Man kann dies die populistische Beschleunigung der nächsten Phase des Trumpismus nennen, in der die milliardenschwere »Tech-Rechte« rund um Elon Musk die globale öffentliche Debatte dominiert.
Hinter Trump, Musk und Co. verschwindet indes in der Wahrnehmung von Freund und Feind das, was man die »zweite Reihe« nennen darf, mithin jene Kräfte im Maschinenraum republikanischer Politik, die nicht nur über den fortwährenden Schlagzeilensprint der exzentrischen Leitfiguren, sondern auch über Legislatur- bzw. Regierungsperioden und gar über Trump und Musk selbst hinausdenken. Es handelt sich dabei zuvorderst um den US-Vizepräsidenten J. D. Vance (Jg. 1984) und seinen Vordenker Patrick J. Deneen (Jg. 1964).
Bei Vance, der in einer Kleinstadt in Ohio geboren wurde, ist die Sache einfach erklärt: Der Jurist legte mit seinem in Millionenauflage verkauften Buch über die Verwerfungen und sozialen Mißstände in seiner Kindheit, der Hillbilly-Elegie, den Soundtrack zur populistischen Revolte der »Somewheres«, der Arbeiter und Kleinbürger in den US-Peripherien, wider die »Anywheres«, die großstädtischen »Eliten« und Einflußgruppen, vor.
Sein nunmehriger deutscher Verlag, Yes Publishing, bewirbt das Buch, das im Original 2016 und in der deutschen Erstübersetzung 2017 erschien, bevor es durch Trumps Comeback in den massenmedialen Fokus geriet und vom Ullstein Verlag abgestoßen wurde, mit dem Verweis darauf, daß dieser Band den »Wahlerfolg von Donald Trump« erklärt. Vance war bei Abfassung des Bandes allerdings ein Gegner Trumps.
Das änderte sich in den Folgejahren, als die divergierenden Kraftzentren in der Grand Old Party mannigfaltigen Prozessen ausgesetzt waren, in deren konfliktreichem Verlauf Vance ins Trump-Lager überging, in das er als geborener Außenseiter ohnehin gehöre. Vance bezeichnet sich als »ulster-schottischen Hillbilly«, als ein amerikanisches Landei nordirisch-schottischer Abstammung. Ethnische Herkunft und Geographie seien zentrale Pfeiler im Lebensweg eines Menschen; sie weisen in vielerlei Hinsicht den Weg.
In der Hillbilly-Elegie ist aus politischer Warte weniger das interessant, was die folkloristischen und lebensweltlichen inneren Spezifika seiner Gesellschaftsschicht in den 1990er Jahren abbildet, als vielmehr das, was Folgen für das äußere Empfinden der vielen Millionen kleinstädtisch geprägten »einfachen« US-Amerikaner zeitigt, was ihnen folglich Identität verleiht.
Da wäre zum einen die permanente Suche nach gut bezahlter Arbeit abseits der eigenen Heimat, verbunden mit Wohnortverlagerungen und Entwurzelungsvorgängen. Vance beschreibt die Problematik des Auspendelns anhand markanter Verkehrsvervielfachung an und nach besonderen Festtagen wie Weihnachten:
Die Autos sind voller verpflanzter Hillbillys, die nach den Feiertagen nach Hause zurückkehren.
In solchen Passagen verschwindet das US-amerikanisch Besondere hinter dem im gesamten »Westen« auffindbaren Allgemeinen: Das Pendeln und das Arbeitsmigrieren sind in Ostdeutschland ein ebenso großes Problem wie in Polen oder Frankreich: Zentrum versus Peripherie. Ansonsten geht es im Buch viel um Empfindungen, um subjektive Erfahrungen von Trauer und der ständigen Prekarität beim Bestreiten des Alltags. Der Glaube erscheint als verbliebene Solidaritätsressource in Zeiten allgemeinen Niedergangs und der omnipräsenten Vereinzelung; das »Gefühl der Entfremdung« herrsche vor, ohne daß die Betroffenen dieses Empfinden objektivieren bzw. rationalisieren können.
Da wäre zum anderen das Verhältnis zwischen »Proletariat« und »Lumpenproletariat«, zwischen denen, die ackern und dennoch monetär verkümmern, und denen, »die von der Großzügigkeit des Staats« leben. Gemeint ist eine zunehmende Kluft, die sich ebenso in der BRD wiederfinden läßt, insbesondere im »Diskurs« rund um Bürgergeld, Konsumprekariat und Lohnabstandsgebot.
Vance vertritt die Interessen der »weißen Arbeiterschicht« und all jener, die im kapitalistischen Normalbetrieb trotz Anstrengung zu kurz kommen oder es so empfinden. Bei ihnen sieht Vance die »Liebe zur Nation« als Kitt; die »Tatsache«, im »großartigsten Land der Welt« zu leben, habe auch ihm selbst »eine Bedeutung gegeben«. Doch dieses Gefühl schwinde aufgrund ökonomischer Aussichtslosigkeit und politischer Distanz zur herrschenden Klasse:
Keine Gruppe in Amerika ist pessimistischer als die der weißen Arbeiter.
Politische Enthaltsamkeit und fehlende Aufbruchshoffnungen sind die Folgen. Auch das kennt man aus deklassierten bzw. gefühlt deklassierten Schichten der Arbeiterklasse sowie der Mittelschichten in Westeuropa: Man organisiert sich nicht; man lebt sein Leben; man kämpft nicht, man läßt geschehen; man sieht nicht den Zusammenhang der Sache, man bekrittelt Einzelsymptome; man analysiert nicht, man fühlt; man handelt nicht, man wartet auf Handelnde.
Dieses Verlagern der Verantwortung auf externe Figuren, in denen sich Entscheidungsfindung und wirkmächtiger Protest gegen »die da oben« bündeln sollen, ist ein bleibendes Paradox des Populismus, und eben hier wächst der Humus für politisches Erlösungsdenken, das derzeit reüssiert: Im Vance-Kontext ist es Trump, der sich erfolgreich zum ermächtigten Sprachrohr dieser Sprachlosen erhoben hat und die gefühlte Macht der Machtlosen in ein vielgliedriges »Project 2025« zu transformieren beabsichtigt, über dessen inhaltliche Substanz freilich auch im Trump zugeneigten Lager Zweifel bestehen.
Zum Trump-affinen Lager, das sich gleichwohl keine Illusionen hinsichtlich der tatsächlichen weltanschaulichen Tiefe zu machen erlaubt, wird man den wichtigsten Vordenker und Vertrauten von J. D. Vance, Patrick J. Deneen, zählen dürfen. Schematisch könnte man es so formulieren: Das, was Vance gefühlsgeleitet und subjektiv darbietet, wird von Deneen rational und objektiv politisiert und vervollständigt.
Deneen stammt aus Connecticut und ist, wie der 2019er Konvertit Vance, katholischen Glaubens. Als Politikwissenschaftler, der an den Universitäten Princeton und Georgetown lehrte, bevor er Aushängeschild der katholischen University of Notre Dame im Bundesstaat Indiana wurde, machte er sich mit Studien wie The Odyssey of Political Theory (2000) und Democratic Faith (2005) lediglich in Fachkreisen einen Namen.
Seinen ideenpolitischen Durchbruch führte erst sein 2018 zum Bestseller werdender Zwitter aus Wissenschaft und Polemik herbei: Warum der Liberalismus gescheitert ist. Deneen zeigt sich darin überzeugt, daß die Auflösung aller Dinge als logische Konsequenz der liberalen Hegemonie zu diagnostizieren ist. Der Liberalismus habe sich unbeschränkt durchgesetzt, was zur Folge habe, daß »die Fundamente unserer ererbten zivilisatorischen Ordnung«, mithin jene »Normen, die in Familien, in Gemeinschaften, durch Religion und Kultur erlernt wurden«, erodieren.
Das Individuum wird zum Maßstab, dem unfiltrierten Zugriff des Marktes und Staates ausgesetzt, fortwährend bereit, sich neu zu erfinden, dabei jeder organisch gewachsenen Gemeinschaft verlustig gehend. Ans Böckenförde-Diktum erinnert Deneens These, daß der Liberalismus so seine eigenen Voraussetzungen abschaffe: »Er ist gescheitert, weil er erfolgreich war«.
Deneen analysiert daraufhin in seinem Werk liberale Glaubensfragmente seit den Zeiten John Lockes; er tut das im klassischen Geleise der Sezession-Lesern (aber nicht US-Amerikanern) vertrauten Liberalismuskritik von Arthur Moeller van den Bruck über Carl Schmitt bis Alain de Benoist, beanstandet anthropologische Erkenntnismängel der Liberalen, skizziert ihr falsches Menschenbild (»abstrakte Individuen an abstrakten Orten«), weshalb eine integrale Darbietung an dieser Stelle nicht nötig sein dürfte.
Auch seine Benoist-idente Parallelisierung von Marktliberalismus und Linksliberalismus, die kulturell andere Ideologiebausteine vertreten, aber nicht substantiell voneinander abweichen, ist nicht neu. Im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung betont er etwa, daß beide großen Formen des Liberalismus »nur anscheinend konkurrieren« und so das »liberale Regime« festigen. Populismus sei nun eine »Revolte gegen die kapitalistische Revolution« beider Liberalismen, und deren aktuell virulente »woke« Form beruhe auf einem »falschen Bewußtsein«, das nicht das »Proletariat«, sondern die »Bourgeoisie« erfaßt habe.
Als origineller hervorzuheben, zumal für einen Vertrauten des US-Vizepräsidenten, ist, daß Deneen künftige US-Entscheider davor warnt, diese vom Liberalismus verursachten Probleme durch mehr Liberalismus kurieren zu wollen. Denn der
Ruf nach einer liberalen Kur für die Gebrechen des Liberalismus bedeutet, Gas in ein loderndes Feuer zu blasen.
Gegenüber der »kalten« und »mechanisierten Welt des Liberalismus« müßte eine »organische Alternative« entwickelt werden, die Vor-Ort-Gemeinschaften, Religion, Familie und Gemeinwohlstreben in den Fokus stellt. Man fragt sich, wie Deneen das mit Trump, Musk et al. anvisieren zu können glaubt, zumal er in seinen Handlungsempfehlungen darauf Bezug nimmt, daß eine jede Person
die Minimierung der eigenen Beteiligung an der abstrakten und gesichtslosen modernen Wirtschaft
betreiben sollte. Daran anknüpfend: Wie möchte Deneen eine solche »Befreiung vom Liberalismus selbst« durchsetzen mit transhumanistischen Turboliberalen, die ökonomische Wachstumsfragen und entfesseltes Profitstreben als Veredelung des Mensch-Seins begreifen? Das wäre eine Frage für kommende Bücher oder Interviews, weil Deneen auch in seinem nicht minder erfolgreichen Anschlußband, Regime Change, bei dessen Präsentation J. D. Vance Ehrengast war, diese Frage umschifft.
Dort heißt es, seine Ziele für das postliberale Zeitalter seien »Stabilität, Ordnung, Kontinuität«; erreichen wolle er dies durch eine »Neue Rechte«, die »sich ökonomisch ›nach links‹ bewege«, während sie sich in kulturellen und identitären Fragen unumstößlich für »Familie, Gemeinschaft, Kirche und Nation« positioniere. Es gehe darum, »linke« Formen der Gemeinwohlwirtschaft mit »rechten« Formen der Werte und Normen zu kombinieren. Der Cicero nannte diese Synthese aus wirtschafts- und sozialpolitischem Linksruck und kulturpolitischem Rechtsruck eine realpolitische »Gewinnerformel«, Deneen nennt diese Kombination kurzerhand »Gemeinwohlkonservatismus« – in Abgrenzung zum bis dato dominierenden »amerikanischen Konservatismus«, der als marktförmige individualistische Ideologie nichts anderes als »eine Form des Liberalismus« darstelle.
Ein antiliberaler Gemeinwohlkonservatismus sei folglich zu implementieren, um den Liberalismus fundamental abzulösen und um das Volk und die (wahre) Elite neu zu versöhnen im Zeichen einer »gemischten Verfassung«, die mehr »Harmonie« zu schaffen habe. Das Fernziel bestehe darin, die volksfernen Machteliten des Jetzt durch eine »bessere Elitenform« von morgen zu ersetzen, durch echte aristoi, echte »Bessere«.
Diese Synthese aus einem von unten (durch kommunitaristische und christliche Werte) verbesserten Volk und einer handlungsfähigen, verantwortungsvollen und ebenso christlichen Elite nennt Deneen »Aristopopulismus«. Er beinhalte die Verschmelzung der Mythen des »einfachen« Volkes mit der Fürsorgepflicht sittlich grunderneuerter Eliten, um Form und Würde wieder zur Geltung zu verhelfen.
Die Zeit nennt diese Konstruktion des Aristopopulismus nicht nur »Gemeinwohl mit rechtsautoritärem Spin«, sondern auch die Verbindung »klassischer Themen der Kapitalismus-Kritik mit ultrakonservativen Vorstellungen«. Auf Dauer, so läßt Zeit-Autor Peter Neumann anklingen, würden sich indes »J. D. Vance und sein Mastermind Patrick Deneen« mit »dem schmutzigen Politiktheater Donald Trumps« durchaus »nicht zufriedengeben«, sondern weitersuchen.
Aber was? Patrick J. Deneen sieht uns in einer Übergangsphase, in einer »postliberalen Ära«. Trumps Wahl habe gezeigt, daß sich die »liberale Mitte« überlebt habe, während ihre linke Flanke, die »progressive Linke«, eine »hochgradig isolierte ideologische Blase« sei. Trumps Stil und Ideen bewertet Deneen dabei neuerdings positiver als noch 2023. Er habe linke und rechte Elemente versöhnt, namentlich
kulturelle Werte der Republikaner mit den älteren wirtschaftlichen Verpflichtungen der Demokraten.
Er nennt das im Cicero zwar nicht, wie einst an gleicher Stelle Timo Lochocki, die »Gewinnerformel«, sehr wohl aber eine »gewinnbringende Kombination«. Kein Zweifel besteht nichtsdestoweniger daran, daß seine Loyalität J. D. Vance gehört und nicht Donald Trump: Vance sei ein »neugieriger und intellektuell versierter Mensch«, ein »unersättlicher Leser« und bei »progressiven Linken« und »libertären Rechten« aus guten Gründen »gleichermaßen unbeliebt«.
Die Gründe lägen darin, daß seine Weltanschauung »nicht durch den Kalten Krieg« und dessen überholte Dichotomien »geprägt wurde«, sondern durch Katholizismus und Kommunitarismus. Die Rettung komme also nicht von Trump. Doch seien die kommenden vier Jahre eine »Periode der Zähmung und sogar des Abbaus progressiver Macht«, also eine Art Interregnum, um den bisher hegemonialen Linksliberalismus zurückzudrängen und zu überwinden. Die danach notwendige »umfassendere, positivere Neuformulierung der amerikanischen politischen Ordnung« könne hingegen erst erfolgen, wenn Trumps Nachfolger in der Lage seien, »eine oder zwei weitere Präsidentschaftswahlen zu gewinnen«: Trump als Zwischenschritt.
Die dafür nötige zweite Reihe, die einst die erste werden soll – birgt sie mehr Leitwölfe als Deneen und Vance, und falls ja, steht sie für derlei Ideen überhaupt bereit? Die entscheidende Frage bleibt dementsprechend: Wie und mit wem will sich Patrick J. Deneen gegen den »falschen« Mainstream-Konservatismus durchsetzen, den er als marktideologisch und »oligarchenfinanziert« verwirft? Zumal dieser (korrekte) Vorwurf ironisch zurückzuschlagen droht, wenn man bedenkt, wie stark Donald Trump und Ex-Peter-Thiel-Mitarbeiter J. D. Vance mit Elon Musk und anderen Big-Tech-Oligarchen interagieren. Nils Wegner spottet auch deshalb, daß selbst der »konservativste US-Amerikaner unterm Strich nur ein Liberaler sein kann«.
Am Ende einer realistischen Lageeinschätzung ob der Deneenschen Wirkungsmacht steht daher die Prognose, daß sich idealistischer Geist gegen materialistische Macht weiterhin schwertun dürfte. Weltanschaulich rückgebundene Theorien bedürfen eines praxistauglichen Bodens – aber in den USA der Epoche Trump / Musk ist man stärker an der Mars-Erkundung als an einer kommunitaristischen Vision von Verwurzelung und Selbstbeschränkung interessiert. Patrick J. Deneens Impulse zeigen aber, daß der Kampf auf verlorenem Posten auch jenseits des großen Teiches gehaltvoll geführt werden kann.
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Maiordomus
Das Scheitern des sog. amerikanischen "Liberalism", in Wirklichkeit ein woker "Leftism", war schon vor über 70 Jahren von dem intellektuell den im Artikel genannten überlegenen Ex-Linken James Burnham, auch erster Analytiker der Managerkrankheit und soziologischerr Analytiker der Managerklasse, vgl. noch Millers "Tod des Handlungsreisenden", analysiert und vorausgesagt, und zwar als Ideologie des westlichen Selbstmordes. Deswegen hiess das wichtigste Buch, nebst den Hauptwerken Kierkegaards, das ich 1965 las, "Begeht der Westen Selbstmord?" von James Burnham, dessen einzige Schlagseite die noch seit McCarty zu grosse Angst vor dem Kommunismus war, vor dem damals natürlich auch der James Buckley-Adlatus und Kennedy-Kritiker William S. Schlamm fortdauernd warnte, dessen beste Bücher indes bis heute "Die Diktatur der Lüge" über die unglaublichen Parallelitäten von Faschismus und damaligem Kommunismus waren sowie "Die Grenzen des Wunders", bedeutende Kritik an Wirtschaftswundermentalität, sowie die "Jungen Herren der Alten Erde" (1962), eine Warnung vor dem dann ab 1968 ausbrechenden "linksprogressiven" Jugendkult, mit den sich damals ausbreitenden, bis heute Schaden anrichtenden Ideologemen, zu denen auch die sog. sexuelle Revolution gehörte. Immerhin hatte schon Röpke 1957 aus konservativ-neoliberaler Warte für weltweite Geburtenkontrolle plädiert, mit Hinweis andernfalls auf die unterdessen eingetretenen demografischen Folgen.