Wie jeder gute Überblicksbericht vermittelt auch Thomas Wagners Studie über die Nachkriegs-Soziologie eine grundsätzliche Botschaft: Diejenigen, die heute für halbe Teufel gelten, wurden damals von links in West und Ost gelesen und gewürdigt, und wen das wundert, wird aus dem Buch erfahren, daß links damals nicht das war, was es heute ist.
Im Zentrum der Darstellung stehen Arnold Gehlen und Theodor Adorno. Sie sind vor einem „Prolog“ abgebildet, in dem es um das berühmte Radiogespräch zwischen den beiden geht, das unter dem Titel „Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?“ im Februar 1965 gesendet wurde.
Allein, daß ein solches Gespräch stattfand, ohne daß der eine den anderen als alten Nazi beschimpfte und der andere vor dem einen aus diesem Grund die Waffen hätte strecken müssen, sollte Grund genug sein, über Normalität und Vergiftung im Wissenschaftsbetrieb unserer Tage nachzudenken. Wagner tut das nicht explizit, indirekt aber doch, wenn er Gehlen als den Kopf beschreibt, der mit seiner Anthropologie, seiner Institutionenlehre und seiner Kunsttheorie zurecht im Mittelpunkt der soziologischen Debatte gestanden habe.
Es ist an dieser Stelle sinnvoll, ein Wort über den Publizisten Thomas Wagner selbst zu sagen. Er geriet von links und aus der Mitte unter Druck, weil man ihm vorwarf, er habe sein 2017 erschienenes Buch Die Angstmacher. 1968 und die Neue Rechte zu wenig moralpolitisch und zu sehr um ein gründlicheres Verstehen der aufkommenden alternativen Opposition bemüht abgefaßt.
In seiner Danksagung erwähnt Wagner zwei Köpfe, denen es ähnlich erging:
Der Historiker Per Leo war ebenfalls 2017 als Hauptautor des Buchs Mit Rechten reden auf unsere neurechte Denk- und Provokationsarbeit zugetreten und hatte zunächst für einen Austausch auf Augenhöhe plädiert, dann aber unter dem Druck seiner linken „Community“ einen Kurswechsel vollzogen und den Börsenverein des deutschen Buchhandels entsprechend beraten.
Auch Bernd Stegemann, (ehemals) Vertrauter Sahra Wagenknechts und bis heute Dramaturg in Berlin, hat mit Lob des Realismus im AfD-Durchbruchsjahr einen Debattenbeitrag vorgelegt, der ihm den Vorwurf mangelhafter geistiger Altparteien-Disziplin einbrachte.
Was Wagner, Leo, Stegemann und andere eint, ist ihre grundsätzliche Überzeugung, daß Auseinandersetzung mit den interessanten Gedanken weltanschaulicher Gegner nicht bedeute, daß man ihnen dadurch zur Macht verhelfe. Vielmehr könnte man es als geistige Normalität beschreiben: Ein Milieu, das sich verbiete, das Interessante zu lesen, sperre sich selbst ab und ein und signalisiere Furcht vor dem besseren Gedanken und Kraftlosigkeit bei der Behauptung geistigen Terrains.
Ende des Exkurses – zurück zum Abenteuer der Moderne: Wagner arbeitet heraus, daß es nach dem Krieg zwei Denk- oder besser: Herkunftsschulen in der universitär sich verankernden Soziologie gab. Von den acht mehr oder weniger soziologischen Lehrstühlen an deutschen Universitäten seien nur drei mit entschiedenen Gegnern des Nationalsozialismus besetzt worden: Max Horkheimer, René König und Otto Stammer.
Mit Gehlen, Helmut Schelsky und Gerhard Mackenroth seien drei zumindest phasenweise überzeugte Nazis berufen worden. Diese Vorbelastung spielte zunächst aber keine Rolle. Zwar gab es mit Helmuth Plessner und anderen solche, die nicht öffentlich mit Gehlen diskutieren wollten, und als es um einen Ruf nach Heidelberg ging, stellte Horkheimer gegen Gehlen ein vernichtendes Gutachten zusammen, das nicht mangelnde fachliche Kompetenz, sondern weltanschauliche Kontaminierung zum Gegenstand hatte. Insgesamt aber war man im Austausch und ließ sich in der Lektüre von Originalität und Tragfähigkeit leiten.
Exemplarisch sei auf die intellektuelle Offenheit des in Ostberlin lehrenden Marxisten Wolfgang Harich verwiesen. Er entdeckte in Gehlens Der Mensch eine Anthropologie und vor allem eine Handlungslehre, die man mit marxistischem Besteck bearbeitet und fruchtbar gemacht werden könne, ferner in Urmensch und Spätkultur eine Entlastung durch institutionelle Sicherheit, die parallel, aber in die Moderne hinein weitergedacht das beschreibe, was der Mensch im sozialistischen Staat erwarten dürfe: Freiheit zum Zwecke der Selbstentfaltung.
Ein zweites: Die Rezeption angelsächsischer Soziologen mußte man Gehlen und anderen nach dem Kriege nicht beibringen. Man hatte vielmehr die Modernität von Autoren wie William James und John Dewey schon im Dritten Reich erkannt, weil man auch in Deutschland von „metaphysischen Spekulationen“ Abstand nehmen und menschliches Handeln am Puls der Massengesellschaft und vom Antrieb starker Einzelpersönlichkeiten her erklären wollte
Daß der Nationalsozialismus einerseits hochmodern dachte, organisierte und arbeitete und andererseits für die Masse Nestwärme aus Folklore, Konsum und einem schlichten „Wir“ bereithielt, bot schon während seiner Epoche ein weites Forschungs- und Beschreibungsfeld. Weil die Massengesellschaft und ihre zunehmend technokratische Organisation nach dem Kriege nicht verschwand, sondern erst recht Fahrt aufnahm, konnte man sie ohne weiteres mit denselben Theorien zu fassen versuchen.
Wagners Buch ist voll von solchen Vorgeschichten und Grautönen – und endet dort, wo das Schwarz-Weiß-Denken der Universität die Luft nahm. Es ist an der Zeit, daß diejenigen, die wirklich etwas zu sagen haben, wieder ins Gespräch kommen.
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Thomas Wagner: Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949–1969. Stuttgart 2025. 336 Seiten, 28 € – hier bestellen
Le Chasseur
"Befürchten muß man von den USA das Schlimmste. Sie sind die destruktivste Macht der Welt, durch ihren Rohstoff- und Energieverbrauch für die Biosphäre tödlich, durch ihre militärische Stärke, bei Abwesenheit einer ernstzunehmenden politischen Arbeiterbewegung, zugleich eine ständige Gefahr für den Weltfrieden. Wahrscheinlich werden Europa, Asien, Afrika, Lateinamerika gemeinsam, Schritt für Schritt, diesen Pestherd isolieren müssen." -Wolfgang Harich