Zunächst die Chronik der frühen, in der Erinnerung aquarellierten Sinneseindrücke, all die Bilder, Gerüche, Stimmungen, die in mich hineingingen – Kunde der Welt, in der ich mich fand, gar wiederfand. Ferner die das Leben begleitende Hintergrundstrahlung der bedingungslosen Liebe durch die Eltern, dieser Grundsicherheit des Schutzes, derer wir – je früher, je mehr – alle bedürfen und deren Mangel wie Übermaß unser Leben schon zu dessen Beginn auf- oder verschließt.
Je älter ich werde, um so wunderbarer einerseits, um so zweifelhafter andererseits erscheint es mir, daß ich selbst es war, der vor einem halben Jahrhundert morgens die Hähne, nachts die Waldohreulen in dem randlagigen Dorf meiner Prignitzer Heimat gehört haben soll – und bei Westwind die Züge der „Großbahn“, die auf der Strecke Berlin-Hamburg die Löcknitz querte, über eine backsteinerne Brücke, an der ich später Hechte blinkerte, wobei mich die fremden Passagiere beim Blick aus dem „Interzonenzug“ kurz gesehen haben mögen – einen Jungen im Pullover mit Angel am Fluß.
Der kleine Radius der allerersten Jahre enthielt alles, was es für ein später ausgreifendes Leben brauchte.
Mein Ich ist über das Sinnliche hinaus vor allem bestimmt von der Sprache. Als ich vermutlich noch nichts Begriffliches verstand, sang meine Mutter mir vor, sagte sie ganze Balladen auf, rezitierte Wilhelm Busch, und ich sprach ihr unwillkürlich nach, eher dem Rhythmus folgend als der Bedeutung. Sprache als Melodie, noch nicht als Fülle ihrer Zeichen.
Die vermittelte schließlich meine Grundschullehrerin Lisa Peter, vor sechsunddreißig Kindern einer DDR-Dorfschulklasse. Noch unbedacht fand es jeder von uns faszinierend, daß man Gedachtes und Gemeintes nun aufschreiben konnte. Ein quasisakraler Akt hohen Ernstes, den Dingen, Gedanken, Ängsten und Hoffnungen nicht nur Namen und Ausdruck geben, sondern sie in geschwungen verbundenen Zeichen festhalten, bewahren, weitergeben zu können – vom Einkaufszettel bis zu Briefen oder dem heimlich geführten Tagebuch.
Lesen und schreiben zu lernen erspürten wir einfachen Dorfkinder als Einweihungsakt in Kultur. Am Ende der ersten Klasse kannten wir das gesamte Alphabet, lasen und schrieben anfängerhaft, aber stabil und schlossen damit ganz unwillkürlich an geistiges Erbe an.
Über meine Physis und meine klaren wie unklaren Gestimmtheiten hinaus bin ich jedenfalls Sprache, und zwar zuerst deutsche Sprache, in der immer mitklingt, was meine früheren Landsleute gedacht, gesprochen, gesungen und geschrieben haben. Mangels Talent könnte ich nie in eine andere Sprache emigrieren; polyglott bin ich gar nicht, daher bedarf ich nach wie vor jener Sprache und Zeichen, die mich Eltern und Schule lehrten. Schon deswegen bin ich im Deutschen zu Hause und ansonsten überall nur still verzagter Gast.
Als ich später selbst Deutsch unterrichtete und mitunter, um in Vertretungsstunden nicht zu langweilen, gern mal Sütterlinschrift vermittelte, dachte ich dran: Es war immer, als hörte man die Alten und Altvorderen mit. Nein, nicht nur Goethe, Heine und Mann, sondern all die Großmütter und Großväter, die alten Dörfler und jene, die längst verstorben waren und vor uns, grundsätzlich aber wie wir gefühlt, gedacht, geschrieben hatten.
Ich führe bis heute parallel zwei Tagebücher – eine Art Logbuch, als umgekehrten, als erinnernden Kalender, in dem ich protokolliere, was faktisch geschehen ist, und ein unliniertes Buch, in dem ich meinen Eindrücken und Gedanken in umfassender Schriftgestalt Ausdruck zu geben versuche.
So zu verfahren, Geschehenes und Gefühltes aufzuschreiben, sichert mir mindestens die Illusion, es festhalten zu können, obwohl letztlich alles verloren wird und vergeht. Wir selbst sind so fragil, daß uns jede geschriebene Zeile, jeder bekritzelte Zettel überleben wird. Aber eben darum: Meine Notizen bleiben von mir, sonst nichts.
Wenn aus der Vergangenheit, so sehr sie mich bestimmte, nichts bleibt außer Gräber, Artefakte, beschriebenes Papier und neuerdings noch all der brüchige Digitalkram in der Cloud, und wenn meine wie überhaupt alle Zukunft vage und der dramatischen Kontingenz unterworfen ist, so kann ich, sollte ich gerade nicht an die Heutigkeit verloren und darin verirrt sein.
Was aber dann? Es bleibt nur die Übung, aus dem zu leben, was uns alle übersteigt und schon vor unserer Geburt überstiegen hat, was immer das nun sei. Es ist aber, denn sonst wären wir nicht. Dafür ein geistiges Organ, gar einen geistigen Organismus zu entwickeln gibt Sinn, Gelassenheit und eine Ahnung von Übersicht.
Ob man dafür Gottesdienste feiert, einen Zen-Garten harkt, auf dem Balkon eines Plattenbaus meditiert oder in einem anthroposophischen Lesekreis Zugang zum Geistigen sucht, wird sich finden, wenn man nur nicht egoistisch verfährt, sich nicht für den Nabel der Welt (Was für ein häßliches Bild doch!) hält und mindestens gelernt hat, sich nicht in den kleinen ökonomischen und politischen Geschäften zu verrennen. Selbst wer sich nur irgendwie in Intuition übt und dem Unaussprechlichen Raum läßt, hat schon das bloß Profane überschritten.
Notfalls reicht Schopenhauers „Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich“, das 41. Kapitel des zweiten Bandes von „Die Welt als Wille und Vorstellung“.
Unser Überleben ist grundiert von Notdurft. Der kleinen Geschäfte und billigen Machenschaften bedürfen wir also, um irgendwie unsere physischen Bedürftigkeiten zu regeln und sie zeitweilig zu befriedigen, aber wer sich daran verliert und diese Kinkerlitzchen für das Eigentliche hält, der ist selbst verloren.
Interessant aber, wie sich diese technischen Notwendigkeiten des Notdürftigen eigendynamisch immer mehr aufblähen, wie sie uns gestrüppartig einwuchern und einspinnen. Dazu all die hysterischen Verlautbarungen, Posts und Heilsbotschaften, die über „social media“ und das „Netz“ in einer Fülle verteilt werden, so daß die sie permanent verarbeitenden Rechenzentren glühen und stetiger Kühlung bedürfen.
Phänomenal, wie wir, auch ich selbst, in all dem Gewäsch mit eigenem Gewese mitzuhalten versuchen und zu all den Meldungen noch unsere hinzumelden, zumal das tagtäglich in „Echtzeit“ möglich ist und jeder, der nur eine Tastatur zu bedienen versteht, ganz ohne vorgeschaltete Redaktion Print produziert. Was für eine Inflation an „Publizistik“ doch!
Aber genau deswegen will es mir immer tragikomischer erscheinen, mit welcher Erwecktheit sich „die Massen“ ein Heil, ein Ziel, einen Sinn, ja gar Erlösung etwa von der Politik der einen oder anderen Richtung versprechen, wie sie meinen können, ein richtig gutes Werk zu tun, wenn sie das Gesicht des einen oder des anderen als Wahlplakat mit Kabelbindern an die Laternen der Magistralen schnallen.
Ja, eingestanden, es funktioniert nicht anders, und es macht – zeitweise – einen Unterschied, ob dieses Gesicht oder ein anderes über unsere alltäglichen Geschicke bestimmt. Überzeugt davon sind ja zuallererst jene, deren grinsende Konterfeis gerade plakativ an die Laternenmasten gehängt werden und die sich darüber freuen, so geklont vervielfältigt dort zu hängen, weil sie sich sicher wähnen, das genau Richtige zu personifizieren. Was für eine Menge doch an vermeintlich genau Richtigem …
Dieses genau Richtige gibt es nicht, es ist mit keiner eifernd beschworenen Richtung und „Richtungswahl“ ein sicheres Telos denkbar. Wir laufen nicht auf ein gut zu bestimmendes Endziel zu, jedenfalls nicht in dieser Welt.
Wer das verspricht, hat entweder das Wesentlichste unseres Daseins nicht verstanden oder er ist ein Verführer, ein kleiner oder großer falscher Prophet, meist aus eigenen, nicht selten narzißtischen Motiven, die folglich uns andere nichts angehen und denen wir nicht folgen müssen.
Es bedarf nicht unbedingt der großen Geschwister Philosophie und Theologie, obwohl beide alles für Sinn und Unsinn bereithalten, es bedarf nicht unbedingt der Bibelfestigkeit oder der Kenntnis dieser und jener Autoren und Schriften, denn:
Die sogenannten einfachen Menschen haben von jeher ihre eigenen Varianten von Metaphysik, Glauben und Mystik entwickelt. Und ihre Worte dafür gefunden, um so der transzendentaler Obdachlosigkeit zu entgehen. Allein davon kann man nicht leben, völlig klar, aber man kann – umgekehrt – noch weniger ohne religiöse oder geistige Behaustheit leben, weil wir hienieden zwar recht und schlecht klarzukommen haben, es aber letztlich keine Sicherheit, keine Heimat, keinen Schutz gibt, schon gar nicht in irgendwelchen politischen Vereinbarungen, die eben keinerlei Ewigkeitsgarantie versprechen können, obwohl sie genau das gern und dreist beschwören.
Politik kann günstigenfalls mit dem Nötigsten versorgen, nie aber mit dem Eigentlichen. Als Menschen zwar Naturwesen, gehören wir schon der natürlichen Welt nicht ganz an, der politischen erst recht nicht.
Mit meinem Herkommen aus einem Prignitzer Dorf, einer kleinen Kuhblöke, wie es im Brandenburgischen heißt, bin ich höchst zufrieden, sind’s doch meine Wurzeln, die ganz natürlich zu mir passen. Hier genau liegt meine Identität. Ich blieb ein neugierig staunendes Dorfkind.
Meine Worte festhalten und daher selbst immer wieder neu bedenken und mitteilen zu können, so kritisch wie demütig, auf daß andere hinwiederum etwas dazu sagen, ist die einzige Chance im verdammten Wagnis der Lebenswanderung.
Und daß ich sicher weiß, nicht allein aus meinem Selbst und dem, was ihm politisch so eingeblasen wird, leben zu können, sondern aus einem alles Faßbare übersteigenden Ganzen heraus, das in Momenten der Gnade selbst Zeichen zu geben scheint und sich dann und wann, da und dort entbirgt, ist meine einzige Hoffnung, aber gleichfalls eine geradezu wärmende Sicherheit.
Blue Angel
Danke für diesen wunderschönen Text.