und hellhörig.
Sehr vielen jungen Leuten hat die Partei nicht gutgetan. Ich kenne etliche, die sich besser später oder gar nicht in diese Strukturen begeben hätten – sei es als Mitarbeiter, sei es als Mandatsträger. Ihnen ist soziale Intelligenz zugewachsen, mehr aber oft nicht, und im Gegenteil: Sie haben nebenbei das verloren, was sie unter Spannung hielt – “Gezeiten des Blutes, Träume von Taten, Verlocken des Mutes”. Sie wissen sich zu bewegen, und einige werden es zur Meisterschaft darin bringen. In einer Fraktionsstruktur, die nach der Wahl im Februar mindestens doppelt so groß sein wird wie bisher, wird es für jeden von ihnen mehr als genug Platz geben. Sie werden ein müheloses Erwerbsleben führen können.
Zumindest Zeit hätte man dem Prozeß lassen müssen. Er war konfrontativ, war nun sogar eine Machtdemonstration, und so wirkt alles wie eine feindliche Übernahme. Das wird – meine Prognose – dazu führen, daß sich die JA auf ihrem anstehenden Bundeskongreß nicht selbst auflösen wird.
Vermutlich wäre das ein Fehler: Alles, was Partei sein will und nicht innerhalb der Partei Machtstrukturen aufbauen konnte, wird über kurz oder lang keine Rolle mehr spielen. Eine Partei wird keinen Bereich unkontrolliert lassen, für den sie verantwortlich gemacht werden kann, und sie kann “Druck von außen” einfach aussitzen.
Deshalb zieht das Beispiel “Jusos” nicht recht: Hier kann sich eine Partei, die SPD, eine linksradikale Jugendorganisation leisten, weil sie weiß, daß deren Provokationen ihr nicht ständig aufs Brot geschmiert werden. Bei der JA war das schon immer anders. Man braucht als AfD inneren Spielraum, um das hinzunehmen. Den hat sie nicht, dazu ist sie mental zu sehr verbeamtet.
Ich habe natürlich darüber nachgedacht, welchen Vorteil es haben könnte, daß die JA nun diszipliniert und unter Aufsicht gestellt worden ist (um die zufriedenen Worte eines Landeschefs aufzugreifen). Teile könnten der Partei den Rücken kehren und ihr eigenes Ding machen. Wenn, dann müßte es aus Kraft geschehen. Trotz sollte keine Rolle spielen, nüchtern müßte eine solche Entscheidung getroffen werden.
Könnte das dem guttun, was außerhalb der Partei liegt – dem Vorfeld, der Szene, dem Rückraum, der Landschaft aus Verlagen, aktivistischen Projekten, Influencern und subversiven Szenetreffs? Ich hoffe stets, aber ich glaube nicht. Die Sogkraft der Partei ist zu stark, die jungen Jahrgänge sind zu schwach, die ordnungs- und staatsfixierte Rechte hat nie ein auch nur annähernd so anarchisches Milieu ausgebildet wie die von allem und jedem emanzipierte Linke.
Das ist einer der roten Fäden, der sich durch alle Gespräche zog: die Nachwuchsfrage, die Personalfrage, also das Dilemma zwischen raschem großem Erfolg bei Wahlen und der hauchdünnen Schicht derer, die überhaupt für komplexe Aufgaben herangezogen werden können. Gesinnung hat noch nie Wissen und Expertise ersetzt. Dieser Mangel könnte Dimensionen annehmen, die jeden Sieg versanden lassen.
Jeder Blinde sieht, wie sehr die AfD Hoffnung zu bündeln vermag. Sie braucht eine Staatsidee. Unser Land ist so fertig und auf den Knien, daß es in Teilen rekonstruiert werden muß. Die AfD braucht hunderte gut ausgebildete Experten, die heute noch gar nicht wissen, daß sie bald für diese Partei arbeiten werden. Wo sie herkommen sollen, weiß kein Mensch.
Dem widersprach Christoph Berndt. Wir saßen zusammen und diskutierten, unter anderem darüber. Er hatte erst spät die Halle erreicht, war von der Antifa eingekesselt worden und hatte eine halbe Stunde lang in seinem Auto ausgeharrt. Die Polizei war nicht in der Lage, ihn herauszuholen. Die Randalierer demolierten sein Auto, rissen das Nummernschild ab, und als Berndt ausstieg, um zu fotografieren und zu dokumentieren, hämmerte ihm einer die Autotür ins Gesicht.
Er saß also mit einem anschwellenden Veilchen in unserer Runde und teilte sein Bier mit mir. Auf meinen Bericht über die demografische und personelle Notlage hin lächelte er auf die ihm eigene Art und winkte in meine Richtung ab: “Darum”, sagte er, “kümmern wir uns, wenn es soweit ist. Jetzt wird erst einmal gewonnen.” Und: “Wirst sehen, Du Pessimist.” Ich bin mal gespannt.
Ernestine
Heute nur ein kurzer Kommentar: Das Foto, das Alice Weidel mit Björn Höcke zeigt, gehört zu den anrührendsten und schönsten, die ich im Zusammenhang mit der AfD je gesehen habe. Es spricht Bände. Ich sehe darin u. a. einen Ausdruck tiefer Demut von Seiten Björn Höckes gegenüber Alice Weidel und ihrer Berufung als Kanzlerkandidatin. So schön!