2023 zogen knapp zwei Millionen Menschen nach Deutschland. Etwas über 630 000 der Zuzügler wurden mit einem Herkunftsland innerhalb der EU erfaßt, knapp 1 300 000 hingegen stammten aus Nicht-EU-Staaten. Die Mehrzahl dieser Menschen spricht kein oder nur wenig Deutsch. Im selben Jahr waren etwa 575 000 Erwachsene zu Integrationskursen zugelassen oder verpflichtet. Dazu kommen alle Kinder und Jugendlichen, die in der Schule im Regelunterricht, in Förderstunden oder anderen schulischen Integrationsmodellen Deutsch als Zweitsprache erwerben. Von rechts wird, neben Forderungen nach Remigration und Grenzkontrollen, unter anderem die Bringschuld von Migranten betont: Wer über kurz oder lang in Deutschland lebe, so etwa das Grundsatzprogramm der AfD, müsse sich den gesellschaftlichen Verhältnissen Deutschlands anpassen. Grundlage für diese Integration bilden verschiedene Deutschkurse, die – teils verpflichtend, teils freiwillig – von Migranten besucht werden können und neben der deutschen Sprache auch Werte der deutschen Gesellschaft vermitteln sollen. Wie diese Werte aussehen, was Flüchtlinge von Deutschland und über das deutsche Volk lernen sollten und wie Integration gelingen kann, wird an Universitäten an eigens dafür eingerichteten Studiengängen für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (DaF/DaZ) oder als Teil des normalen Lehramtsstudiums unterrichtet.
Diese Studiengänge sind im Grunde genommen noch nicht alt, erst seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden an Universitäten in Ost- und Westdeutschland entsprechende Lehrstühle eingerichtet. Sprachkurse für Migranten gab es natürlich schon davor, diese liefen über Träger wie das Goethe- oder das Herder-Institut oder über private Sprachschulen, und eine eigene Didaktik für DaZ war noch nicht entwickelt. Spätestens ab den frühen Siebzigern wurde das aber nötig: Sowohl die BRD als auch die DDR begannen in dieser Zeit, sich als Studienorte für Ausländer zu profilieren, und unter anderem durch die seit den fünfziger Jahren geschlossenen Verträge zur Entsendung von Gastarbeitern nach Deutschland wuchs die Zahl der Migrantenkinder und der Erwachsenen, denen die deutsche Sprache schulisch beigebracht werden mußte. Für den Studiengang Deutsch als Fremd- und Zweitsprache hielt 1979 der Linguist Harald Weinrich unter anderem die Kernbereiche kontrastive Linguistik, Sprachlehrforschung, Fachsprachenforschung und eben auch deutsche Landeskunde fest. (1)
Schon früh wurde deutlich: Deutsche Landeskunde heißt vor allem, die Einbettung Deutschlands in Europa zu betonen – Faktenwissen zu lehren oder eine Art Knigge für Ausländer sollen explizit nicht Zweck der Deutschkurse sein. Die bereits Ende der Achtziger veröffentlichten ABCD-Thesen (für »Austria«, BRD, »CH«/Schweiz und DDR), welche von Linguisten und Kulturwissenschaftlern zur Rolle der Landeskunde im DaZ-Unterricht und zur Einbindung aller amtlich deutschsprachigen Länder erarbeitet wurden, betonen die Diversität Deutschlands und das Fehlen einer »einzigen Kultur Deutschlands« bereits, wirken aber, wie auch in anderen geisteswissenschaftlichen Diskursen, im Vergleich zum heutigen Diskurs geradezu wie eine versteckte »White-supremacy«-Agenda: Innerhalb von 25 Jahren wurden die Begriffe Kulturkunde, Landeskunde, interkulturelle Landeskunde und diskursive Landeskunde in einer stets um sich selbst kreisenden Blase an Linguisten, Kulturwissenschaftlern und DaF/DaZ-Professoren auf den Müll geschmissen; alles zu exklusiv, zu trennend, zu rassistisch, zu deutsch.
Die Fehler des Integrationsdiskurses innerhalb dieser wissenschaftlichen Blase lassen sich grob in drei Kernprobleme aufteilen:
Dekonstruktion der Begrifflichkeiten: Im steten Versuch, niemandem auf die Füße zu treten, ist im Grunde genommen nur noch sagbar, was unter keinen Umständen eine Unterscheidung zwischen Gruppen bzw. Völkern beinhaltet. Das fängt mit der Genderei an Universitäten an (etwa mit Auswüchsen wie dem Begriff »Asylbewerbende«, der einen eher willkommensgeschenketragende »Refugees welcome«-Aktivistinnen imaginieren läßt und weniger Menschen, deren Asylantrag in Deutschland verhandelt wird) und gipfelt in den Ergüssen der modernen Wissenschaftler: Ginge es etwa nach dem Kulturwissenschaftler und emeritierten Professor für Deutsch als Fremdsprache, Claus Altmayer, so würden »Gegenstände des kulturbezogenen Lernens nicht mehr an herkömmliche Konstrukte wie Land, Nationalstaat oder Territorium gebunden, sondern an Sprache und (thematische) Diskurse.« Um zu verdeutlichen, daß auch wirklich niemand zur Aufgabe haben sollte, sich den deutschen Verhältnissen anzupassen, fährt Altmayer fort: »Wir sprechen daher auch nicht mehr von deutscher Kultur oder der Kultur des deutschsprachigen Raumes oder der deutschsprachigen Länder, sondern allenfalls von der Kultur deutschsprachiger Diskurse […]. Dabei werden deutschsprachige Diskurse aber grundsätzlich als offen imaginiert, d. h., es wird nicht von vornherein ein Anspruch auf Spezifik oder Besonderheit deutschsprachiger Diskurse gegenüber anderssprachigen Diskursen erhoben.«(2)
Es gibt also keine deutsche Kultur, kein typisch deutsches Verhalten, und selbst wenn: Diesen Wissenschaftlern zufolge geht es nicht um Integration von Ausländern, sondern darum, den Migranten zu ermöglichen, deutsche Diskurse zu verändern und mitzugestalten, sprich: aus Deutschland einen Melting pot der Kulturen zu machen.
Verkennung des ursprünglichen Problems: Im Grunde muß nicht diskutiert werden, wo die Probleme bei der Integration liegen: Zu viele Ausländer, die teils auch als Erwachsene noch nicht alphabetisiert sind, sollen innerhalb kurzer Zeit sowohl die deutsche Sprache als auch angemessenes Verhalten innerhalb der deutschen Gesellschaft lernen, ohne daß es dafür ernsthafte Anreize gäbe: Die Versorgung ist ohnehin gesichert, und für viele Migranten stehen mehr als genug Landsleute zur Verfügung, um sich ein soziales Netz auch ohne Deutschkenntnisse über einem A2-Niveau und ohne Wissen um deutsche Kultur, Politik oder Geschichte aufzubauen. Die logische Schlußfolgerung: Grenzen schließen, abschieben, wer nichts in Deutschland zu suchen hat, und für alle anderen ein System schaffen, das Migranten darauf trimmt, dem deutschen Steuerzahler nicht zur Last zu fallen und Teil der deutschen Gesellschaft zu werden. In der Gedankenwelt des durchschnittlichen Kultur- oder Sozialwissenschaftlers und der Blase an Dozenten, Autoren, Wissenschaftlern und politischen Beratern rund um das Thema des Sprach- und Kulturerwerbs kann dieser Schluß aber nicht gezogen werden – jegliche Verantwortung von Flüchtlingen und anderen Einwanderern am Erfolg der eigenen Integration sowie allein schon die Idee, daß die Antwort auf zu viele Migranten ein Konzept für weniger Migration ist, schließen sie von vornherein aus. In Lehrerratgebern, wissenschaftlichen Artikeln, Vorträgen und Vorlesungen dreht sich demnach alles darum, dem geneigten Leser und Zuhörer zu vermitteln, wie schrecklich arm dran jeder ist, der ins Getriebe der Integrationsmaschine Deutschlands gerät.
Da ist neben harten Hürden wie dem Alter (das einen Einfluß auf die Möglichkeiten und Abläufe beim Spracherwerb hat, aber auch auf bürokratischer Ebene Zugang zu bestimmten Kursen ermöglicht oder eben verhindert) beim DaZ-Erwerb zum Beispiel von weichen Hürden die Rede – Flüchtlinge hätten es schwer, die deutsche Sprache zu erlernen, weil sie aufgrund ihrer Wohnsituation, ihrer Herkunftssprache, ihrer Motivation, ihres Sprachlerntalents und anderer Faktoren potentiell benachteiligt seien. In Bachelorvorlesungen für DaF/DaZ wird das hoch- und runtergepredigt, in Seminaren nachgespielt, wie es so ist, sich als Flüchtling (natürlich: Geflüchtete:r) durch das Bürokratiechaos deutscher Institutionen schlagen zu müssen; stets bemüht darum, den Studenten zu vermitteln, wie schwer man es hat, will man in Deutschland ankommen. Wie schlimm es ist, wenn man im Asylheim auf engem Raum mit mehreren Mitbewohnern in einem Zimmer für die Deutschprüfung lernen muß, wird eindrücklich geschildert. (Müßte das nicht ideal zum Bilden von Lerngruppen sein? Dort müssen doch alle Deutsch üben!) Daß »Motivation« und »Einstellung zur Zielsprache und ‑kultur« als weiche Hürden bezeichnet werden und damit die Bringschuld vom Einwanderer auf die deutsche Gesellschaft und deutsche Institutionen abgewälzt und denselben die Aufgabe auferlegt wird, sich gegenüber Leuten, die über komplizierteste Routen und mehrere Länder nach Deutschland einreisten, immerzu ins rechte Licht zu rücken, findet natürlich keine Erwähnung. Auch auf Nachfrage, was denn mit Totalverweigerern in Integrationskursen zu tun sei, finden die Mitarbeiter der DaF/DaZ-Lehrstühle selten eine andere Antwort als ein Schulterzucken.
Dabei ist das System offensichtlich nicht nur überlastet – den Teilnehmern der in den letzten zwanzig Jahren immer weniger anspruchsvollen, immer zeit- (und damit auch geld-)intensiveren Kurse gelingt es oft genug nicht, die Kurse zu beenden und Prüfungen zu bestehen. In der IDS-Studie des Goethe-Instituts 2018 waren zum Beispiel von ursprünglich 606 Teilnehmern zu Beginn der Integrationskurse am Ende nur noch 247 übrig – um die Studie zu Ende zu bringen, mußte daher mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer neu ausgesucht werden.[3] Und auch von der übriggebliebenen Gruppe erreichte nur ein Bruchteil das durch das Rahmencurriculum für Integrationskurse anzustrebende Niveau B1. 61,9 Prozent der Studienteilnehmer lagen sogar unter einem A2-Niveau. Erklärend springen hier die auswertenden Wissenschaftler ein: Die Kurse seien eindeutig entweder zu unter- oder zu überfordernd; die Schuld liegt also wie immer nicht bei den Lernern, sondern beim System, beim Staat, bei wem auch immer. Was es für den deutschen Arbeitsmarkt bedeutet, wenn er mit Menschen geschwemmt wird, denen es nicht gelingt, einen sechsmonatigen Kurs durchzustehen, weil sie unterfordert sind, weil ihnen der Zimmernachbar in der Flüchtlingsunterkunft zu laut ist, die Deutschen zu unsympathisch oder man sich auch auf A1-Niveau durchschlagen kann? Bitte nicht fragen!
Weitaus schlimmer als beim Thema »Deutsch als Sprache« steht es um die Frage der deutschen Kultur. Beispielhaft soll dafür einmal mehr Claus Altmayer stehen. Er ist nun mal eine anerkannte Größe, seine Texte kennen die Studenten, wenn sie »auf dem neuesten Stand der Wissenschaft« sein wollen. Altmayer nimmt im oben bereits zitierten Artikel eine Bildergeschichte aus einem Deutschlehrbuch unter die Lupe. Zum Thema »Einladungen« werden Bilder von Begrüßungen, Gastgeschenken und gemeinsamen Essen gezeigt. Altmayer kritisiert diese Bilder und die dazugehörigen Aufgaben: Hier würden potentielle Konfliktpunkte umschifft, kontroverse kulturelle Unterschiede nicht aufgegriffen. Klar, denkt man sich: Für Tanisha aus Ghana ist völlig unklar, wie er sich beim Besuch einer wenig bekannten Frau verhalten soll. Begrüßung per Handschlag, per Umarmung, per Küßchen auf die Wange? Baghwan aus Indien weiß nicht, ob und wie er das Kalbsschnitzel höflich ablehnen kann, und für Karim aus Afghanistan kommt es gar nicht in Frage, sich an einen Tisch mit vollen Weingläsern zu setzen. Soviel offensichtliches Konfliktpotential, das erkennt sicher auch Herr Altmayer? Weit gefehlt! Statt dessen sind ihm die Protagonisten der Bildergeschichte zu weiß, zu jung, zu gutbürgerlich. »Es entsteht ein Bild, wonach deutschsprachige Menschen offenbar durchweg weiß sind, selten älter als 35 Jahre und grundsätzlich einer wohlhabenden bürgerlichen Mittelschicht angehören.«[4]
Sprach die Goethe-Institut-Studie den Flüchtlingen eben noch jegliche Eigenverantwortung ab, so hält Altmayer sie anscheinend für dermaßen bescheuert, daß sie nicht in der Lage sind, eine Bildergeschichte zum Erwerb von Umgangsformen von der Realität unterscheiden zu können.
Der verzweifelte Versuch, alle Mißstände von der Verantwortung von Migranten abzuwenden und hin zur deutschen Gesellschaft zu schieben, liegt ebenso wie Problem 1 unter anderem begründet in einem grundsätzlichen Problem nicht nur der heutigen DaF/DaZ-Wissenschaft, sondern der Selbstbehauptung der deutschen Kultur an sich.
Schuld und Sühne: In der Sozial‑, der Kultur- oder der Geschichtswissenschaft geistert immerzu – unbewußt oder bewußt, deutlich oder implizit – die Erbsünde der Deutschen durch Seminare, Bücher, Zeitschriften: die NS-Zeit, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust. Was im großen und explizit etwa in Roger Fornoffs Buch Landeskunde und kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung [5] Teil des wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist (Politisierung der Landeskunde für Migranten), gräbt sich in die Köpfe der Studenten an deutschen Universitäten ein: Als mögliche Ausflugsziele für DaZ-Klassen in Thüringen fällt dann selbstverständlich zwei Dritteln der Teilnehmer eines Moduls »Buchenwald« ein und nichts weiter. Der ständige Gedanke daran, daß jedwede positive Erwähnung deutscher Kultur, deutscher Erfindungen oder deutscher Gemeinschaft potentiell zu einem zweiten Auschwitz führen könnte, schlägt sich kraß in den Lehrwerken nieder.
Alternative deutsche Erinnerungsorte, die im Leben eines Flüchtlings, einer ausländischen Arbeitskraft oder eines Austauschschülers tagtäglich eine Rolle spielen, gäbe es dabei mehr als genug: Kernspaltung, Computer, Buchdruck, Grimmsche Märchen, all das kennt man weltweit. In Lehrbüchern für DaF/DaZ sucht man solche positiv besetzten Goldschätze deutscher Kultur aber vergebens; in Kapiteln zu Patenten wird lieber Alexander Graham Bell statt einer der zahlreichen deutschen Erfinder vorgestellt; in Texten zu Flucht und Migration wird das Leid somalischer Flüchtlinge beschrieben, von den furchtbaren Vertreibungen aus Schlesien und Ostpreußen oder den spannenden, kreativen, tragischen Fluchtversuchen über die innerdeutsche Grenze erfahren die Schüler in vielen Lehrwerken hingegen gar nichts. Und weil es sich nicht völlig vermeiden läßt, auch über Deutschland zu sprechen, finden sich hier und da tatsächlich deutsche Spezialitäten in DaZ-Lehrbüchern. Zum Beispiel: Labskaus. Das Motto ist anscheinend, entweder so spezifisch regionale Themen zu wählen, daß sich die Mehrheit der Deutschen mit dem Vorgestellten genausowenig identifizieren kann wie die Migranten aus Syrien, Vietnam und der Ukraine, oder aber so allgemeine, daß derselbe Inhalt auch in einem Buch für Französisch, Englisch, Rumänisch vorkommen könnte. Hauptsache, es entsteht nie der Eindruck, es gäbe irgend etwas, daß die Deutschen miteinander verbindet.
Das deutsche Integrationswesen wird unterlaufen von jenen, die keine deutsche Kultur kennen, lieben oder vermitteln wollen; es wirft Menschen auf den Arbeitsmarkt, die schlechter deutsch sprechen als ein Sechstkläßler englisch. Das alles folgt der völlig weltfremden, ja absurden Logik, man könne kulturell bedingtes Verhalten in ein paar Unterrichtsstunden zuerst wie einen Mantel abstreifen und die neue Kultur dann wiederum überziehen. Weniges legt die Absurdität des Systems so offen zutage wie die hilflose Verlängerung des Orientierungskurses von 60 auf 100 Stunden nach der Silvesternacht 2015. Wenn man nur einmal mehr erklärt, daß ein Lächeln, ein kurzer Rock, eine enge Hose keine Einladung sind, dann geht es schon gut. Sicher. ¡
(1) – Vgl. Harald Weinrich nach Christian Fandrych et al. (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. 1. Halbband, Berlin/Boston 2011.
(2) ‑Claus Altmayer: »Landeskunde im Globalisierungskontext. Wozu noch Kultur im DaF Unterricht?«, in: Peter Haase, Michaela Höller (Hrsg.): Kulturelles Lernen im DaF/DaZ-Unterricht. Paradigmenwechsel in der Landeskunde, Göttingen 2017.
(3) ‑Vgl. David Hünlich et. al: Wer besucht den Integrationskurs? Soziale und sprachliche Hintergründe von Geflüchteten und anderen Zugewanderten, Mannheim 2018. Durchgeführt wurde die Studie vom Institut für Deutsche Sprache (IDS) und dem Goethe-
Institut Mannheim.
(4) ‑Altmayer: Landeskunde im Globalisierungskontext.
(5) Roger Fornoff: Landeskunde und kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung. Erinnerungsorte
des Nationalsozialismus im Unterricht Deutsch als Fremdsprache, Baltmannsweiler 2016.