Soziale Gerechtigkeit

pdf der Druckfassung aus Sezession 8 / Januar 2005

sez_nr_8von Martin Hoschützky

Im Schatten von Hartz IV hat die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit wieder Hochkonjunktur, handelt es sich doch bei der sozialen Gerechtigkeit um einen Begriff, der ohne Abstriche als identitätsstiftend für die Bundesrepublik bezeichnet werden kann. Und dieser taugte um so mehr zum großen bundesrepublikanischen Leitstern, je lauter die Wirtschaftswissenschaft ihre Kritik an der Idee des Staatsinterventionismus zu äußern begann und je deutlicher wirtschaftsliberale Vorstellungen in Form der Reaganomics und des Thatcherism Konturen annahmen. Sich von derlei Denken im Namen der sozialen Gerechtigkeit zu distanzieren, fiel der deutschen Politik leicht, denn die Neoliberalen berufen sich bei ihren Modellen häufig auf Friedrich von Hayek.

Nach der Leh­re des Erneue­rers der klas­si­schen libe­ra­len Tra­di­ti­on kann eine auf Ange­bot und Nach­fra­ge reagie­ren­de Wirt­schafts­ord­nung bes­ser als ande­re Sys­te­me die Bedürf­nis­se der Men­schen befrie­di­gen und einen all­ge­mei­nen Wohl­stand schaf­fen, weil sie die Fähig­kei­ten der Ein­zel­nen akti­viert. Hay­ek schloß eine Unter­stüt­zung der Men­schen, die am Markt aus eige­ner Kraft kein zum Leben aus­rei­chen­des Ein­kom­men erzie­len kön­nen, nicht gene­rell aus, aber im Grund­satz sah er die Gerech­tig­keit allein im Bereich der per­sön­li­chen Tugen­den ange­sie­delt. Des­halb kön­ne die Kate­go­rie der Gerech­tig­keit nur auf mensch­li­che Hand­lun­gen ange­wandt wer­den, nicht aber auf einen unper­sön­li­chen Evo­lu­ti­ons­pro­zeß, auf eine selbst­ge­ne­rie­ren­de Ord­nung, wie sie der dezen­tra­li­sier­te Markt dar­stel­le. Da das Markt­mo­dell nicht bewußt gesteu­ert wer­de, feh­le letzt­lich eine Instanz, die für ein gerech­tes oder unge­rech­tes Ver­tei­lungs­er­geb­nis ver­ant­wort­lich zu machen sei. Hin­ter der Wei­ge­rung, die Unan­wend­bar­keit des Begriffs der sozia­len Gerech­tig­keit auf die Markt­ord­nung ein­se­hen zu wol­len, ver­mu­te­te Hay­ek die Absicht von Inter­es­sen­grup­pen, in eige­ner Sache mit Hil­fe die­ses „nichts­sa­gen­den Begriffs“ Son­der­an­sprü­che und Pri­vi­le­gi­en zu recht­fer­ti­gen und Wider­sa­cher ins mora­li­sche Abseits zu stellen.
Die der­zeit geführ­te Gerech­tig­keits­de­bat­te bestä­tigt die­se Ver­mu­tung, erkenn­bar an den Fra­ge­stel­lun­gen, die die Dis­kus­si­on um Hartz IV bestim­men. Die Betrof­fe­nen geben sich als Ver­tei­di­ger der sozia­len Gerech­tig­keit aus und monie­ren bei­spiels­wei­se den Über­gang von der am frü­he­ren Net­to­lohn ori­en­tier­ten Arbeits­lo­sen­hil­fe zum neu­en, die Grund­si­che­rung gewäh­ren­den Arbeits­lo­sen­geld II (ALG II). Doch sie stel­len nicht die Fra­ge, ob die bis­he­ri­ge Rege­lung, also der Anspruch auf eine steu­er­fi­nan­zier­te, zeit­lich unbe­fris­te­te Arbeits­lo­sen­hil­fe, die über dem Exis­tenz­mi­ni­mum lie­gen konn­te, sozi­al gerech­ter war oder nur groß­zü­gi­ger Steu­er­gel­der ver­teil­te. Es wird die „Unge­rech­tig­keit“ beklagt, daß auf vor­han­de­ne Ver­mö­gen zurück­ge­grif­fen wer­den muß, bevor ALG II gezahlt wird, und daß der Ali­men­tier­te sei­ne Arbeits­kraft dem Staat oder einer gemein­nüt­zi­gen Ein­rich­tung für einen Euro Auf­wands­ent­schä­di­gung pro Stun­de plus ALG II zur Ver­fü­gung zu stel­len hat; es wird nicht the­ma­ti­siert, ob es des einen Euros bedarf, um dem Unter­stüt­zungs­emp­fän­ger eine Gegen­leis­tung abver­lan­gen zu können.
Der­lei gestell­te und aus­ge­blen­de­te Fra­gen zei­gen an, wel­chen Weg der Begriff der sozia­len Gerech­tig­keit von sei­ner Ent­ste­hung bis in den bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen All­tag der Gegen­wart genom­men hat. Anknüp­fend an Gerech­tig­keits­über­le­gun­gen bei Aris­to­te­les und Tho­mas von Aquin ent­wi­ckel­te die Katho­li­sche Sozi­al­leh­re unter dem Ein­druck des tief­grei­fen­den öko­no­mi­schen und gesell­schaft­li­chen Wan­dels Mit­te des 19. Jahr­hun­derts Grund­sät­ze für eine gerech­te Sozi­al­ord­nung. Dazu wur­de die in der Sphä­re der Ethik ver­an­ker­te Tugend der Gerech­tig­keit zum Ord­nungs­prin­zip erho­ben. Sozia­le Gerech­tig­keit wur­de als kon­tri­bu­ti­ve Gerech­tig­keit ver­stan­den und im Rah­men und unter Wah­rung des Sub­si­dia­ri­täts­prin­zips zur Auf­ga­be des Staa­tes; die­ser übt sozia­le Gerech­tig­keit, wenn er jedem das Sei­ne – suum cui­que – zukom­men läßt. Er gibt dem ein­zel­nen die Chan­ce der Teil­nah­me am gesell­schaft­li­chen Leben; im Gegen­zug hat der Mensch „die Pflicht zu akti­ver und pro­duk­ti­ver Teil­nah­me am Gesell­schafts­le­ben“, wie es der Wirt­schaft­shir­ten­brief der nord­ame­ri­ka­ni­schen Bischö­fe von 1986 formuliert.

Die­ses Denk­ge­bäu­de setzt einen spe­zi­fi­schen Kanon von Tugen­den und Wer­ten vor­aus, der sich unter dem Ein­druck des ste­tig wach­sen­den Sozi­al­pro­dukts zu ver­flüch­ti­gen begann – durch­aus mit Ein­ver­ständ­nis aller Betrof­fe­nen. Der Staat maß­te sich an, die sozia­le Gerech­tig­keit defi­nie­ren und ver­wirk­li­chen zu kön­nen, indem er die Zutei­lung von immer mehr mate­ri­el­len Gütern zum Inbe­griff einer immer grö­ße­ren sozia­len Gerech­tig­keit erhob. Er ent­wi­ckel­te sich zum rie­si­gen welt­li­chen Umver­tei­lungs­mo­loch, zog dar­aus sei­ne Legi­ti­ma­ti­on und schuf sich gleich­zei­tig eine von ihm abhän­gi­ges Kli­en­tel der Betreu­ten und Ali­men­tier­ten. Die­se erfreu­ten sich an Leis­tun­gen ohne Gegen­leis­tun­gen, intel­lek­tu­ell unter­stützt von Theo­re­ti­kern der Bür­ger­ge­sell­schaft, die wie Ralf Dah­ren­dorf für benach­tei­lig­te Grup­pen sozia­le und öko­no­mi­sche Ange­bo­te und Rechts­an­sprü­che auf­häuf­ten, um allen Bür­gern die umfas­sen­de Par­ti­zi­pa­ti­on an der Gesell­schaft zu garan­tie­ren. Die „Nor­mal­bür­ger“ hat­ten zwar immer höhe­re Abga­ben und Steu­ern zu ent­rich­ten, aber im Gegen­zug konn­ten sie beim eige­nen Han­deln unbe­sorgt die Tugend der Gerech­tig­keit außer acht las­sen, schließ­lich sorg­te ja der Staat für den Aus­gleich bei den Opfern des untu­gend­haf­ten Verhaltens.
Die zwangs­läu­fi­ge Kon­se­quenz die­ser Ent­wick­lung ist eine von Ethos und Ethik los­ge­lös­te sozia­le Gerech­tig­keit, die als Ord­nungs­prin­zip von der kon­tri­bu­ti­ven zur öko­no­mi­schen Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit mutiert und sich am Ende selbst über­for­dert. Die Leis­tungs­be­reit­schaft der Net­to­zah­ler wird über­be­an­sprucht, die Leis­tungs­emp­fän­ger ver­lie­ren den Antrieb zur Selbst­hil­fe; und dem Staat feh­len, nach­dem er eini­ge Zeit den Weg der Ver­schul­dungs­po­li­tik gehen konn­te, bei sta­gnie­ren­der Wirt­schafts­ent­wick­lung die finan­zi­el­len Mit­tel zum Erhalt des Sozialleistungsniveaus.
Wie in die­ser Situa­ti­on reagie­ren? Ein Aus­weg wäre der Abschied von der sozia­len Gerech­tig­keit. Ohne­hin bei den Bür­gern als Tugend nicht mehr son­der­lich geschätzt, wenn sie dem Errei­chen des eige­nen Vor­teils im Wege steht, könn­te sie durch eine neo­rea­lis­ti­sche Sicht­wei­se ersetzt wer­den, bei der allein Kos­ten-Nut­zen-Erwä­gun­gen den Aus­schlag für die Gewäh­rung oder Ver­wei­ge­rung sozia­ler Leis­tun­gen geben. Dann streicht der Staat dort Anrech­te zusam­men, wo die Betrof­fe­nen schlecht orga­ni­siert sind und kei­ne sozia­len Fol­ge­kos­ten pro­du­zie­ren kön­nen, wäh­rend sozia­le Grup­pen, aus­ge­stat­tet mit exklu­si­vem Zugang zu den poli­ti­schen Ent­schei­dern oder mit der Fähig­keit zur Bedro­hung des sozia­len Frie­dens, staat­li­che Zuwen­dun­gen erhalten.
Als Alter­na­ti­ve zu die­ser, die Gesell­schaft der ego­is­ti­schen Grup­pen wider­spie­geln­den und das Desta­bi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al prä­mie­ren­den Sozi­al­ord­nung bie­tet sich die Reak­ti­vie­rung der kon­tri­bu­ti­ven Gerech­tig­keit an. In die­sem Sin­ne wird Bun­des­kanz­ler Schrö­der in letz­ter Zeit nicht müde, für eine „neue Balan­ce zwi­schen Soli­da­ri­tät und Eigen­ver­ant­wort­lich­keit“ zu wer­ben. Er pran­gert die all­ge­mei­ne Mit­nah­me­men­ta­li­tät und das Anspruchs­den­ken an. In einem Bei­trag zur Auf­satz­samm­lung Ende der Soli­da­ri­tät? (hrsg. von Kon­rad Deu­fel, Frei­burg 2003) warnt er vor dem „Irr­tum, daß ‚mehr Staat‘ auto­ma­tisch mehr Gerech­tig­keit orga­ni­sie­ren kön­ne,“ und sieht die sozia­le Gerech­tig­keit im Prin­zip des „För­derns und For­derns“ rea­li­siert, „das im Kern besagt: Jeder hat das Recht auf Ver­wirk­li­chung sei­ner Lebens­chan­cen. Aber die­sem Recht ent­spricht auch die Pflicht, die­se Chan­cen wahr­zu­neh­men und das Gemein­wohl zu stärken.“
Dem Kanz­ler scheint bewußt zu wer­den, daß der­lei Mah­nun­gen und Appel­le nur dann nicht wir­kungs­los ver­hal­len, wenn ihnen adäqua­te Wer­te und Tugen­den zur Sei­te ste­hen, daß ein Zusam­men­hang zwi­schen der sozia­len Gerech­tig­keit als Ord­nungs­prin­zip und den geleb­ten Tugen­den besteht. Zur Rekon­struk­ti­on des Gleich­ge­wichts zwi­schen Soli­da­ri­tät, Sub­si­dia­ri­tät und Gemein­wohl bedarf es der Red­lich­keit, der Leis­tungs­be­reit­schaft und des Pflicht­be­wußt­seins der Bür­ger. Ent­spre­chend fin­det der Bun­des­kanz­ler loben­de Wor­te über „deut­sche Tugen­den“. Er sucht nach einer ethi­schen Fun­die­rung des Sozi­al­staats und stößt auf Tugen­den, die man als christ­lich oder preu­ßisch bezeich­nen kann und ver­schüt­tet wur­den. Wer­den sie nach dem „Ende des sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Jahr­hun­derts“ (Ralf Dah­ren­dorf) wie­der zur Gel­tung kom­men? Wer wäre geeig­ne­ter als ein sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Bun­des­kanz­ler, die­se Fra­ge zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts zu stellen?

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