Der Seufzer entstammt der legendären Chronik in Stein (Salzburg/Wien 1988), und kompliziert war die Geschichte immer gewesen. Verschärft wurde das nochmal gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, als Kadare ein Kind war: Von November 1944 bis Januar 1945 wurden vermeintliche und tatsächliche Anhänger der Nationalisten von den siegreichen Kommunisten vor wilde „Volksgerichte“ gestellt und hingerichtet.
Ein gewisser Enver Hoxha führte dabei das Töten an. Hoxha wuchs in Frankreich und Belgien auf und zählte 1941 zu den Gründern der Kommunistischen Partei Albaniens, der nachmaligen Partei der Arbeit, deren Führer er 1943 wurde. Ein Jahr später wurde schließlich die Sozialistische Volksrepublik Albanien gegründet. Dieses kommunistische Regime wurde zum hyperstalinistischen Sonderfall, und das hieß: Die Maßnahmen zur Brechung jeden Widerstandes erfolgten brutaler als in allen anderen Staaten des „Ostblocks“.
Hoxhas rabiate Orientierung an Leben und Werk Stalins überdauerte dabei sogar den Tod des letzteren. Mit Nikita Chruschtschows Sowjetunion, die sich vorsichtig von Stalins Erbe emanzipieren wollte, haderte Hoxha. Das winzige Albanien brach 1960/61 mit dem großen Bruder ausgerechnet im dritten Jahr des Studiums Ismail Kadares am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau, der daraufhin nach Albanien zurückkehrte. Hoxha wandte sich derweil Mao Zedong zu, bevor er 1978 auch mit den „Revisionisten“ in der Volksrepublik China brach, die – wie die Sowjetunion 17 Jahre vor ihnen – der Lehre Stalins untreu geworden sein sollen. Albanien dämmerte dann bis 1990 in einem Zustand aus Mangelwirtschaft, Bunkermentalität und nationaler Abkapselung vor sich hin.
Warum diese historische Herleitung albanischer Sonderheiten? Weil sie den erzählerischen Urgrund des letzten Kadare-Werkes verständlich macht. Der 2018 im albanischen Original veröffentlichte Anruf ist das Vermächtnis Kadares; es setzt Wissen um den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Tirana und Moskau ebenso voraus wie Ahnungen des Existenzkampfs eines Schriftstellers unter zugespitzten albanisch- und sowjetisch-totalitären Bedingungen.
Der Roman ist trotz seines begrenzten Umfangs vielschichtig und täuscht zunächst den Leser: Man erlebt einen Ismail Kadare des Jahres 1976, der in Tirana die Mechanismen der albanisch-kommunistischen Zensur am eigenen Leibe erfährt – doch ist das nur die Auftakthandlung für etwas anderes, und dieses andere ist eine Erzählung in 13 Kapiteln, wie ein schicksalhaftes Gespräch eben nicht zwischen Hoxha und Kadare, sondern zwischen Stalin und Boris Pasternak (Doktor Schiwago) abgelaufen sein könnte. Es geht hier um die entscheidende Frage: Wie verhält sich ein Schriftsteller im Angesicht des Diktators, wenn er Stellung für oder gegen einen Gefährten beziehen muß?
Boris Pasternak war erfolgreicher Literat, er erhielt 1958 den Nobelpreis. Ossip Mandelstam, sein Kollege, war im Juni 1934 verhaftet worden und starb 1938 nach einer weiteren Verhaftung an Typhus und Hunger. „Der eine befand sich stets auf der Gewinnerseite, der Zweite war ein ewiger Verlierer.“
Doch die Hauptaufmerksamkeit gilt Pasternaks Drei-Minuten-Telefonat mit Stalin, das historisch verbürgt ist, wobei der Inhalt in der Memoiren- und Geschichtsschreibung differierend wiedergegeben wird. Daß dieser Anruf überhaupt erfolgte, lag an Mandelstams Stalin-kritischem Gedicht, in dem dieser über einen „Bergmensch im Kreml“ sinnierte. Das Gedicht trug Mandelstam ausgewählten Freunden vor – und wurde denunziert.
Stalin wollte deshalb am 23. Juni 1934 von seinem prominenten Autor wissen: Pasternak, wie hältst Du es mit Mandelstam? Und Pasternak entschied sich, überrumpelt von der Wucht des Diktators, nicht für Solidarität, sondern für … für was eigentlich? 13 Versionen des Gesprächs zeigen, daß die Interpretationen des Gesagten weit auseinandergehen. 13 Versionen zeigen, daß es Stalin um die Verbreitung des Panikmodus ging. 13 Versionen zeigen ferner, daß es am Ende nicht darum geht, daß Pasternak Mandelstam verriet – sondern darum, wie ein freier Schriftsteller im Totalitarismus innerlich zerfressen wird.
Ins Deutsche übertragen wurde der dichte und düstere Roman, wie immer bei Kadare, von Joachim Röhm. Der begnadete Übersetzer war einst Mitglied der deutschen Bruderpartei der Partei der Arbeit Albaniens, der KPD/ML. Die Splittergruppe war Teil einer losen „albanischen Internationale“, in der sich Anhänger Hoxhas sammelten. Man würde sich als nächstes einen Erinnerungsband Röhms wünschen. Wie war das als Deutscher im stalinistischen Tirana? Welcher Literat rang mit Hoxha, wer wich aus? Und: Wer rief einen da an?
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Ismail Kadare: Der Anruf. Roman, 173 Seiten – hier bestellen.
Martha
Das Wesentliche des Buches gut zusammengefaßt. Klare Lesemempfehlung, natürlich von mir bei Antaios gekauft. Ein wenig Licht in das Verhalten einiger albanischer Schriftsteller bringt Besnik Mustafajs "Albanien: Zwischen Verbrechen und Schein" (übersetzt von Joachim Röhm).