Menschen töten Menschen, seit es Menschen gibt. Sie tun es organisiert – das nennt man Krieg oder Genozid – oder individuell, von Mensch zu Mensch: Mord und Totschlag.
Im ersten Fall kann oft „die“ Geschichte als Erklärung dienen, im zweiten ist es in der Regel „eine“ Geschichte, auch wenn diese nicht selten sichtbar in „die“ Geschichte eingebunden ist. Mit Geschichten, ganz gleich, ob „die“ oder „eine“, kann man Dinge erklären, kann man ihnen eine Ursache und einen Sinn zuschreiben, kann man die Kardinalfrage „Warum?“ und manchmal auch die nach dem „Wozu?“ beantworten.
Der Mord an Ulla läßt sich aus einer eigenen, gewissermaßen organisch gewachsenen Geschichte erklären, wenn er von Heinz begangen wurde. Dies ist weit komplizierter, wenn Hussain der Täter ist.
Beide Taten sind zu verurteilen, zu strafen und zu sühnen und wenn möglich, sollten sie verhindert werden. Das mag im Einzelfall funktionieren, im statistischen Mittel aber kaum. Je nach Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, des gesellschaftlichen Zustandes, der herrschenden oder abwesenden Moral … den objektiven Bedingungen also, wird es so und so viele Tötungsdelikte geben, plus minus einen Zufallskorridor.
Ebenso gibt es Trends und Entwicklungen. In der westlichen Welt nahm die Zahl der Gewaltverbrechen in den letzten Jahrzehnten, bis vor kurzem, kontinuierlich ab.
Diese Morde sind normal. Normal nicht im Sinne der Norm, des Anzustrebenden – sie widersprechen oder sollten dies zumindest tun, der Norm einer zivilisierten Gesellschaft, aber sie sind normal im Sinne des zu Erwartenden, dessen, was zum Leben einer komplexen Sozietät dazugehört. Es gibt in ihr Konflikte, das ist normal und meist auch gewünscht; einige wenige von ihnen führen – das ist unerwünscht – zum Tode. Aber sie gehören, mit anderen, philosophischen Worten, zum Seinszustand der Gesellschaft, sie sind Teil der gesellschaftlichen Ontologie.
Sie sind es, weil sie normal sind, weil sie organisch aus ihrem inneren Wesen heraus entstehen. Nichts rechtfertigt sie, aber sie sind da, waren es immer und werden es aller Voraussicht nach auch immer sein.
Daß Heinz Ulla ersticht, gehört zu uns. Daß Hussain Ulla ersticht, jedoch nicht. Denn Hussain ist kein genuines, natürliches, organisches Produkt dieser Gesellschaft, er ist nicht in ihr entstanden, nicht in ihr aufgewachsen, hat nicht an ihr partizipiert, ihr nichts gegeben und lange Zeit auch nichts genommen, ihre Werte nicht geteilt, sie nicht mit der Muttermilch aufgesogen.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Keine Gesellschaft ist hermetisch abgeschlossen, noch nicht einmal die nordkoreanische oder isländische. Menschliche Gesellschaften haben immer Austausch zu anderen Gesellschaften, mal mehr, mal weniger. Ja, sie benötigen den Austausch sogar, denn ein moderater Austausch funktioniert wie ein Immunsystem, wie ein evolutionäres Immunsystem.
Der moderate Austausch garantiert die Stärkung der Abwehrkräfte auf der einen Seite, aber er garantiert auch genügend kulturellen und durchaus auch genetischen Einfluß, um Verkrustungen zu vermeiden, um neue „Mutationen“ zu ermöglichen. Intelligente Systeme lernen vom Fremden oder verarbeiten es – sofern sie es verkraften können, sie fördern und steuern es – das Fremde und das Lernen – sogar. Es wird organisch ins System aufgenommen, quasi verdaut, bringt das System weiter, macht es flexibler.
Ist dieser Einfluß jedoch zu stark oder zu plötzlich, dann droht er das System oder die Gesellschaft zu sprengen. Gesellschaften können, wenn sie dysfunktional werden, solche Explosionen auch aus sich selber, also quasi-organisch, hervorbringen (wiederum Kriege, Pogrome, Ethnozide), das wollen wir nicht vergessen. Oftmals liegen diesen Ereignissen frühere Einbrüche größeren Ausmaßes oder unverdaute Einverleibungen zugrunde.
Es geht also um das Maß. Man verlange nun keine Zahl, was das Maß sei. Wenn in Potsdam der Hugenotte Henry seine Ulla erstochen hat, so dürfte das kaum als ontologischer Fehler empfunden worden sein, umso mehr, da Henry vielleicht ein erfolgreicher Handschuhmachermeister gewesen ist. Wenn heute Heinz seine Ulla in Köthen ersticht, dann ist die Stadt schockiert, aber niemand geht deswegen auf die Straße. Denn dieser Mord, so bedauerlich er ist, fügt sich organisch ein, er hat eine Geschichte, die sich rekonstruieren läßt und deren Gesetzmäßigkeiten zum großen Ganzen, zu „der“ Geschichte gehören.
Anders sieht es aus, wenn ein Hussain in Köthen eine Ulla ersticht. Wenn er eine Umme erstäche, so würde das keine größere Aufmerksamkeit bekommen, denn die Köthener sähen weder in ihm noch in ihr einen von ihnen. Sie gehören zu einem anderen ontologischen Bereich. Aber Hussain und Ulla, das ist eine gravierende Verletzung der ontologischen Grenze, denn Hussain gehört (noch) nicht dazu, aber Ulla über viele Generationen.
Der Eintritt von Millionen Menschen eines anderen ontologischen Systems in kürzester Zeit in „unser“ ontologisches System stellt eine unglaubliche Erschütterung dar. Daraus sich ergebende Tragödien – sofern sie Opfer des „unsrigen“ Systems sind – werden sehr empfindlich gespürt, denn sie sind nicht organisch gewachsen, sie haben keine „eine“ Geschichte, die lange zurückreicht und sie hätten – auch statistisch – nicht sein müssen, mehr noch, es hätte sie gar nicht gegeben.
Deshalb die zahlreichen Schildchen an den Orten der Tat mit der hilflosen Aufschrift: „Warum?“ Es ist der berechtigte, wenn auch unreflektierte und unbeantwortbare Ruf nach „einer“ Geschichte, die in „die“ Geschichte paßt.
Dr Stoermer
Der ontologischer Fehler, der eintritt wenn Hussain die Ulla ersticht, ist nur einer zweiten Grades. Dass es einen erstgradigen Fehler gibt, lässt sich daraus schließen, dass in Köthen weder dann auf die Straße gegangen wird, wenn Hussain Ulla noch wenn Hussain Umme erstochen hat. Sondern nur, wenn Heinz Umme erstach. Hussain wäre ohne den ontologischen Fehler ersten Grades gar nicht hier, oder wenn, dann allenfalls im Sinne Friedrichs II: "Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die leüte, so sie profesiren, erliche leüte seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöpliren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen."
Wobei der mir aus anderen Gründen auch nicht ganz geheuer ist. Denn am Ende zählt: Wir sind ein Volk und kein öffentlicher Parkplatz.