Adenauer drängte sich selbst und damit auch seine Zielsetzungen – hier allerdings bei Bedarf geschmeidig – sichtlich und auch gegenüber Parteifreunden mit wenig Skrupeln behaftet nach vorn, an die Spitzen und schließlich an die Spitze schlechthin, an der er sich 14 Jahre behaupten sollte. Zu Recht wird, hinsichtlich des Einflusses der Persönlichkeit, die von 1949 bis 1963 währende Kanzlerschaft als »Ära« mit seinem Namen verbunden.
Entscheidender Höhepunkt des Prozesses, der als Adenauers Machtergreifung zu bezeichnen ist, sollten zwei von ihm initiierte Zusammenkünfte am 20. und 21. August 1949 werden. Eine Woche zuvor, am 14. August, war der erste Deutsche Bundestag gewählt worden. CDU und CSU waren mit 31 Prozent zwar stärkste Kraft, die Zukunft des westdeutschen Teilstaates war aber noch offen, zumal das am 23. Mai verabschiedete Grundgesetz vor allem in der Frage der Wirtschaftsordnung keinerlei Festlegung getroffen hatte. Festgeschrieben war lediglich, daß die Bundesrepublik »ein demokratischer und sozialer Bundesstaat« (Art. 20, Abs. 1) sei. Die marktwirtschaftliche Ausrichtung und die enge Einbindung in das westliche Bündnissystem, bei der das Streben nach der Einheit Deutschlands schnell zur pflichtschuldigen Feierstundenphrase verkam, gingen entscheidend auf das Wirken Adenauers zurück. Der Rahmen war durch die Sieger und den aufkommenden Kalten Krieg gegeben, die verbleibenden Handlungsspielräume nutzte Adenauer ausgiebig zum Ausbau seiner Machtbasis. Trotz der von einer mitunter ans Hagiographische grenzenden Geschichtsschreibung immer wieder hervorgekehrten Monita gegenüber den westlichen Besatzern konnten sich sein Aufstieg und die Festigung seiner Stellung letztlich kaum gegen deren Willen vollziehen.
Adenauer, Jahrgang 1876, war 1917 Oberbürgermeister von Köln geworden. Er gehörte dem Zentrum an und wurde in der Weimarer Zeit mehrfach als Kandidat für das Amt des Reichskanzlers gehandelt. Vom NS-Regime 1933 abgesetzt, überdauerte er die Zeit bis zum Zusammenbruch als Pensionär, kurzzeitig war er inhaftiert. Nach Kriegsende hatten ihn die britischen Besatzer in sein altes Amt eingesetzt, nach Differenzen allerdings bereits im Oktober 1945 wieder entlassen.
Adenauer richtete seinen Ehrgeiz nun zunächst auf die Partei. Die CDU war, nach Maßgabe der Besatzer, ab Sommer 1945 auf lokaler und regionaler Ebene und an verschiedenen Orten parallel unter verschiedenen Namensvarianten entstanden. An der Kölner Gründung war Adenauer nicht beteiligt, auch wenn wohlwollende Historiker ihm ex post eine Mitarbeit zuzuschreiben versuchen. Seine Distanz zur linken Ausrichtung, dem »christlichen Sozialismus« der maßgeblichen Initiatoren, gilt als wesentlicher Grund für seine Zurückhaltung. Den Anspruch der in der Sowjetischen Besatzungszone entstandenen CDU, von ihrer Berliner »Reichsgeschäftsstelle« aus für eine – organisatorisch nicht existente – gesamtdeutsche Partei zu sprechen, erkannte er nicht an. Der dortige Vorsitzende Andreas Hermes, in der Weimarer Zeit Finanz- und Landwirtschaftsminister, im Januar 1945 aufgrund seiner Beteiligung am Widerstand zu einer dann nicht mehr vollstreckten Todesstrafe verurteilt, hatte gegenüber den Sowjets einen schweren Stand und wurde schließlich von ihnen abgesetzt. Sein Bestreben, sich vom Westen aus als Parteiführer zu etablieren, wurde vor allem von Adenauer ausgebremst.
Exemplarisch für Adenauers selbstbewußten Griff nach der Führung stehen die Ereignisse in Herford am 22. Januar 1946. Geladen hatte der dortige Bürgermeister Friedrich Holzapfel. Ein Vorsitzender der CDU in der britischen Besatzungszone sollte gewählt werden. (Übrigens die einzige der Westzonen, in der ein Zusammenschluß der Partei auf dieser Ebene stattfand, die CDU als Bundespartei wurde formell erst im Oktober 1950 gegründet.) Adenauer, lediglich einer von 26 Delegierten, nahm, wohl auch zur Überraschung Holzapfels, mit der Bemerkung, er sei »wohl der Älteste hier«, auf dem Stuhl des Versammlungsleiters Platz und präsidierte. Den Vorsitz in der britischen Zone beanspruchte der ebenfalls angereiste Hermes. Als bekannte Autorität und als Berliner CDU-Gründer, der den Sowjets die Stirn geboten hatte, war er für die Ambitionen Adenauers zumindest gefährlich. Hinzu kam in diesem Kreis die Legitimation durch seine Widerstandstätigkeit – Adenauer selbst hatte sich trotz mehrfacher Bitten seinerzeit an einer Verschwörung gegen Hitler nicht beteiligt. In Herford nun verweigerte Adenauer Hermes kurzerhand die Teilnahme an der Sitzung, mit der Begründung, dieser sei ja kein Mitglied der CDU der britischen Zone. Beruhigt wurde Hermes zudem durch die Mitteilung, die Wahl sei zurückgestellt. Eine glatte Lüge: Am Ende des Tages war Adenauer gewählter Vorsitzender der britischen Zone. Er fungierte zudem als Vorsitzender der CDU im (nördlichen) Rheinland und führte die Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen sowie die Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU, ein seit 1947 bestehendes Verbindungsgremium der organisatorisch separaten Unionsparteien der Westzonen.
Begünstigend für seinen Aufstieg war, daß er aufgrund seiner Tätigkeit bis 1933 auf zahlreiche Verbindungen zurückgreifen konnte, daß er bezüglich der NS-Zeit in keiner Weise als »belastet« galt, daß die Entlassung durch die Briten als Bürgermeister ihm den Nimbus einer besonderen Standhaftigkeit gegenüber den Besatzern verliehen hatte und daß er frei von materiellen Sorgen agieren konnte. Vor allem aber kam ihm sein Alter, verbunden mit einer immensen Strapazierfähigkeit, zugute. Eine längere Laufbahn und Ehrgeiz hinsichtlich einer auch zeitlich umfassenden Wirksamkeit traute ihm kaum jemand zu. Er selbst kokettierte gern kalkulierend mit seinem Alter. Noch in seinen Erinnerungen vermerkte er triumphierend, er habe 1949 diesbezügliche Zweifel an seiner Eignung als Kanzler damit ausgeräumt, daß er erklärte, sein Arzt habe ihm versichert, er könne das Amt nicht nur für ein, sondern »auch für zwei Jahre« ausüben.
Die Entscheidung über die deutsche Teilung hatten die Kriegssieger getroffen. Adenauer hatte den östlichen Teil für sich allerdings früh abgeschrieben und blieb auf dieser Linie; jegliche Verbindungsversuche waren ihm nicht nur suspekt, er bekämpfte sie vehement. Bereits im Oktober 1945 beschied er, »der von Rußland besetzte Teil« sei »für eine nicht zu schätzende Zeit für Deutschland verloren«. Er mokierte sich im Dezember 1946 über Jakob Kaiser – Nachfolger von Hermes als CDU-Vorsitzender in der Sowjetzone und später ebenfalls abgesetzt – und dessen Äußerungen »über eine Synthese Ost-West, über den sozialen Wind aus dem Osten, der in den Westen wehen müsse«. Vor Ende 1947 war er der Meinung, daß Westdeutschland sich »ohne die Gebiete im Osten« zu organisieren habe, und erklärte im August 1948, auf eine Wiedervereinigung sei »noch sehr lange zu warten«. Als im Herbst 1949 kurzzeitig die Überlegung aufkam, seinem alten Konkurrenten Hermes das Landwirtschaftsministerium zu übertragen, war dessen »Godesberger Kreis«, der die Wiedervereinigung und Beziehungen nach Osteuropa im Blick hatte, ein wesentliches Argument, von der Berufung abzusehen. Für Adenauers Position gegenüber dem östlichen Landesteil war neben irrationalen Ressentiments – kolportiert wird, für Adenauer habe östlich der Elbe Asien begonnen – und begründbar empfundenen Bedrohungsgegebenheiten wohl auch die Tatsache maßgeblich, daß er im – überwiegend katholischen – Westen über eine Machtbasis verfügte, die sich im Falle eines Zusammenschlusses aller vier Zonen zumindest in dieser Form nicht hätte aufrechterhalten lassen können.
Auf Ludwig Erhard wurde Adenauer erst durch dessen Tätigkeit als Direktor für Wirtschaft im Wirtschaftsrat der Bizone aufmerksam. Zunächst skeptisch, war Erhards sichtbarer Erfolg des Wagnisses mit der Währungsreform vom Juni 1948 Anlaß für Adenauer, dessen marktwirtschaftliches Konzept, bald gern mit dem Zusatz »sozial« versehen, zu seinem Projekt zu machen. Es galt, den linken CDU-Flügel, die von ihm ohnehin ungeliebten Anhänger eines »christlichen Sozialismus«, abzudrängen. An die Stelle des Ahlener Programms der Partei vom Februar 1947, welches noch Forderungen nach Vergesellschaftung enthielt, traten im Juli 1949 die Düsseldorfer Leitsätze, ein klares Bekenntnis zur liberalen Wirtschaftspolitik Erhards. Adenauer wußte den parteilosen, sendungsbewußten Optimisten öffentlichkeitswirksam einzuspannen.
Die Londoner Empfehlungen vom Juni 1948, als deren Ergebnis den Ministerpräsidenten der Westzonen die Frankfurter Dokumente übergeben wurden, die zur Gründung des westdeutschen Teilstaates aufforderten, hatte Adenauer zunächst mit Empörung aufgenommen. Die vorbehaltenen Kontrollrechte stellten sich ihm so restriktiv dar, daß er erklärte, »der Versailler Vertrag ist dagegen ein Rosenstrauß«, und überlegte, ob die Deutschen nicht durch »Verweigerung der Mitarbeit« wenigstens »ihre Ehre vor der Nachwelt« retten sollten. Mit der ihm eigenen Geschmeidigkeit fügte er sich bald aber nicht nur in die Gegebenheiten, sondern erkannte wohl auch das Potential für den Ausbau der eigenen Position. Schon bei der Rittersturz-Konferenz – benannt nach dem Tagungsort, einem Koblenzer Hotel – im Juli 1948, auf der die Ministerpräsidenten über die Frankfurter Dokumente berieten und zunächst zögerten, mit der Annahme und der Ingangsetzung von Verfassungsberatungen die Teilung zu akzeptieren, ließ sich Adenauer mit der Bemerkung vernehmen: »Sind denn diese Zaunkönige noch nicht fertig?«
Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Blockade West-Berlins durch die Sowjets war der Rückhalt der Bevölkerung in den westlichen Besatzungszonen für die Schaffung eines Teilstaates zu dieser Zeit groß. Vorbereitet durch den sogenannten Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, arbeitete der Parlamentarische Rat von September 1948 bis Mai 1949 in Bonn das Verfassungswerk aus, welches, um den Provisoriumscharakter der Teilstaatsgründung wenigstens theoretisch aufrechtzuerhalten, als Grundgesetz bezeichnet wurde. Adenauer brachte sich als Präsident des Gremiums in Stellung. An der Ausformulierung des Grundgesetzes selbst hatte er keinen Anteil. Als große Leistung wird ihm angerechnet, die Fraktion von CDU und CSU zusammengehalten zu haben, die über die Frage der Ausgestaltung des Föderalismus mehrfach beinahe auseinandergebrochen wäre. Bereits seit Herbst 1948 ließ Adenauer Personallisten mit Kandidaten für die künftige Bundesverwaltung erstellen.
In den Bundestagswahlkampf 1949 ging er mit der Prämisse, nicht »große prinzipielle Erörterungen« stünden im Mittelpunkt, sondern Fragen der Wirtschaft. Als »Hauptgegner« machte er die Sozialdemokratie aus. Nach dem für die Unionsparteien mäßigen Ergebnis formte er in einer Art Privatinitiative mittels zweier Treffen seine Wunschkoalition, der er selbst vorstehen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt, dem Wochenende des 20./21. August 1949, war noch nicht ausgemacht, daß Adenauer die Kanzlerschaft übernehmen würde, auch wurde von einer Reihe maßgeblicher Unionspolitiker eine Große Koalition favorisiert. Adenauer war vehement dagegen, er fürchtete nicht nur den wirtschaftspolitischen Einfluß der SPD, sondern auch um seine eigene Machtbasis. Am 20. August traf er in Frankfurt am Main mit dem bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Hans Ehard zusammen und legte diesen auf eine Koalition der Unionsparteien mit der FDP fest; Ehard wurde das Amt des Bundesratspräsidenten offeriert – eine Kalkulation, die später nicht aufging, wofür die CSU im ersten Kabinett Adenauer Kompensationsansprüche geltend machen sollte. Am Folgetag, einem Sonntag, waren in Adenauers Wohnhaus 26 Herren, allesamt Unionspolitiker, versammelt. Von der Forschung als »Rhöndorfer Weichenstellung« bezeichnet, gelang es Adenauer, ebenfalls eine Übereinkunft bezüglich einer Koalition mit der FDP zu erreichen. Da die Stimmenmehrheit damit allerdings nicht erreicht war, wurde den Anwesenden die Deutsche Partei (DP) als weiterer Koalitionspartner schmackhaft gemacht. Der Hausherr erklärte: »Die wichtigste Persönlichkeit ist der Bundeskanzler. Präsident soll ein anderer werden, ich will Kanzler werden.« Das höchste Staatsamt wurde bei dem Treffen regelrecht verschachert, der FDP und namentlich Theodor Heuss wurde es für die Koalitionsgeneigtheit zugesprochen.
Leicht gemacht hatte es Adenauer der die SPD beherrschende Kurt Schumacher. Der charismatische Vorsitzende drängte seine Partei nach der Wahl in die Oppositionsrolle und war mit Angriffen auf den politischen Gegner wenig zurückhaltend. Seinem bekannten Diktum aus dem November 1949 vom »Bundeskanzler der Alliierten« war bereits im Augustwahlkampf die Äußerung vorausgegangen: »Einen Mann namens Konrad Adenauer kenne ich überhaupt nicht, das ist doch eine Erfindung der Alliierten.« Derartiges machte es für die Anhänger einer Großen Koalition sowohl in den Reihen der SPD als auch der Union nicht einfacher.
Nicht alles verlief nach den Wünschen Adenauers, etwa die Regierungsbildung. Eine der großen Hypotheken war hier der ihm als Innenminister nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Frage nach der konfessionellen Parität eher aufgenötigte Gustav Heinemann, damals in der CDU – seinen Werdegang sollte er als SPD-Bundespräsident beschließen. Insgesamt jedoch war mit Adenauers erfolgreichem Griff nach der Macht das Fundament für seine langjährige, nahezu unangefochtene Stellung und damit für die Ausrichtung der Bundesrepublik gelegt – eine Entwicklung, die zwar von einem äußeren Rahmen begrenzt, aber zumindest in diesem nicht alternativlos war.