Früh schon mußte man mit seinem Taschengeld auskommen, während es andere gab, die mehr davon hatten oder denen zwischen den Festen Wünsche erfüllt wurden. Man kam damit zurecht, wie es derjenige tun muß, der heute fürs gleiche Geld nur noch den halben Einkaufswagen füllen kann. Ich sprach mit einem Mann, der mit fünfzehn auf dem Bau lernte, seit der Wende von Zeitarbeitsfirmen verliehen wurde und nun, nach fünfzig Jahren, mit ledernem Gesicht keine tausend Euro Rente nach Hause trägt. Das klingt anders als das Geflenne eines Schülers, dessen Handyvertrag bei komplexeren Inhalten immer noch nur das begrenzte Datenvolumen von vor drei Jahren gewährt. Beide müssen sie zurechtkommen, und es ist eine Frage des Maßstabs, wie sehr das eine und das andere den Eindruck hervorrufen, »mit etwas leben zu müssen«.
Von der Warte der Kriegsgeneration aus sind das Kinkerlitzchen, das eine sowieso. Das Leben dieser Generation bestand zur Hälfte daraus, einen verläßlichen, entlastenden Zustand wiederherzustellen – einen also, an den sie sich erinnerte, weil es ihn gegeben hatte und weil das selige Jahre gewesen waren, in denen man wachsen und sich ausbreiten konnte. Einem Teil derer, die nach dem Kriege zurechtkommen mußten, gelang das nicht mehr. Es gibt ein Vertriebenentrauma, das nicht mehr zu heilen war. Es kann sich in seinen Mustern bis in die Generation der Enkel fortsetzen, die oft nicht wissen und nicht ahnen, wo ihr tief eingeprägtes Gefühl der Vorläufigkeit und der Infragestellung seinen Ursprung haben könnte.
Wer einmal mit jemandem, der schon nicht mehr selbst von dorther kam, an der Oder, in Masuren, in Böhmen stand und Tränen rinnen sah, die eben nicht aus dem Nichts kamen, sondern aus der jähen Erkenntnis, nun dort zu sein, wo der Strunk stand und wo das Verlorene die Hände ausstreckt, sozusagen – nicht das bißchen Haus und Feld, sondern das seelisch Verlorene, das, was plötzlich und grausam abgerissen worden war; wer so einmal dabeistand und dann stundenlang hinterherzulaufen hatte, während derjenige, der nun zu Hause war, endlich, in allen Sträßchen, Eckchen, Räumchen, Gärtchen und vor allem auf den Grabsteinen nach dem Verlorenen stöberte und es wieder in Besitz nahm, es an sich riß als Geruch, Farbe, Birne, Mauerstückchen, als Mahlzeit und als Gang durch den Umkreis, den man sich so erobert hätte, wäre man dort aufgewachsen, wo man unbedingt hätte aufwachsen wollen; wer das also sah und miterlebte, ganz undramatisch für den Gang der Welt, aber dramatischer als vieles andere für den, der aus solchen Familien stammt und nun zur Aussöhnung hin gebeutelt wird, zur Aussöhnung mit mancher Schrulle und Spröde derjenigen, die von Pferdekarren und Viehwaggons, ewigem Warten und toten Kindern nicht nur lasen – der wird seine Maßstäbe prüfen und nicht auf hohem Niveau zu jammern beginnen.
Wir werden zurechtkommen müssen, aber wir haben alle Möglichkeiten dazu, sogar dann, wenn es zu dem kommt, was man eine »gesellschaftliche Kernschmelze« nennen könnte: eine Implosion der Funktionalität, der Verläßlichkeit, der flächendeckenden Versorgung; Planung wird aufwendiger werden, Orte werden halbe Wüstungen sein und auf dem Niveau rumänischer Zigeuner zerwohnt werden. Keine Aufstände, kein harter Widerstand, eher Rückzug, Ausweichbewegungen, sich an- und einpassen in das, was schleichend verlorengeht, nicht als Vertreibung, nicht durch das brutale Kappen der Wurzeln, sondern verschlissen oder sehr bewußt aufgrund eigener Entscheidung: ins Erzgebirge, also in den Winter ziehen beispielsweise, dorthin, wo kaum jemand sein will, der nicht von dorther kommt.
Jenseits aller politischen Transformation ins Chaos sagt uns schon die Demographie, was dräut. In Sachsen kamen 2016 Monat für Monat noch knapp 3000 Kinder zur Welt, in den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es durchschnittlich noch 2000, also ein Drittel weniger. Wir werden zurechtkommen damit, was sonst. Aber es wird anders sein als das, was uns die politischen Romantiker unserer Zeit weismachen wollen.