Nach der Lehre des Erneuerers der klassischen liberalen Tradition kann eine auf Angebot und Nachfrage reagierende Wirtschaftsordnung besser als andere Systeme die Bedürfnisse der Menschen befriedigen und einen allgemeinen Wohlstand schaffen, weil sie die Fähigkeiten der Einzelnen aktiviert. Hayek schloß eine Unterstützung der Menschen, die am Markt aus eigener Kraft kein zum Leben ausreichendes Einkommen erzielen können, nicht generell aus, aber im Grundsatz sah er die Gerechtigkeit allein im Bereich der persönlichen Tugenden angesiedelt. Deshalb könne die Kategorie der Gerechtigkeit nur auf menschliche Handlungen angewandt werden, nicht aber auf einen unpersönlichen Evolutionsprozeß, auf eine selbstgenerierende Ordnung, wie sie der dezentralisierte Markt darstelle. Da das Marktmodell nicht bewußt gesteuert werde, fehle letztlich eine Instanz, die für ein gerechtes oder ungerechtes Verteilungsergebnis verantwortlich zu machen sei. Hinter der Weigerung, die Unanwendbarkeit des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit auf die Marktordnung einsehen zu wollen, vermutete Hayek die Absicht von Interessengruppen, in eigener Sache mit Hilfe dieses „nichtssagenden Begriffs“ Sonderansprüche und Privilegien zu rechtfertigen und Widersacher ins moralische Abseits zu stellen.
Die derzeit geführte Gerechtigkeitsdebatte bestätigt diese Vermutung, erkennbar an den Fragestellungen, die die Diskussion um Hartz IV bestimmen. Die Betroffenen geben sich als Verteidiger der sozialen Gerechtigkeit aus und monieren beispielsweise den Übergang von der am früheren Nettolohn orientierten Arbeitslosenhilfe zum neuen, die Grundsicherung gewährenden Arbeitslosengeld II (ALG II). Doch sie stellen nicht die Frage, ob die bisherige Regelung, also der Anspruch auf eine steuerfinanzierte, zeitlich unbefristete Arbeitslosenhilfe, die über dem Existenzminimum liegen konnte, sozial gerechter war oder nur großzügiger Steuergelder verteilte. Es wird die „Ungerechtigkeit“ beklagt, daß auf vorhandene Vermögen zurückgegriffen werden muß, bevor ALG II gezahlt wird, und daß der Alimentierte seine Arbeitskraft dem Staat oder einer gemeinnützigen Einrichtung für einen Euro Aufwandsentschädigung pro Stunde plus ALG II zur Verfügung zu stellen hat; es wird nicht thematisiert, ob es des einen Euros bedarf, um dem Unterstützungsempfänger eine Gegenleistung abverlangen zu können.
Derlei gestellte und ausgeblendete Fragen zeigen an, welchen Weg der Begriff der sozialen Gerechtigkeit von seiner Entstehung bis in den bundesrepublikanischen Alltag der Gegenwart genommen hat. Anknüpfend an Gerechtigkeitsüberlegungen bei Aristoteles und Thomas von Aquin entwickelte die Katholische Soziallehre unter dem Eindruck des tiefgreifenden ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels Mitte des 19. Jahrhunderts Grundsätze für eine gerechte Sozialordnung. Dazu wurde die in der Sphäre der Ethik verankerte Tugend der Gerechtigkeit zum Ordnungsprinzip erhoben. Soziale Gerechtigkeit wurde als kontributive Gerechtigkeit verstanden und im Rahmen und unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips zur Aufgabe des Staates; dieser übt soziale Gerechtigkeit, wenn er jedem das Seine – suum cuique – zukommen läßt. Er gibt dem einzelnen die Chance der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben; im Gegenzug hat der Mensch „die Pflicht zu aktiver und produktiver Teilnahme am Gesellschaftsleben“, wie es der Wirtschaftshirtenbrief der nordamerikanischen Bischöfe von 1986 formuliert.
Dieses Denkgebäude setzt einen spezifischen Kanon von Tugenden und Werten voraus, der sich unter dem Eindruck des stetig wachsenden Sozialprodukts zu verflüchtigen begann – durchaus mit Einverständnis aller Betroffenen. Der Staat maßte sich an, die soziale Gerechtigkeit definieren und verwirklichen zu können, indem er die Zuteilung von immer mehr materiellen Gütern zum Inbegriff einer immer größeren sozialen Gerechtigkeit erhob. Er entwickelte sich zum riesigen weltlichen Umverteilungsmoloch, zog daraus seine Legitimation und schuf sich gleichzeitig eine von ihm abhängiges Klientel der Betreuten und Alimentierten. Diese erfreuten sich an Leistungen ohne Gegenleistungen, intellektuell unterstützt von Theoretikern der Bürgergesellschaft, die wie Ralf Dahrendorf für benachteiligte Gruppen soziale und ökonomische Angebote und Rechtsansprüche aufhäuften, um allen Bürgern die umfassende Partizipation an der Gesellschaft zu garantieren. Die „Normalbürger“ hatten zwar immer höhere Abgaben und Steuern zu entrichten, aber im Gegenzug konnten sie beim eigenen Handeln unbesorgt die Tugend der Gerechtigkeit außer acht lassen, schließlich sorgte ja der Staat für den Ausgleich bei den Opfern des untugendhaften Verhaltens.
Die zwangsläufige Konsequenz dieser Entwicklung ist eine von Ethos und Ethik losgelöste soziale Gerechtigkeit, die als Ordnungsprinzip von der kontributiven zur ökonomischen Verteilungsgerechtigkeit mutiert und sich am Ende selbst überfordert. Die Leistungsbereitschaft der Nettozahler wird überbeansprucht, die Leistungsempfänger verlieren den Antrieb zur Selbsthilfe; und dem Staat fehlen, nachdem er einige Zeit den Weg der Verschuldungspolitik gehen konnte, bei stagnierender Wirtschaftsentwicklung die finanziellen Mittel zum Erhalt des Sozialleistungsniveaus.
Wie in dieser Situation reagieren? Ein Ausweg wäre der Abschied von der sozialen Gerechtigkeit. Ohnehin bei den Bürgern als Tugend nicht mehr sonderlich geschätzt, wenn sie dem Erreichen des eigenen Vorteils im Wege steht, könnte sie durch eine neorealistische Sichtweise ersetzt werden, bei der allein Kosten-Nutzen-Erwägungen den Ausschlag für die Gewährung oder Verweigerung sozialer Leistungen geben. Dann streicht der Staat dort Anrechte zusammen, wo die Betroffenen schlecht organisiert sind und keine sozialen Folgekosten produzieren können, während soziale Gruppen, ausgestattet mit exklusivem Zugang zu den politischen Entscheidern oder mit der Fähigkeit zur Bedrohung des sozialen Friedens, staatliche Zuwendungen erhalten.
Als Alternative zu dieser, die Gesellschaft der egoistischen Gruppen widerspiegelnden und das Destabilisierungspotential prämierenden Sozialordnung bietet sich die Reaktivierung der kontributiven Gerechtigkeit an. In diesem Sinne wird Bundeskanzler Schröder in letzter Zeit nicht müde, für eine „neue Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortlichkeit“ zu werben. Er prangert die allgemeine Mitnahmementalität und das Anspruchsdenken an. In einem Beitrag zur Aufsatzsammlung Ende der Solidarität? (hrsg. von Konrad Deufel, Freiburg 2003) warnt er vor dem „Irrtum, daß ‚mehr Staat‘ automatisch mehr Gerechtigkeit organisieren könne,“ und sieht die soziale Gerechtigkeit im Prinzip des „Förderns und Forderns“ realisiert, „das im Kern besagt: Jeder hat das Recht auf Verwirklichung seiner Lebenschancen. Aber diesem Recht entspricht auch die Pflicht, diese Chancen wahrzunehmen und das Gemeinwohl zu stärken.“
Dem Kanzler scheint bewußt zu werden, daß derlei Mahnungen und Appelle nur dann nicht wirkungslos verhallen, wenn ihnen adäquate Werte und Tugenden zur Seite stehen, daß ein Zusammenhang zwischen der sozialen Gerechtigkeit als Ordnungsprinzip und den gelebten Tugenden besteht. Zur Rekonstruktion des Gleichgewichts zwischen Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl bedarf es der Redlichkeit, der Leistungsbereitschaft und des Pflichtbewußtseins der Bürger. Entsprechend findet der Bundeskanzler lobende Worte über „deutsche Tugenden“. Er sucht nach einer ethischen Fundierung des Sozialstaats und stößt auf Tugenden, die man als christlich oder preußisch bezeichnen kann und verschüttet wurden. Werden sie nach dem „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ (Ralf Dahrendorf) wieder zur Geltung kommen? Wer wäre geeigneter als ein sozialdemokratischer Bundeskanzler, diese Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu stellen?