Zwischen den Versammlungen und Gesprächen lagen lange Autostrecken, die mir unter anderem Gert Westphal verkürzte. Er las mir Thomas Manns Zauberberg vor. Die CD hatte mir ein Freund geliehen, bei dem ich von Dresden aus in der ersten Nacht untergekommen war.
Man kann derlei nicht stundenlang hören, es ist zu dicht. Thomas Mann ist eine meiner Bildungslücken, ich stieg vor drei Jahrzehnten nach Tonio Kröger aus, dann wieder nach Wälsungenblut, zuletzt nach dem Doktor Faustus, den ich ohnehin nur durchhielt, weil sein Kaisersaschern bei Aschersleben und Weißenfels liegt, und Weißenfels bei Schnellroda. Seltsam überhaupt, daß man mit 54 noch denkt, man müsse Dinge endlich kennenlernen, sich “vervollständigen”.
Überhaupt: Was sind das für Lücken, diese Bildungslücken? Liest unsereiner auf Vollständigkeit, weil man “mitreden” können will? Also bitte: Wann kam wer je oder zuletzt an einen Tisch, an dem gerade Betrachtungen eines Unpolitischen verhandelt worden wäre, oder überhaupt Thomas Mann, und hätte aufgrund von Lücken nicht einsteigen können? Eben.
Dennoch gehören wir Text-Arbeiter zu denen, die schreibend, verlegend, redend Lücken schließen helfen möchten und dabei vorgeben, über Themen von Relevanz schon so gründlich nachgedacht zu haben, daß man sich vor Zuhörer wagen könne.
Es ist ein Wagen, ich nehme es seit jeher bitter ernst und kann es bis heute nicht fassen (obwohl ich es schon dutzende Male erlebte), wenn jemand mit geradezu unverschämtem Selbstbewußtsein ganz unvorbereitet ans Pult tritt und den immer selben Kakao vorträgt in der Meinung, seine Präsenz sei schon die ganze Miete.
Es ist nicht so, daß man nie Unfertiges, Experimentelles, Assoziatives, vorläufig Zusammengebrachtes vortragen könnte – nur muß man es ausdrücklich als solches vortragen, muß also das Prozeßhafte in den Vordergrund rücken, das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden sozusagen. So etwas mündet meist in Diskussionen, denn es ist nichts Abgeschlossenes, kein Durchformtes, und solche Formate können sogar stärker in Erinnerung bleiben als anderes: Aus den Zuhörern werden Mitdenker, die zu spüren vermeinen, daß derjenige, der vorträgt, ihnen nur ein, zwei Schritte voraus ist, ein Minenhund quasi, ein Pfadfinder.
So war es in Linz und in Wien: Ich trug unter der Fragestellung “Was wir noch wollen können” vor und bot eine kurze Analyse der Lage der deutschen rechtskonservativen Opposition. Es war ein nüchterner Vortrag. Im Titel schon steckt ja die Überzeugung, daß politisches Wollen realistisches Wollen sein müsse, also kein Knabenmorgenblütentraum, sondern eine Zielformulierung, die Erreichbares in den Blick zu nehmen und mit den Beständen zu rechnen habe.
Ich führte fünf hemmende Faktoren an, die allen forschen Vorstellungen von einer anderen Zukunft im Wege stünden – drei übergeordnete (Politik innerhalb der Massengesellschaft an sich, Politik innerhalb komplexer gesellschaftlicher Systeme, Politik unter den Bedingungen der demographischen Entwicklung) und zwei lagebedingte (Politik gegen einen Gegner, der alle wesentlichen Schaltstellen besetzt hält, Politik mit dem eigenen, zutiefst bürgerlichen Personal).
Es ist in unserer Lage für niemanden schwierig, auf diese Punkte zu kommen und ihre Konsequenz für das politische Handeln zu durchdenken. Ausführliche Gespräche mit Björn Höcke führten zuletzt ohne Umschweife in diese Richtung. Diese Gespräche wiederum waren sinnvoll und notwendig, weil nach den gewonnenen Wahlen und der verhinderten Machtbeteiligung etliche, die sich verausgabt, gehofft und gesiegt hatten, paralysiert waren (und sind). Sie waren und sind es angesichts der Winkelzüge und Unverfrorenheiten des politischen Gegners.
Es ist, als müsse man “die Demokratie” neu lesen und das, was über ihre Entwicklungsrichtung geschrieben worden ist, gründlicher ernst nehmen: das Totalitäre, das ihr innewohnt, und ihre post-demokratische Gestalt.
Es war und ist in einer solchen Situation unabdingbar, die Substanz und die belastbare Struktur des eigenen Aufmarschs herauszustellen und zu prüfen: schonungslos, solange niemand zuhört, und dann bis an den Rand des Unmuts heran, wenn man es vorzutragen hat. Denn so banal manches davon ist und so gründlich es längst gewußt werden könnte: unerwünscht ist es allemal, denn es stört diejenigen, die das Erreichte für einen Sieg halten und ihn sich selbst zuschreiben.
Was ist das Störende, das Unerwünschte daran, politische Zielvorstellungen vom Kopf auf die Füße zu stellen und Hausaufgaben zu verteilen?
Wohl dies: Weil es “so gut läuft” für die AfD, scheint Kritik etwas für Nörgler zu sein, etwas für jene, die nicht sehen wollen, daß das, was erreicht wurde, das Maximale ist, was möglich war – zumindest aber etwas, womit man zufrieden sein könnte. Denn wir sprechen über dutzende neue Mandate, über hunderte neue Mitarbeiterstellen, über Mittel, Zugänge, Möglichkeiten, Masse, Präsenz, verfestigte Strukturen, Routinen und sogar über erste Proben von Mitgestaltung.
Das ist alles richtig, und das ist der Punkt: Wir sprechen über Möglichkeiten, und ich stelle die Frage, ob der Erfolg der AfD (und der FPÖ) etwas damit zu tun habe, daß diese Parteien so anders und gut arbeiteten – oder ob es nicht doch vor allem die miserable Lage ist, die Scharen von Wählern in ihrer Verzweiflung, Sorge, Aufmüpfigkeit und Repräsentationsentfremdung zu den “Blauen” treibe.
Es ist letzteres. Aber das ist keine ernüchternde Einsicht, wenn sie als Auftrag begriffen wird. Denn wenn Millionen (im Thüringer Maßstab: hunderttausende) Wähler auf eine Wende zum Besseren hoffen und ihre Hoffnung trotz aller elenden Erfahrungen mit politischen Parteien erneut auf eine Partei setzen, dann hat diese Partei, die sich selbst noch immer als Partei anderen Typs begreift, einen Vertrauensvorschuß erhalten, den es zurückzuzahlen gilt.
Kann sie das? Kann ihr Spitzenpersonal das, können das ihre Mandatsträger, also diejenigen, aus deren Reihen im Fall der Fälle Minister und Staatssekretäre, politische Spitzenbeamte und harte, weltanschaulich gefestigte Verhandlungsführer ausgewählt und an die Gestaltungsfront geschickt werden?
Meine Vorträge in Thüringen und Dortmund, Linz und Wien stellten diese Fragen und stellten das infrage. Aber diese Infragestellung wäre ein wohlfeiles Heischen, bliebe es bei der Kritik: Die Partei ist das Werkzeug der Stunde, und jeder konstruktive, professionelle Ansatz in ihr muß eingefordert und gefördert werden.
So kam das dann auch zur Sprache. Es handelt sich nicht um eine Hexenkunst, Teilbereiche eines Staatsgebildes zu führen; es ist erlernbar und muß erlernt werden von jenen, die es nach vorn zieht und die sich nach vorn drängen – an die Spitze und in die Verantwortung für Millionen Bürger und ihre gute Zukunft.
Aber diese Aufgabe ist groß, und sie beschränkt sich nicht auf einen Verwaltungsvorgang. Das Wort “Gestaltungsmacht” verweist auf die Möglichkeit des Gestaltens, und das ist weit mehr als nur die Instandhaltung eines Betriebs.
Die zentrale Frage, die ich in allen Städten stellte, lautete: Wie durchdringt man ein so komplexes Gebilde wie Erfurt, Dortmund, Linz, Wien? Wie gelingt der Blick in den Maschinenraum einer funktionstüchtigen Großstadt? Wie sähe sie nach zehn Jahren AfD-Regierung aus, wo wäre sie mehr von dem, was wir uns alle wünschen? Wer weiß, an welchen Rädern zu kurbeln wäre, damit es zur Kurskorrektur kommen könnte?
Das ist wirklich die Frage, nicht wahr? Wie sähe ein rechteres Dortmund aus, ein in Form gebrachtes Erfurt, wie Linz, wie Wien? Oder machen wir uns etwas vor, wenn wir über Formierungsversuche auf Gesellschaftsebene sprechen? Geht es am Ende nur um Milieubildung, also um die Ausformung eines rechten Milieus, einer “Zivilgesellschaft von rechts”?
Und weiter: Wenn die Antwort auf solche Fragen immer wieder der Verweis auf die “Normalität” ist – wissen wir nicht längst, daß die Wiederherstellung einer wie auch immer definierten Normalität bereits ein revolutionärer Vorgang wäre? Ist unser Milieu, sind unsere Mandatsträger “revolutionär” in diesem Sinne, also: zu umwälzenden Akten in der Lage – innerlich, seelisch, fachlich, weltanschaulich? Wie ist das, wenn es nach CSU zu müffeln beginnt, und nach Zauberberg, dessen Umtrieb denjenigen, der hineingerät, zum Teil des Betriebs macht – die “da unten”, wir “hier oben”?
Ich muß so fragen dürfen. Viel Anstrengung steckt in dem, was aufgebaut ist. Und so war das also der Sinn dieser Reise: Vortragend die Frage zu stellen, was wir noch wollen können, und nach Antworten auf der Höhe der Zeit zu suchen. Denn es ist wichtig, ab und an eine Antwort zu erhalten, die niemandem etwas vormacht und die ein Ausgangspunkt sein könnte für die nächste Frage und den nächsten Schritt.
Dietrichs Bern
Nun, in der Tat gibt es nicht wirklich "AFD-Erfolge" sondern ein kleines Bewusstseinswachstum, dass das was da zwischen Migration und Wirtschaftsabschwung, Energie- und Gendergehampel heranwächst, eben existenzbedrohend ist und zwar trotz Medienvorhang. Was das "austrägt" ? Ich kann dazu auch nichts sinnvolles meinen. Immerhin weiß ich von Frau Sommerfeld, dass man das Richtige tut eben weil es richtig ist. Ich glaube nicht, dass mehr bleibt.