Zur Erklärung für nicht Social-media-Erfahrene: Es gibt einen gewissen Trend auf der Plattform Tiktok, und es gibt auf Twitter den „Ostmullen-Dienstag“, wo eben dieser Trend genüßlich und ausgiebig gefeiert wird.
Ganz kurz erklärt – es handelt sich dabei um junge und mittelalte, aber durchweg als „ostdeutsch gelesene“ Frauen, die Folgendes tun: per „Lip Sync“ ein möglichst rechtsradikales Lied zu inszenieren.
Und noch mal für Anfänger: Es gibt Frauen, die sich (Dauer: weniger als eine Minute) dabei filmen, wie sie per Lippenbewegung tun, als würden sie ein Lied von den „Böhsen Onkelz“ – eher aber noch derberes rechtsradikales Liedgut – mitgrölen. Und zwar lasziv! Hier ist mal ein Beispiel.
Diese Frauen haben normalerweiser Filter über ihr Gesicht gelegt, damit sie als standardmäßig „hot“ erscheinen. Große starkbewimperte Augen, volle Lippen, reine Haut, attraktive Konturen und sowas. Oft haben sie Gesichtstattoos und sind multipel beringt („Schmuck“ in den Augenbrauen, Nasenflügel- oder Septumring, Zungestecker etc.). Gern ausrasierte Seiten, gern „entschlossener, haßerfüllter“ Blick. Das ist die sogenannte Ostmulle.
Auch ganz vernünftige Rechte feiern diesen Trend. Denn es ist tatsächlich kurios und war noch vor wenigen Jahren undenkbar: Daß mitten ins weichgespülte Zivilgesellschafts-Gedröhne jäh hunderte, wenn nicht tausend junge Frauen platzen und vor möglichst provokantem Hintergrund (schwarzweißrote Fahnen, Reichsadler usw.) Lieder in die Kamera rotzen, „vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben.“
Wie gesagt, ich mag diese Ostmullen auch, weil meine Liebe zu Außenseitern fast grenzenlos ist. Aber ich setze keinerlei Hoffnungen auf diesen Trend.
Martin Sellner sieht es gewohnt hoffnungsfroh so:
Die normative Kraft der faktischen Ostmullen legt die Nazikeule lahm. Jede einzelne patriotische Ostmulle motiviert hunderte ost- & westdeutsche Jungs aktiv zu werden. Die treiben den gesellschaftlichen Umschwung weiter voran, was weitere patriotische Ostmullen spawned [= hervorbringt, EK]. Ein metapolitisches Perpetuum mobile. Werden es die Ostmullen sein, die die Brandmauer einreißen?
Sellner spricht von „gut gelaunten jungen Frauen“ und findet, auch die „ruppigsten und radikalsten Lieder“ verlören ihre Kraft, wenn sie von „lieben Mädels vorgetragen werden.“
Es ist immerhin interessant, daß man das „von außen“ so sehen kann. (Sellner kennt Ostdeutschland nur „in Auszügen“, vom Kleinstadtleben in unseren Gefilden hat er wenig natürlicherweise wenig Dunst.)
Ich möchte meine Skepsis bezüglich seiner Hoffnung mit ein wenig anekdotischer Evidenz unterfüttern: Wir wollten aus dem „Wertewesten“ in den „Osten“, seit wir denken können. Weil: Weniger „Zivilgesellschaft“, weniger Selbsthaß, weniger „freiwilliges unter die Knute gehen“, insgesamt mehr Freiraum, mehr Wildnis.
Früher, als wir nur träumten und nicht wirklich ernstzunehmen waren, mit paarundzwanzig, schwebte uns je einzeln sogar eine Zukunft in Siebenbürgen (Kubitschek) oder Schlesien (meine Wenigkeit) vor. Rein aus romantischen Erwägungen. „Das Internet“, mit dem man arbeiten hätte können, gab es ja auch schon damals. Man dachte sich so dies und das aus. Weit weg von den Trümmern der BRD leben, das alles beobachtend und erhaben darüber schreibend, oder so.
Rasch war klar, daß dies Jugendblütenträume waren – man hat ja beispielsweise auch Eltern, um die man sich aus 1000 km Entfernung nur schwer würde kümmern können. Als wir uns damals ernsthaft auf Haussuche begaben, war rasch klar, daß sogar Ostsachsen, MeckPomm und Brandenburg ausschieden. Das wäre aufgrund der Entfernung zum Elternhaus wie Auswandern gewesen.
Als wir uns umschauten, fielen manche Städtchen/Orte/Dörfer sofort durchs Raster. Hier in dieser Gegend waren das Zeitz, Weißenfels, Braunsbedra. Da war klar: Hier willst du nicht wohnen. Nur Rentner, nur Kaputtes, Dönerbuden, Rand- und Restexistenzen, Alk-Geruch in allen Ecken; Crack, wohin du schaust.
Schnellroda war Terra Incognita. So ein hübsches Dorf. Mehr wußten wir nicht, als wir kauften. Einer der Nachbarn, längst verzogen, begrüßte uns mit einem lässigen “Sieg Heil!“, das uns Wessis wohl im Mark erschüttern sollte. Seine Freundin hatte (u.a.) ihren Hals zutätowiert und fragte mich rasch keck, ob meine Mädchen eigentlich schwerbehindert seien. (Weil sie Röcke/Kleider trugen.)
Was soll ich sagen – nach wenigen Wochen hatten wir die schrägen Nachbarn und ihre Crew für uns gewonnen. Sie schrubbten dann für gerechten Lohn Dachpappe von unseren Dielen, föhnten Lacke ab und rissen mit Vorschlaghämmern „Garagen“ ab. Das war okay. Der kleine Nazi entpuppte sich als Analphabet (na und, gibt Schlimmeres) und hatte wechselnde Freundinnen. Alle waren schwer beringt und multipel tätowiert. Es waren echte Ostmullen.
Das Wort gab es damals noch nicht, jedenfalls nicht hier und nicht „im Netz“. Es soll aus der Berliner Nachwendezeit stammen und ein salopper, leicht abwertender Begriff für „Mädchen“ sein.
„Mullen“ bezeichnet (seriös) eine Klasse nicht näher miteinander verwandter Säugetiere (Nacktmullen, Goldmullen, Spitzmullen etc.), die durch ihre a) grabende, b) unterirdische Lebensweise charakterisiert sind.
Den zahlreichen Ostmullen, denen ich seitdem live begegnet bin, haftete tatsächlich etwas Unterirdisches an. Bei aller Sympathie. Weshalb Sympathie? Weil sie bockig & auf verzweifelte wie mutige Art Outlaws sind, hungrig nach etwas Besserem, nach einem starken, sicheren „Damals“, das es weder je gab noch geben wird. Weshalb unterirdisch? Als unterirdisch bezeichnet man real wie metaphorisch etwas, das deutlich unter dem normalen Niveau liegt.
Ich kenne keine Ostmulle aus gesundem Elternhaus, auch keine mit einer geradlinigen Schulausbildung. “Meine” Ostmullen haben Kinderheim/Abtreibung/psychiatrische Klinik/gewaltvolle Beziehung etc. pp. in ihrer Bio stehen.
Eine meiner Töchter besucht 195 Tage/Jahr ein Internat und ist dort umgeben von Söhnen und vor allem Töchtern aus besten Verhältnissen. Man bereist die Welt, wird demnächst links wählen, ist offen für alles, diskutiert gern alles aus, man hat “Pronomen”.
Die schulfreien 170 Tage/Jahr ist sie, die Tochter, Teil der Ostmullen-Welt. Ihre Freundinnen im Dorf und im benachbarten Städtchen sind so normal rechts wie knallrealistisch, desillusioniert mit 15, hart im Nehmen, manchmal auch kaputt. Keine Ahnung, welche dieser bekloppten Welten die bessere ist. Ich hoffe sehr, daß in paar Jahren mal ein Roman aus der Gemengelage resultieren wird…
Falls sich nun junge ostdeutsche Frauen aus ordentlichen Verhältnissen und im krassesten Fall mit Abi sympathetisch mit den Ostmullen solidarisieren – nur zu, ich fände es ganz gut. Hab aber noch keine einzige gefunden, die das gesichtszeigend täte. Die Ostmullen in den Videos zählen zu der Kategorie, die rein gar nichts zu verlieren hat. Sie sind auch weder „liebe Mädels“ noch „gutgelaunt“ (Sellner).
Sie kämpfen ihre Kämpfe. Sie sind die Nemesis der BRD. Gut, daß es sie gibt. Besser, wenn man sie nach oben holen könnte. Nicht man, sondern wir. Woher die Kraft dazu kommen wird, weiß ich nicht.
RMH
Interessanter Trend, der aber weniger "trennend" in West vs Ost ausfällt, als es das Cartoon-Bild vorgibt. Der Typ Weiber, der beschrieben wird, existziert genauso desillusioniert & knallrealistisch in den alten Ländern, wie im sog. "Osten". Selbe komische Haarfärberitis, Tatoos und Eisen in der Fresse inklusive, selbe Neigung, auf Knallchargen als Männer hereinzufallen, hier gibts dann aber schon einen Unterschied: In den alten Ländern können das dann mangels Angebot auch mal Ausländer sein. Weiterer Unterschied: Im Westen hat man noch nicht das erkannt, was bereits die Sex-Pistols in den 70er Jahren praktiziert haben, dass die letzte, echte Form des Punk auch mal ein Hakenkreuz zeigt. Der maximal größte Mittelfinger eben, den man dem Establishment zeigen kann. Das hatten früher die Skinheads als ursprüngliche Arbeiterklasse-Bewegung wohl auch berücksichtigt.
PS: Was jucken die Union ein paar Bildchen/Filmchen? Denen sind ja bekanntermaßen selbst die eigenen Wähler, nach wie vor Millionen an der Zahl, komplett egal und am Ende wird die Konkurrenz eben via Verbot entsorgt, so what. Mücke = Elefant?