Jeder echt alternative Politikentwurf, der in Deutschland und in anderen europäischen Ländern vorgelegt wird, hat letztlich den Anspruch, dieses Geflecht zu entwirren und das, was es eingesponnen hat, zu befreien und herauszuholen: Politik für das Volk, strenge Staatspolitik, die Idee vom Ganzen, die Zurückdrängung der Beutemacher, die Erzählung vom Wir.
Es gibt keine einzige erfolgreiche neue Partei in Europa, die nicht gegen das antritt, was man den “tiefen Staat” nennen kann, und die ihren populistischen Auftritt nicht damit unterfüttert, daß sie “das Volk” über die Machenschaften der supranationalen Systeme und ihrer Profiteure aufklären möchte. Die meisten dieser neuen Parteien sind rechts, einige wenige links, ihr Anlauf dauert manchenorts bereits zwei Jahrzehnte, und hier und dort gleicht der Erfolg einer Eruption.
Wir dürfen uns sicher sein, daß dort, wo eines Tages mitregiert werden könnte, die Auswirkungen der neuen Politikrichtung auf das Leben gering wären. Es käme zu symbolpolitischen Handlungen und zu einer panischen Entladung in den Kanälen derer, die bisher am Ruder waren. Aber unterhalb dieser Oberfläche würde sich nur sehr langsam etwas ändern.
Dies liegt daran, daß die Stellschrauben aufgefunden und vom Rost befreit, also wieder beweglich gemacht werden müßten. Wer fände sie auf? Wer könnte so an ihnen zu drehen beginnen, daß sie tatsächlich einen anderen Mechanismus in Gang setzten? Wäre die Mannschaft groß, klug, hart, geschult genug dafür? Wieviel Zeit hätte man? Behielte der Wähler, der Souverän, die Geduld?
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In Rumänien hatte das Verfassungsgericht im Dezember entschieden, den ersten Gang der Präsidentschaftswahl zu annullieren. Călin Georgescu, rechtsgerichtet, hatte ihn “überraschend” gewonnen. Es war etwas geschehen, das diejenigen, die davon ausgehen, stets alles im Griff zu haben, nicht auf der Karte hatten.
Georgescu gilt als Putin-nah, als Anwalt der kleinen Leute, als folkloristischer Nostalgiker mit TikTok-Profil. Er spielt mit Versatzstücken aus der kurzen faschistischen Epoche seines Heimatlandes, das die radikale, mystische, opferbereite Eiserne Garde unter dem charismatischen, früh ums Leben gebrachten Anführer Corneliu Celea Codreanu hervorgebracht hatte.
Rumänien ist heute, bald fünfunddreißig Jahre nach der blutigen Revolution gegen die sozialistische Diktatur, ein ausgebeutetes, ausgeblutetes, korruptes, kolonisiertes Land – immer gemessen an den Maßstäben der Länder, die mit ökonomischem Wissensvorsprung und der Mentalität moralischer Sieger den Ostblock zur West-Nachahmung aufgefordert und sich seine Filetstücke gesichert haben.
Was also soll am Sieg Georgescus “überraschend” sein? Er verkörpert eine Spielart massenhafter Selbstermächtigung: Warum eigentlich sollte alles so weitergehen, wenn dieses Weiter nichts an der katastrophalen Stimmung und aussichtslos verfahrenen Lage der Nation ändern würde? Warum also sollte man noch in der Wahlkabine geduldig sein und zahnlos bleiben?
Aber die Gegner des mündigen Votums nehmen die Sache ernst. Die Wahlkommission hat am vergangenen Sonntag, dem 9. März, Călin Georgescu von der auf Mai angesetzten Wiederholung der Wahl ausgeschlossen: Er darf nicht antreten, wird nicht gewählt werden können und steht nun vor der Frage, mit welchen Mitteln er seine politische Mission überhaupt weiterverfolgen kann. Die latent gewalttätigen Massenproteste seiner Anhänger vor dem Gebäude der Kommission sind jedenfalls kein Weg.
Die Entscheidung in Bukarest ist ein Staatsstreich von oben, nichts anderes. Wir können J. D. Vance, den Vizepräsidenten der USA, bemühen. Er sagte in seiner kurzen, unsere Länder beschämenden Eröffnungsansprache auf der Münchner Sicherheitskonferenz leicht spöttisch, daß es um eine Demokratie nicht gut bestellt sein könne, wenn man ernsthaft glaube, ein paar hunderttausend russische Rubel an TikTok-Einfluß und Social-Media-Theater könnten in einem Land von der Größe Rumäniens eine Präsidentschaftswahl überraschend kippen.
Vance forderte dazu auf, das Votum unbedingt ernst zu nehmen und es zur Grundlage der Politik der kommenden Jahre zu machen, denn dies sei der Sinn demokratischer Wahlen: das Vertrauen darauf, daß nicht ohne Grund so und nicht anders gewählt worden sei; das Vertrauen auf die Mündigkeit derer also, die ihr Wahlrecht in Anspruch genommen hätten.
Interessant ist, daß Vance sich so äußerte, obwohl Georgescu ein gutes Verhältnis zu Rußland und Putin zum Gegenstand seines Wahlkampfes gemacht hat und sich gegen die Politik der EU positionierte. Wenn man an der Oberfläche bleibt und nicht im “tiefen Staat” herumzustochern beginnt, dann hat Vance die Eindrücke aus dem nicht lange zurückliegenden US-Wahlkampf ins Grundsätzliche übertragen: Auch dort hat sich der mündige Bürger “überraschend” und gegen den geballten Widerstand der woken Fließrichtung für einen Kandidaten entschieden, der für Veränderungen steht.
Vance hält dies nicht nur für legitim und vorgesehen, sondern für den Beweis der Lebendigkeit eines demokratischen Systems, in dem der Elitenwechsel vollzogen wird – gegen den erklärten Willen derer, die diesen Wechsel bisher nur vortäuschten.
So auch in Rumänien, so in Thüringen: Dort besitzt die AfD unter Höcke seit vergangenem September eine Sperrminorität, und dort ist seine Partei, obwohl mit Abstand stärkste Kraft, nicht an der Regierungsfindung beteiligt worden. Stattdessen setzt die Koalition aus CDU, SPD und BSW alles daran, die Geschäftsordnung so zu verändern, daß die Sperrminorität der AfD ins Wirkungslose verpuffen könnte.
Das sind Maßnahmen unterhalb des Ausschlusses von der Wahl, wie nun in Rumänien geschehen. Aber es sind Vorboten: Denn der Wähler in Thüringen wollte durch sein Votum die Regierungsbeteiligung der AfD, wenigstens aber die Sperrgröße. Diesen Wählerwillen zu ignorieren, ist ein weiterer Beleg dafür, daß es aus Sicht der alten Machtstrukturen ein nicht statthaftes Wählerverhalten gebe und daß die Suche nach Möglichkeiten, die Stimm-Macht der Opposition wirkungslos zu machen, legitim sei.
Seit die AfD in Thüringen zur Bundestagswahl fast vierzig Prozent der Stimmen erobern konnte, läuten nicht nur in Erfurt die Alarmglocken. Eine absolute Mehrheit ist aufgrund des Wahlsystems nicht erst bei fünfzig Prozent erreicht: Je nachdem, wieviele Parteien überhaupt noch in den nächsten Landtag einziehen werden, könnten knappe fünfundvierzig Prozent ausreichen.
Man wird die Argumentation des rumänischen Verfassungsgerichts gründlichst studieren und Vance ignorieren.
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Aber zurück zum Anfang. Es darf verwundern, daß nicht ein anderer Weg eingeschlagen wird. Massengesellschaften unseres Zuschnitts bewegen sich wie schwerste Containerschiffe: Legt man jetzt das Ruder um und fährt vollen Gegenschub, wird sich nicht von jetzt auf gleich der Kurs ändern und die Fahrtgeschwindigkeit drosseln.
Im Zweifelsfall wird sich die Politik der ersten hundert Tage auf symbolpolitische Handlungen und die der ersten Legislatur auf die Analyse der schlimmsten Lecks und Fehlentscheidungen beschränken müssen. Was wäre überhaupt sofort und mit Aussicht auf Durchsetzungsmöglichkeit anzugehen?
Der andere Weg für Rumänien und Thüringen wäre der, die rechtspopulistische Kraft an der Macht zu beteiligen und ihr zu zeigen, wie ausgefahren die Fahrspuren sind. Entzauberungsstrategie: Akzente setzen? Ja; eine andere Politik? Harte Bretter, zähe Kraft, leicht verheddert im Geflecht, schnell verrannt im Dschungel. Und dann die – bei aller Mündigkeit – ungeduldigen Bürger…
Das wäre die weniger ungeschmeidige, weniger entlarvend post-demokratische Reaktion auf die machtvolle Herausforderung der rechten Oppositionen. Daß man sie nicht ausprobiert, ist ein Zeichen von Macht und/oder Panik. Jedenfalls: Es spitzt sich zu.
RMH
Es ist grundsätzlich richtig, dass Gerichte eine Wahl überprüfen & aufheben dürfen. Es ist sogar richtig, dass Gerichte bestimmte Personen nicht zur Wahl zulassen dürfen (was in der Eingriffswirkung noch einmal bedeutend über das hinaus geht, was in einer Annulierung & Wiederholung einer Wahl liegt). Grundvoraussetzung dafür sind echte, unabhängige Gerichte. Wobei unabhängig mehr bedeutet, als dass kein direktes Bakschisch fließt. Ob & inweiweit in Rumänien die Gerichte unabhänig sind /waren, maße ich mir als Außenstehender nicht an, zu beurteilen. Hier sollte man als Ausländer immer etwas Zurückhaltung wahren.
Trump (& damit mittelbar Vance) wird auch vorgeworfen, dass er seine 2. Administration nur deshalb so geschmeidig durchbringen kann, weil er in seiner 1. Amtszeit das Glück hatte, einige Richterstellen neu besetzen zu können. Kurzum: Es geht an die Frage der Gewaltenteilung & einer echten, unabhängigen Justiz. Diese beurteile ich nicht in Rum oder den USA, ich treffe hierzu für D eine Einschätzung. Und bei uns ändert man das GG, um einen vermeintliche Zugriff auf das BVerfG zu erschweren, dabei ist der Kern einer echten, unabh. Justiz nicht einmal im Ansatz berührt worden & das ist die Frage, wer bestimmt, wer Richter wird/ist. Das ist das zentrale Thema & das wird in D beim obersten Gericht nach wie vor im Beutegriff der Parteien gehalten. Hier hätte man reformieren können, wenn man es wollte.