Das liegt nicht nur an den jahreszeittypischen Bodennebeln, die im Süden vom Schweizer Mittelland über den Bodensee nach Norden hin bis ins Donaugebiet reichen und die Landschaft grau verpacken und vielerorts unsichtbar machen. Es liegt offenbar auch daran, daß das wohlhabende Oberschwaben — die Gegend nördlich des Bodensees bis hoch zur Schwäbischen Alb — sich seiner selbst nicht mehr so ganz sicher ist. Und auch das alemannische Gebiet — das vom Schwarzwald und dem Elsaß über den Bodensee tief in die Schweiz hineinreicht — strauchelt.
Man merkt das daran, daß in den Mittel- und Kleinstädten dieser Region die Leerstände zunehmen. Nicht irgendwo an den Rändern der Städte. Sondern mittendrin, dort, wo die kommoden Fußgängerzonen im Sommer sich schon ein wenig italienisch geben, die über den Winter gepäppelten Palmen die Illusion eines sonnigen Südens unterstreichen und die Städte oft noch einen aus dem Mittelalter stammenden Stadtkern aufweisen. Das ergibt in guten Jahren ein schönes regionales Selbstbewußtsein. Aber in den schlechten Jahren, die hinter uns liegen, sind die Zweifel gewachsen.
Die Leerstände in den innerstädtischen Fußgängerzonen zeigen das an: Im wohlhabenden Ravensburg habe ich sechs leere Geschäfte gezählt; in Konstanz kaschiert man die Leerstände, indem die Stadt irgendwelche Aktionsbüros dort einquartiert, wo eben noch Schreibzeug verkauft wurde; und in Freiburg steht in der Haupteinkaufsstraße das einst größte lokale Bekleidungshaus leer.
Sicherlich: Das alles mag weniger gravierend sein als in der Mitte und im Norden unseres Landes. Denn in Friedrichshafen am See sitzen mit Airbus und der Zahnradfabrik ZF Industriebetriebe, die immer noch Geld verdienen, für die Zulieferung der Auto‑, der Flugzeug- und der Rüstungsindustrie. Und mit Konstanz, Freiburg, Basel, Zürich und St. Gallen legt sich um das Zentrum der schwäbisch-alemannischen Region ein Kranz von Universitäten, die ein Heer von Beamten alimentieren und in der einen oder anderen Weise mit der Medizin- und Pharmaforschung verbunden sind.
Arm ist man hier also nicht, aber offenbar auch nicht mehr so wohlhabend-zukunftssicher wie noch vor wenigen Jahren. Denn jetzt heißt es plötzlich, ZF wolle in den kommenden Jahren 14.000 Mitarbeiter entlassen, und bei Airbus stehen 2500 Arbeitsplätze auf dem Spiel.
Die Leerstände und angekündigten Entlassungen sind dabei nur die für jeden sichtbaren Signale, daß etwas nicht mehr läuft. Weniger sichtbar sind die kleinen Details, die man nicht sofort sieht, die aber eine strukturelle Verwerfung andeuten, die womöglich tiefer reicht als die Leerstände und anstehende Entlassungen. Ich meine ein Detail wie dieses: daß der Eisenbahnverkehr von Zürich über Lindau nach München oder von Freiburg über Basel und Konstanz nach St.Gallen planerisch und in der Ausführung offenbar längst in der Hand der Schweizerischen Bundesbahnen liegt und die Deutsche Bahn hier nichts Großes mehr stemmt.
Oder ein Detail wie dieses: daß der Hauptflughafen der Region in der Mitte des schwäbisch-alemannischen Gebietes liegt, nämlich in Zürich, das infrastrukturell von den Flughäfen in Mühlhausen (Elsaß, Frankreich) und Friedrichshafen (Bodensee, Deutschland) flankiert wird. Oder dieses: daß die Nordschweiz seit Jahren überrannt wird von Deutschen, die dort arbeiten wollen und das auch tun, als Grenzgänger oder Zuzügler. Man sieht diesen Trend an den in jeder nordschweizerischen Gemeinde aus dem Boden schießenden Baukränen.
Nördlich von Rhein und Bodensee soll freilich anderes in den Himmel wachsen. Bei Ravensburg ist mitten im Altdorfer Wald, einem der größten geschlossenen Waldgebiete Baden-Württembergs, ein »Windpark« mit bis zu 39 Windrädern geplant, damit endlich auch im oberschwäbischen Schwachwindgebiet der Kampf um die Klimaneutralität gewonnen werden kann. Nicht besser sieht es am westlichen Bodensee aus, wo auf der Halbinsel Höri bis zu fünf Windkraftanlagen und auf der Halbinsel Bodanrück und damit in Sichtweite von Konstanz weitere Windkraftanlagen in Planung sind. Sollten diese Pläne umgesetzt werden, würde das Bodenseegebiet von einer Urlaubsregion, die davon lebt, daß die die Landschaft noch halbwegs unverbraucht wirkt, zu einem technischen Winderzeugungsgebiet umgemodelt werden, in dem die Rotationsgeschwindigkeit der Windflügel den Takt angibt.
Mit anderen Worten: In der Region ist der Abbau von Substanz, der historisch gewachsenen ökonomischen wie der natürlichen, überall zu greifen. Und obwohl man den Menschen einzureden versucht, der Substanzabbau sei die Eröffnung einer neuen Zukunft, mag das vor Ort keiner so recht glauben. Die Leerstände in den Städten, die geplanten Entlassungen und die Infrastrukturprobleme der Bahn sprechen eine andere Sprache, die Sprache eines grauen Nichts, das sich über die Region legt.
Dieses Nichts hat nicht nur die Städte und die Landschaft gepackt, sondern auch die Menschen. Für sie ist es das Nichts eines Kulturbruchs, der mit den vertrauten Sicherheiten der Provinz aufräumt. Wenn auch in Ravensburg die bislang nur anderswo gesichteten »Messermänner« auftauchen und ein ums andere Mal Schrecken verbreiten, wenn in Konstanz am hellichten Tag auf der Straße in eine Menschengruppe geschossen und im Stadtpark eine Frau von einem Syrer vergewaltigt wird, dann hat die tiefe Provinz ein Trend eingeholt, der vor einigen Jahren in Freiburg als der weniger tiefen Provinz begonnen hatte: das wiederholte (hier und hier) Vergewaltigen und Töten von Einheimischen durch Fremde.
Welche Auswirkungen das auf die Mentalität der Menschen hat, kann man nur erst erahnen. Eine Ahnung vermittelt das zunehmende Grau der Kleidung, das in scharfem Gegensatz zu der Buntheit steht, mit der man auch in den schwäbisch-alemannischen Universitätsstädten beschäftigt ist. Aber es ist nicht nur das Grau der Kleidung, das eine atmosphärische Eintrübung anzeigt, es ist auch die zunehmende Verwahrlosung, die eine Zeitlang noch als informelle Lockerheit durchging, inzwischen aber ins Ungepflegte spielt. In Bahnen, Bussen und Straßenbahnen hat man zunehmend den Eindruck, daß nicht nur die Kleidung schadhafter und ungewaschener wird, sondern auch der Mensch, der in ihr steckt. Es riecht jetzt im Nahverkehr, wie es früher nicht gerochen hat.
Ungepflegtheit und Verwahrlosung, sagen uns die Psychologen, seien ein Zeichen für eine Depression. Die seit dem Jahr 2020 zunehmenden Selbstmorde zeigen an, wie tief die depressive Verunsicherung der Bevölkerung inzwischen reicht.
Wie es weitergehen wird, ist schwer zu sagen. Klar ist nur, daß die Woken, die um ihr Weltbild und zugleich um ihre Pfründe kämpfen, im Moment alles tun, um auf ihrem Weg ins graue Nichts bleiben zu können. Sie haben den nötigen Wechsel mit einer Fülle von Tabus umstellt, die von der Unantastbarkeit der Energiewende, der alternativlosen illegalen Masseneinwanderung bis zur neuerdings eingeführten Verpackungssteuer reichen.
Erste Unsicherheiten melden sich in diesem Milieu von jenseits des Atlantiks in der Person von Donald Trump, assistiert von Elon Musk, die man beide nicht mehr wegcanceln kann, wie man das jahrelang mit allen konnte, die Nichtlinks und Unwoke waren. Und in den östlicheren Gebieten Europas gelangen die Verfemten jetzt an die Regierung und schmieden Koalitionen mit jenen, die konservativ durchgehalten hatten, um Europa allmählich vom bunten Grau des linksgrünen Allerlei zu befreien.
Und im Südwesten, im Schwäbisch-Alemannischen? Da bleibt unvergessen, daß hier zusammen mit Sachsen und Thüringen eine Region gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen anhaltend Widerstand leistete. Dieser Widerstand hatte viele Väter, aber einer ist mit Sicherheit eine Art angeborene Widerständigkeit, die auf eine lange Geschichte zurückschaut: im Schweizerischen nicht nur auf den Eigensinn der Kantone und den Aufbau einer direkten Demokratie, sondern auch auf die zur liberalen Bewegung gehörende »Remstalpolitik« oder die Altkatholische Kirche, die im Südwesten eines ihrer Kerngebiete hat.
Diese Widerständigkeit hat immer wieder Menschen angezogen, die in der Region zu sich kommen wollten oder mußten und einen Abstand zu den Städten suchten, in denen der Zeitgeist sich austobte und zu Ende tobte. Man darf hier nicht nur an Hermann Hesse denken, der sich nach Gaienhofen zurückgezogen hatte, oder an Otto Dix, der nach Hemmenhofen ausgewichen war. Man darf vor allem an Friedrich Georg und Ernst Jünger denken, die ihre zweite Lebenshälfte im Schwäbisch-Alemannischen verbracht haben, der eine in Überlingen, der andere in Wilflingen. Die Perfektion der Technik und die Marmorklippen sind Werke ganz unterschiedlicher Art, aber es sind Werke, in denen der Aufstand gegen die auf ein Grau zusteuernde technische und politische Vernutzung der Welt zu sprachlicher Substanz gefunden hat.
Der Gedanke, daß diese Substanz von dem Land und den Leuten geliefert wurde, mit denen die Brüder Jünger lange Umgang hatten, eröffnet einen weiten Horizont, der über das Geschlecht der Staufenberg zurückreicht in die Zeiten der Staufer und Zähringer. Wobei wir nicht vergessen wollen, daß auch der Stammsitz der Habsburger in die schwäbisch-alemannische Landschaft gehört.
Wendet man sich von diesen fernen Zeiten zurück in immere jüngere Epochen, sieht man mit einem Mal all die irischen und angelsächsischen Missionare, die auf der Reichenau und in St. Gallen wirkten; man sieht Meister Eckhart einen Teil seiner Predigten in Straßburg und im Elsaß halten, in einem alemannischen Straßburg, in dem Gutenberg an seiner Erfindung arbeiten und zwischendurch nach Basel fahren wird, um auf dem dortigen Konzil Kontakte zu knüpfen zu Kirchenmännern vom Format eines Nikolaus von Kues; man schaut sich in einem Basel um, in dem Erasmus von Rotterdam sein Leben beschließen wird, später wohnen und arbeiten dort Nietzsche, Jacob Burckhardt und noch etwas später Karl Jaspers, während nördlich davon in Freiburg Martin Heidegger denkt und schreibt und noch weiter nördlich im schwäbischen Tübingen immer noch zu spüren ist, daß es das Land von Hölderlin, Hegel und Schelling, aber auch von Schiller und Uhland ist, von Mörike und Gustav Schwab; und am Bodensee heilte Franz Anton Mesmer die Menschen magnetisch und schaute die Droste oben von der Meersburg hinunter aufs Wasser.
Tief hinab reicht der Schacht der Vergangenheit im Schwäbisch-Alemannischen. Aber es ist kein dunkler Schacht; er ist hell und bunt und voller Strahlkraft durch die Jahrhunderte bis heute. Von diesem Schacht her wurde mehr als einmal das bleierne Grau der deutschen Stagnations‑, Unglücks- und Katastrophengeschichte vertrieben. Und so wird es auch in unseren Tagen wieder sein, wenn eine neue Erinnerungswelle übers Land kommt.
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Uwe Jochum hat in der Reihe Kaplaken das vielbeachtete Bändchen Langmut. Den Widerstand üben vorgelegt.
Ernestine
Interessanter Beitrag, vielen Dank, vor allem für mich, die ich selbst seit ca. 25 Jahren mit Familie in dieser Gegend ansässig bin.
Ich bemerke in der Tat eine tiefe Depression. Viel bricht zusammen. Reitställe schließen. Neue machen nicht auf. Überall hört man von Streit und Zwietracht. Unsere AfD-Infostände sind gut besucht. Vor allem von Menschen, die der AfD schon lange verbunden sind. Sie kommen hauptsächlich, um sich auszusprechen, wollen Trost und Nähe erfahren. Manch' einer bleibt stundenlang.
Die gegenwärtige Situation bringt aus den Tiefen des Menschen auch Verstörendes hervor, so wie ich es bis dato nicht gekannt hatte. Heute erhielt ich z. B. eine völlig ernstgemeinte Warnung einer "katholischen Fundamentalistin". Sie wies mich allen Ernstes darauf hin, dass Björn Höcke der Satan sei und fürchtete bereits um mein Seelenheil. Ich war platt. Meine frühere Bitte, für Höcke gelegentlich zu beten, hatte sie vorher bereits abgelehnt.