Zurechtkommen

Die Lehre vom Zurechtkommen ist eine, die nicht in Lehrbüchern steht, sondern dem, der es muß, bei Gelegenheit zuteil wird. Es ist die Lehre davon, zurechtzukommen mit Situationen, in denen die Verhältnisse normalerweise anders geregelt sind.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Früh schon muß­te man mit sei­nem Taschen­geld aus­kom­men, wäh­rend es ande­re gab, die mehr davon hat­ten oder denen zwi­schen den Fes­ten Wün­sche erfüllt wur­den. Man kam damit zurecht, wie es der­je­ni­ge tun muß, der heu­te fürs glei­che Geld nur noch den hal­ben Ein­kaufs­wa­gen fül­len kann. Ich sprach mit einem Mann, der mit fünf­zehn auf dem Bau lern­te, seit der Wen­de von Zeit­ar­beits­fir­men ver­lie­hen wur­de und nun, nach fünf­zig Jah­ren, mit leder­nem Gesicht kei­ne tau­send Euro Ren­te nach Hau­se trägt. Das klingt anders als das Geflen­ne eines Schü­lers, des­sen Han­dy­ver­trag bei kom­ple­xe­ren Inhal­ten immer noch nur das begrenz­te Daten­vo­lu­men von vor drei Jah­ren gewährt. Bei­de müs­sen sie zurecht­kom­men, und es ist eine Fra­ge des Maß­stabs, wie sehr das eine und das ande­re den Ein­druck her­vor­ru­fen, »mit etwas leben zu müssen«.

Von der War­te der Kriegs­ge­nera­ti­on aus sind das Kin­ker­litz­chen, das eine sowie­so. Das Leben die­ser Gene­ra­ti­on bestand zur Hälf­te dar­aus, einen ver­läß­li­chen, ent­las­ten­den Zustand wie­der­her­zu­stel­len – einen also, an den sie sich erin­ner­te, weil es ihn gege­ben hat­te und weil das seli­ge Jah­re gewe­sen waren, in denen man wach­sen und sich aus­brei­ten konn­te. Einem Teil derer, die nach dem Krie­ge zurecht­kom­men muß­ten, gelang das nicht mehr. Es gibt ein Ver­trie­ben­en­trau­ma, das nicht mehr zu hei­len war. Es kann sich in sei­nen Mus­tern bis in die Gene­ra­ti­on der Enkel fort­set­zen, die oft nicht wis­sen und nicht ahnen, wo ihr tief ein­ge­präg­tes Gefühl der Vor­läu­fig­keit und der ­Infra­ge­stel­lung sei­nen Ursprung haben könnte.

Wer ein­mal mit jeman­dem, der schon nicht mehr selbst von dort­her kam, an der Oder, in Masu­ren, in Böh­men stand und Trä­nen rin­nen sah, die eben nicht aus dem Nichts kamen, son­dern aus der jähen Erkennt­nis, nun dort zu sein, wo der Strunk stand und wo das Ver­lo­re­ne die Hän­de aus­streckt, sozu­sa­gen – nicht das biß­chen Haus und Feld, son­dern das see­lisch Ver­lo­re­ne, das, was plötz­lich und grau­sam abge­ris­sen wor­den war; wer so ein­mal dabei­stand und dann stun­den­lang hin­ter­her­zu­lau­fen hat­te, wäh­rend der­je­ni­ge, der nun zu Hau­se war, end­lich, in allen Sträß­chen, Eck­chen, Räum­chen, Gärt­chen und vor allem auf den Grab­stei­nen nach dem Ver­lo­re­nen stö­ber­te und es wie­der in Besitz nahm, es an sich riß als Geruch, Far­be, Bir­ne, Mau­er­stück­chen, als Mahl­zeit und als Gang durch den Umkreis, den man sich so erobert hät­te, wäre man dort auf­ge­wach­sen, wo man unbe­dingt hät­te auf­wach­sen wol­len; wer das also sah und mit­er­leb­te, ganz undra­ma­tisch für den Gang der Welt, aber dra­ma­ti­scher als vie­les ande­re für den, der aus sol­chen Fami­li­en stammt und nun zur Aus­söh­nung hin gebeu­telt wird, zur Aus­söh­nung mit man­cher Schrul­le und Sprö­de der­je­ni­gen, die von Pfer­de­kar­ren und Vieh­wag­gons, ewi­gem War­ten und toten Kin­dern nicht nur lasen – der wird sei­ne Maß­stä­be prü­fen und nicht auf hohem Niveau zu jam­mern beginnen.

Wir wer­den zurecht­kom­men müs­sen, aber wir haben alle Mög­lich­kei­ten dazu, sogar dann, wenn es zu dem kommt, was man eine »gesell­schaft­li­che Kern­schmel­ze« nen­nen könn­te: eine Implo­si­on der Funk­tio­na­li­tät, der Ver­läß­lich­keit, der flä­chen­de­cken­den Ver­sor­gung; Pla­nung wird auf­wen­di­ger wer­den, Orte wer­den hal­be Wüs­tun­gen sein und auf dem Niveau rumä­ni­scher Zigeu­ner zer­wohnt wer­den. Kei­ne Auf­stän­de, kein har­ter Wider­stand, eher Rück­zug, Aus­weich­be­we­gun­gen, sich an- und ein­pas­sen in das, was schlei­chend ver­lo­ren­geht, nicht als Ver­trei­bung, nicht durch das bru­ta­le Kap­pen der Wur­zeln, son­dern ver­schlis­sen oder sehr bewußt auf­grund eige­ner Ent­schei­dung: ins Erz­ge­bir­ge, also in den Win­ter zie­hen bei­spiels­wei­se, dort­hin, wo kaum jemand sein will, der nicht von dort­her kommt.

Jen­seits aller poli­ti­schen Trans­for­ma­ti­on ins Cha­os sagt uns schon die Demo­gra­phie, was dräut. In Sach­sen kamen 2016 Monat für Monat noch knapp 3000 Kin­der zur Welt, in den ers­ten sechs Mona­ten die­ses Jah­res waren es durch­schnitt­lich noch 2000, also ein Drit­tel weni­ger. Wir wer­den zurecht­kom­men damit, was sonst. Aber es wird anders sein als das, was uns die poli­ti­schen Roman­ti­ker unse­rer Zeit weis­ma­chen wollen.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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