Für den Umgang mit Goerdeler, an den in erster Linie als einen der maßgeblichen und energischsten Köpfe des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime erinnert wird, ist das Leipziger Denkmal bezeichnend. Durch das Stichwort „Widerstand“ scheint eine lästige Inpflichtnahme unausweichlich zu sein, exponiert präsentiert werden soll der „Reaktionär“ allerdings nicht. Auch die wohlwollende Geschichtsschreibung ist bemüht, den in die Schublade „nationalkonservativer Widerstand“ eingeordneten Politiker an den Maßstäben des Grundgesetzes oder anderen (Wunsch-) Gegenwartsbezügen zu messen.
Goerdeler wirkte als erfolgreicher, ökonomisch versierter Kommunalpolitiker und übernahm Aufgaben auf Reichsebene. Nach seinem Rücktritt als Oberbürgermeister von Leipzig im Jahr 1937 arbeitete er unermüdlich daran, der Politik des NS-Staates entgegenzuwirken – durch Auslandskontakte, durch Versuche, direkten Einfluß auf maßgebliche Funktionsträger zu nehmen, er knüpfte Verbindungen innerhalb des Widerstandes und trieb die Staatsstreichplanungen voran. Hier war er nach übereinstimmenden Aussagen der unermüdlich-optimistische Motivator.
Als Reichskanzler wurde er im Laufe seines Lebens zwei Mal gehandelt – zum einen kurzzeitig gegen Ende der Weimarer Republik als Nachfolger Heinrich Brünings, zum anderen war er für diese Funktion nach dem erfolgreichen Sturz des NS-Regimes vorgesehen. Kennzeichnend für Goerdeler waren eine unbedingte Orientierung am Rechtsstaat, sein zuweilen infantil-naiv anmutender Glaube an die Vernunft, deren Natur schließlich obsiegen werde, sowie an die Wirkkraft des rationalen Arguments und die entsprechende Zugänglichkeit der Entscheidungsträger.
Eine Vielzahl von Überlegungen zu Reformen oder grundsätzlichen Neustrukturierungen sowie zu Positionierungen Deutschlands im internationalen Rahmen arbeitete Goerdeler in teils umfangreichen Darlegungen aus. Genannt seien etwa die Denkschriften aus der Zeit des Widerstandes „Das Ziel“ (Herbst 1941) und „Der Weg“ (abgeschlossen im April 1944). Goerdelers Denken zeigt eine hochgradige Kontinuität und Geschlossenheit, sowohl in politisch-ökonomischen und Verfassungsfragen als auch in der Außenpolitik. So etwa standen für ihn die Grenzen von 1914 kaum zur Disposition, allenfalls erweitert um Österreich und das Sudentenland.
Der langjährige Reichsfinanzminister Schwerin-Krosigk erklärte, Goerdeler habe wie ein „bürokratischer Revolutionär“ gewirkt – in der Unzahl der verzerrenden Urteile vielleicht eines der treffenden. Ausdruck von Goerdelers unbedingter Wertschätzung des Rechtsstaates und seines Vertrauens in die menschliche Vernunft war seine Weigerung, dem Attentat, dem Tyrannenmord seine Zustimmung zu geben. Bis zum Ende beharrte er darauf, daß sich vor allem Hitler einem Gericht stellen müsse, um mittels eines umfangreichen Prozesses die verhängnisvolle Politik des NS-Staates offenbar werden zu lassen und so die Unterstützung der Bevölkerung für das Gemeinwesen nach dem Umsturz zu gewinnen. Mit diesen Bestrebungen stieß Goerdeler auch innerhalb seines engsten Widerstandsumfeldes auf vehementen Widerspruch.
Geboren wird Goerdeler am 31. Juli 1884 in Schneidemühl, Provinz Posen, ab dem sechsten Lebensjahr wächst er im westpreußischen Marienwerder auf. Der Vater ist Jurist und sitzt ab 1899 für die Freikonservative Partei im Landtag. Das Preußische prägt Goerdeler, die friderizianische Tradition ebenso wie der Reformer Stein, auf den er sich oft beziehen wird.
Nach dem Studium der Rechte in Königsberg und Tübingen sowie einer kurzen Banklehrzeit wird er 1912 Beigeordneter in Solingen. Im Ersten Weltkrieg dient er als Artillerieoffizier an der Ostfront. Hervorzuheben ist hier seine Aufgabe, 1918 die Verwaltung in den von der 10. Armee besetzten Gebieten Litauens und Weißrußlands wiederherzustellen. Im Vorfeld des Versailler Friedens ist er 1919 in den Reihen derer engagiert, die Gebietsabtretungen zu verhindern versuchen, er selbst formuliert:
Die einzige Möglichkeit, das Deutschtum im Osten und die Ostmark dem Reiche zu retten, ist die militärische Niederwerfung Polens.
Die Demokratie der Weimarer Republik ist ihm nicht nur fremd, er hält sie für ungeeignet, den sich für Deutschland stellenden Problemen zu begegnen. Dennoch agiert er, bis 1931 der DNVP angehörend, in seinen Ämtern äußerst erfolgreich. 1920 wird er Zweiter Bürgermeister von Königsberg, 1930 schließlich Oberbürgermeister von Leipzig, einer der bedeutendsten Städte des Reiches.
Vom „Fluch des Parlamentarismus“ spricht er und daß er es für ausgeschlossen halte,
daß irgendeine parlamentarische Kombination imstande sein wird, die durch die heutige wirtschaftliche und politische Lage bedingte Reform zu beschließen.
Und er erklärt, hier in Übereinstimmung mit den meisten seiner Zeitgenossen:
Alle Schwierigkeiten, in denen sich heute Deutschland und die Welt befinden, gehen zurück auf den Wahnsinn des Diktates von Versailles.
Konkret strebt er – in seinen diesbezüglichen Schriften durchgehend – die Stärkung der Selbstverwaltung auf allen Ebenen nach dem Vorbild der Kommunen an. Eine Beamtenregierung, eine entpolitisierte Exekutive, dem Einfluß von Parlament und Parteien entzogen, schwebt ihm dabei vor. Volksvertretungen, die er insgesamt zurückgedrängt sehen will, sollten sich auf ihre Kontrollfunktion konzentrieren. An die Spitze wünscht er einen Reichspräsidenten mit diktatorischen Handlungsspielräumen. Verkürzt, aber nicht falsch: Goerdeler strebt nach einer autoritären Staatsform. Ökonomisch sind ihm der Leistungsgedanke und der freie Wettbewerb unabdingbare Richtlinien. Die Sozialversicherung soll vom Staat entkoppelt und der gewerkschaftlichen Selbstverwaltung überlassen werden.
Goerdelers wirtschaftspolitisches Agieren, die Unterstützung der Deflationspolitik, bringt ihm 1931/32 die Berufung zum Reichspreiskommissar ein, ein Amt, welches er 1934/35 noch einmal ausüben wird. Ein Ministeramt in der Regierung Papen lehnt er 1932 ab. 1933 kann er als einer der wenigen Oberbürgermeister im Amt verbleiben, einem ihm angetragenen NSDAP-Beitritt verweigert er sich.
Anfangs davon ausgehend, daß die NS-Machthaber im Sinne seiner Zielsetzungen arbeiten oder sich entsprechend beeinflussen lassen könnten, wobei Goerdeler sich in guter Gesellschaft mit einer Vielzahl der Politiker der Rechten befindet, wandelt er sich in den 1930er Jahren zum Kritiker. 1937 formuliert er, die NSDAP habe die Möglichkeit verspielt,
das hohe Ideal der Lebens- und Arbeitskameradschaft zur Grundlage des Lebens der Nation zu machen und die moralische Führung in einer sich sozial neu ordnenden Welt zu übernehmen.
Die immer weiter außer Kraft gesetzten Rechtsstaatsprinzipien, die seinen Vorstellungen widersprechende Autarkiepolitik und später der selbst in seinen erfolgreichen Phasen von Goerdeler perspektivisch als verhängnisvoll für Deutschland eingeschätzte Krieg treiben ihn zur Opposition und spätestens 1940/41 zum aktiven Widerstand. Gegen die Entrechtung der Juden bezieht er in seinem Amt als Oberbürgermeister wiederholt demonstrativ Stellung. Anlaß seines Rücktritts ist schließlich die gegen seinen ausdrücklichen Willen erfolgte Entfernung des Denkmals des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy.
Goerdeler reist viel, die Briten versucht er vergeblich zu Zusicherungen für die Zeit nach einem erfolgten Staatsstreich zu bewegen. Ebenso vergeblich versucht er Offiziere in Spitzenpositionen wie Generalstabschef Franz Halder oder Generalfeldmarschall Günther von Kluge zum Handeln zu bewegen. Lange hält Goerdeler an Ideen fest, er könne Hitler im Gespräch zur Einsicht bringen oder der von ihm als gemäßigt eingeschätzte Göring könne an der Spitze eines Übergangskabinetts einen Kurswechsel vollziehen.
Substantieller ist Goerdelers enges Zusammenwirken im Widerstand mit dem ehemaligen Generalstabschef Ludwig Beck und dem ehemaligen Botschafter Ulrich von Hassell, die wie er selbst nach einem geglückten Umsturz für hohe Regierungsämter vorgesehen sind. Er ist zuversichtlich und hat nicht immer die Realitäten im Blick. Immer wieder drängt er, etwa im Mai 1943, notfalls für einen Umsturz „den ‚psychologisch richtigen‘ Zeitpunkt zu schaffen“. Zeitgleich lässt er die Briten wissen:
Das deutsche Volk muß und wird sich selbst von einem System befreien, das unter dem Schutz des Terrors ungeheuerliche Verbrechen begeht.
Bis zum Staatsstreich des 20. Juli 1944 wird Goerdeler die ihm zugewachsene Führungsrolle im Widerstand behalten, trotz aller Differenzen, insbesondere in der Schlußphase. Stauffenberg hätte als Reichskanzler den SPD-Politiker Julius Leber bevorzugt.
Bereits seit dem 17. Juli 1944 gesucht, wird Goerdeler am 12. August 1944 festgesetzt. In der Haft resigniert, formuliert er in einem Abschiedsbrief, die Welt möge „unser Märtyrerschicksal als Buße“ für „das deutsche Volk annehmen“. Am 2. Februar 1945 wird er in Berlin-Plötzensee hingerichtet.