Wie kann eine solche Verklärung des Fremden gedeutet werden, die mit einer eifrigen, oft bis ins Absurde vorangetriebenen Anschwärzung alles Eigenen verbunden sei, fragt der Verfasser des genannten Artikels. Ihm fällt dazu neben anderem das Leiden der Deutschen an ihrer neuesten Geschichte ein. Eine ungehemmte islamische Zuwanderung würde das allfällige deutsche Schuldbewußtsein allmählich ins Leere laufen lassen. Die Deutschen müßten sich endlich nicht mehr als Täternation empfinden, sondern könnten sich vielleicht »in eine muslimische Opferkultur einfügen«.
Daß der Verfasser mit seinen Erklärungsversuchen nicht die Vorstellungen der breiten Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Auge hat, sondern die Obsessionen der seit Jahrzehnten die öffentlichen Debatten beherrschenden linksintellektuellen Minderheit beschreibt, sei ausdrücklich betont. Dem durchschnittlichen Deutschen ist die Islamophilie, die ihm von jener politisch-medialen Führungsschicht eingetrichtert wird, durchaus suspekt. Konservative Kreise bestätigen ihn in dieser Skepsis.
Um so mehr überrascht es, wenn nun vereinzelt auch in Schriften, deren Autoren sich dem konservativen Spektrum zurechnen, vor einer Ablehnung der Einwanderung kulturfremder Massen gewarnt wird. Vielmehr sei gerade das in ihnen verborgene Potential einer Zurückdrängung des linkslibertären Gedankengutes zu nutzen. An zwei sehr unterschiedlichen Beispielen soll diese Argumentation dargelegt werden.
Das erste, der Band Das neue Volk von Simon Kießling, stimmt nicht in die Thesen des Autors der NZZ ein: Der Gedanke, im Umweg über die Islamisierung Deutschlands in einer nun zu schaffenden »Opferkultur« das Leiden an der deutschen Geschichte zu kompensieren, liegt Kießling völlig fern. Er nimmt einen Standpunkt ein, von dem aus er das Schicksal der Völker an sich überblickt. Aufstieg, Blüte und Niedergang seien gleichsam natürliche Entwicklungsstufen, die die Völker durchliefen. Unmöglich sei es, diesen Gang der Geschichte an einer bestimmten Stelle, etwa bei der Blütezeit, anzuhalten. Bereits Ernst von Lasaulx habe dies in seiner geschichtsphilosophischen Studie Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie, die 1856 erschien, unter vielerlei Gesichtspunkten dargelegt. Das Leben wachse von unten nach oben, aus dem Bauernstand erhebe sich das Bürgertum, aus diesem der Kriegerstand und die Priesterschaft, über sie alle gewinne der Adel Macht, der seinerseits dem Fürsten untertan werde. Der Verfall beginne an der Spitze, durchsetze die Volksgemeinschaft mithin von oben nach unten, und schließlich infiziere die Dekadenz die Bürger und Bauern. Die Ideale, die den Aufbau von unten nach oben ermöglicht hätten, zersetzten sich von oben nach unten und verwandelten schließlich das Volk in eine amorphe Masse, eine »buntscheckige Untertanenschaft«, die sich einem Cäsarismus der übrigbleibenden Mächtigen beugen müsse.
Kießling beruft sich für diese Sicht der Geschichte auch auf Oswald Spengler sowie für die gegenwärtigen Verhältnisse in Deutschland auf Rolf Peter Sieferles grundlegendes Werk Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Kießling möchte nicht darüber klagen, daß im heutigen Europa, vor allem in Deutschland, die libertäre Linke das geistige Leben dominiert. Nicht sie hat den bereits durch Ernst von Lasaulx beschriebenen Zerfall des staatlichen und gesellschaftlichen Gefüges herbeigeführt, sie sei nichts als das blinde Werkzeug schicksalhafter historischer Prozesse, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, seit der Französischen Revolution, beobachten ließen.
Wenn die von konservativer Seite so bitter beklagten heutigen Verhältnisse – Verlust der nationalen Bindung, Verlust der familiären Bindungen, Verlust eines von der eigenen Bequemlichkeit absehenden Leistungsethos – Symptome einer unabwendbaren, natürlichen Entwicklung sind, dann gehen alle Bemühungen des Bewahrens ins Leere. Erstens sei eine bürgerliche Gegenrevolution der Leistungsträger, wie sie von einigen Konservativen erhofft werde, angesichts der geschilderten allgemeinen Entwicklung ausgeschlossen, meint Kießling. Des weiteren sei nicht anzunehmen, daß es gelingen werde, die aus sozialen Gründen nach Europa einströmenden kulturfremden Massen in die Ursprungsländer zurückzuführen. Aussichtslos sei auch die von dem Historiker und Altphilologen David Engels vorgeschlagene Rückbesinnung auf die Kernbereiche der abendländischen Lebensweise und Kultur, eine, wie dieser sagt, »hesperialistische« Bewältigung der Krise (West-)Europas; diese könnte von hierzu berufenen Regionen ausgehen, deren Strahlkraft sich allmählich in ganz Europa positiv bemerkbar machen würde.
Kießling ist sich sicher, daß derlei Aussichten nicht bestehen. Der seiner Ansicht nach mit Notwendigkeit ablaufende Verfallsprozeß, der zu einem nackten Menschsein führe, das von allen geschichtlichen Qualitäten »gereinigt« sein werde, gehe unaufhaltsam der Vollendung entgegen: Die in linksgrünen Kreisen übliche Leugnung der eigenen, europäischen Daseinsberechtigung, verbunden mit dem Mangel an Selbstbehauptungswillen, nicht zuletzt die Zerstörung der Familie und damit einhergehend die Delegitimierung der Fortpflanzung führten zu unumkehrbaren Verhältnissen. »Konservativ« könne unter diesen Voraussetzungen nur heißen, diese Sachlage anzuerkennen und von solcher Anerkennung aus Entwicklungen anzustreben, die sich in irgendeiner Weise den »konservativen« Idealen annähern.
Kießling spricht sich dafür aus, einen »Weg ins Offene« zu suchen, nicht einen Weg zurück oder ein Ringen um ein bloßes Bewahren. Unter bewußter Aufnahme »außerabendländischer Potenzen« solle eine »neue Volklichkeit« geschaffen werden, so daß den »migrantischen Elementen« die fruchtbare Mitwirkung an einem Gemeinwesen gelingen werde, das sie einerseits als das ihrige empfänden und das andererseits wesentlichen Grundsätzen des Abendlandes verpflichtet sei. Seine Hoffnungen faßt Kießling so zusammen: »Das neue Volk, die neue Nation, tritt ins Leben, indem sich eine Elite aus dem real existierenden multiethnischen Substrat hervorschält […] und [sich] als eigene, originäre Elite konstituiert, die entschlossen ist, einen neuen Zyklus zu initiieren.« Kießling meint den Neubeginn jener schicksalhaften Entwicklung »von unten nach oben«, deren abschreckenden Verfall »von oben nach unten« wir gerade erleben.
Kießlings allgemeiner Diagnose der heutigen Gegebenheiten kann man im Grundsatz zustimmen; sie stützt sich, wie angedeutet, auf Aussagen weithin anerkannter Geschichtsdenker. Aber ist der Traum von einem »neuen Volk« nicht allzu wirklichkeitsfern? Es handelt sich doch lediglich um eine Abwandlung des »hesperialistischen« Ideals, das David Engels verficht; nur daß dieser sich nicht die Hoffnung macht, in den kulturfremden Massen der Eingewanderten könnten sich Individuen finden, die bereit wären, zusammen mit konservativen Autochthonen eine neue, zukunftsorientierte Elite zu bilden. Konkrete Hinweise auf eine solche Möglichkeit fehlen. Welche Voraussetzungen müßten erfüllt sein, damit eine solche Entwicklung in Gang käme, sowohl auf der Seite der Eingewanderten als auch bei den Autochthonen? Mit diesen Fragen, die sich aus Kießlings Darlegungen ergeben, bleibt der Leser allein.
Das zweite Beispiel konservativer Gegenwartsbewältigung bietet die Abhandlung von Frederic Höfer, deren Titel, Feindbild Islam als Sackgasse. Plädoyer für einen Kurswechsel, dem Leser bereits den Gedankengang verrät, womöglich sogar aufdrängt, der im Buch verfolgt wird. Als Eideshelfer bemüht Höfer neben anderen Michel Houellebecq, der in seinem Roman Unterwerfung einen der Protagonisten sagen läßt: »Und von meinem ersten Studienjahr an habe ich mich der identitären Bewegung angenähert. […] Ich habe aus den Aktivitäten meiner Jugendzeit nie einen Hehl gemacht […] meine neuen muslimischen Freunde haben nie auch nur daran gedacht, mir vorzuwerfen, daß ich mich bei der Suche nach einem Weg, dem atheistischen Humanismus zu entkommen, als erstes meiner eigenen abendländischen Tradition zuwandte.« Für Höfer ist dies augenscheinlich der idealtypische Entwicklungsgang eines Konservativen, der, von der nur geringen verbliebenen Anziehungskraft der »abendländischen Tradition« enttäuscht, sich dem auftrumpfenden Islam zuwendet, um dem atheistischen Humanismus eine kraftvolle, festen Halt gewährende theistische Überlieferung entgegenzusetzen.
In der heutigen deutschen Rechten sei die Annäherung an den Islam ein Tabu, klagt Höfer und nennt einige Versuche, dieses Tabu zu überwinden, die aber ohne starken Widerhall geblieben seien. Eine an der Wirklichkeit ausgerichtete »rechte« Politik müsse vorbehaltlos zur Kenntnis nehmen, daß die Einwanderung von Millionen Muslimen eine die Zukunft Deutschlands bestimmende Tatsache sei, die die Zusammensetzung des Volkes tiefgreifend und nachhaltig verändern werde; dabei könne »das Ethnobewußtsein der Migranten […] heilend auf jenes der Deutschen zurückspiegeln«. Gerade der Islam sichere das »ethnokulturelle Überleben« der Einwanderer in einer europäischen Umwelt, die sich durch Disziplinlosigkeit, Familiensterben, sexuelle Freizügigkeit usw. auszeichne. Im übrigen trete der Islam der westlichen Zivilisation nicht als ein geschlossener Block gegenüber, sondern zerfalle in die einzelnen Ethnien, denen die Einwanderer angehören; es gebe in der Wirklichkeit türkische, arabische, kurdische, albanische und andere Muslime. Die Abneigung und der Kampf gegen den einen Islam, die durch die von einer »globalistischen Elite« ins Werk gesetzte muslimische Masseneinwanderung hervorgerufen würden, seien in Wahrheit »ein politisches Instrument zur Entfremdung der Europäer vom Islam«. Folglich werde »die natürliche Abwehr des europäischen Bürgers gegen Überfremdung im eigenen Land zu einer außenpolitischen Frontstellung Europas gegen den Islam« mißbraucht. Dies führe zu der allfälligen Verschmelzung der Migrations- mit der Islamfrage und zur fatalen Verquickung innenpolitischer und außenpolitischer Themen, was nach Höfer und den von ihm zitierten Autoren den Zielen der »globalistischen Elite« dienlich ist.
Höfer kommt es in Anbetracht dieses von ihm als höchst kritikwürdig gerügten Gedankenknäuels zunächst darauf an, die von der Rechten geübte Islamkritik zu entkräften, die der Verfestigung jener Vorstellungen in unguter Weise Vorschub leiste. Hierbei bezieht er sich, wie auch schon zuvor mehrfach, auf Äußerungen, die auf Thor v. Waldstein zurückgehen. Dieser behauptet, der islamische Extremismus sei keineswegs religiöser Natur, sondern vorwiegend politisch geprägt. Die negativen Erfahrungen, die die islamische Welt mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs machte – man denke an das Sykes-Picot-Abkommen und die Balfour-Erklärung, die im Nahen Osten das Bild vom Westen nachhaltig verdüstern –, sind in der Tat bis heute nicht vergessen. Sie bilden neben anderem auch den Hintergrund der Palästinafrage; indem sie den Massen in der arabischen Welt immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden, geben sie dem muslimischen Selbstmitleid und Opferbewußtsein ständig neue Nahrung. Die Aufsplitterung der Muslime in zum Teil miteinander verfeindete Nationalitäten wird in diesem vermeintlichen Opferstatus überwunden; denn auch die Muslime auf dem Balkan, in der Türkei, auf dem indischen Subkontinent wissen ihn mit eigenen Erzählungen zu bestätigen und zu verfestigen.
Höfer eliminiert das islamische, religiöse Element aus dem muslimischen Selbstverständnis. Nur so vermag er, den Siegermächten der beiden Weltkriege die Verantwortung für die Feindseligkeit der Muslime gegen den »Westen« zuzuschieben. Dieser Gedankenschritt ist unumgänglich, um der »konservativen« Ablehnung des Islams die Berechtigung abzusprechen. Diesem Ziel dient ferner die Aufzählung etlicher Topoi der Islamkritik, die nach Höfer unseriös sind. Unter solchen »islamfeindlichen Evergreens« nennt er den Dschihad, der prinzipiell kein Kampf gegen Andersgläubige sei; vielmehr gehe es darum, daß jeder Muslim in Erfüllung seiner Glaubenspflichten »sein Bestes geben« solle. Nur in der frühesten Geschichte der Glaubensgemeinschaft, als es um das bloße Überleben gegangen sei, habe Mohammed das Töten der Feinde gefordert. Ein anderer Dauerbrenner sei die islamische Abwertung der Frauen: Wenn sie den Ehegatten hartnäckig nicht gehorchen, mögen sie geschlagen werden, empfiehlt Sure 4, Vers 34. Hier kennt Höfer die unter heutigen Muslimen und Islamgelehrten üblichen Beschönigungen: »Schlagen« bedeute angesichts der durch Mohammed empfohlenen Hochschätzung der Frau, sich von ihr abzuwenden oder ein Mediationsverfahren einzuleiten, welches Gewalt verwerfe. Ohnehin lasse der Text des Korans nahezu beliebig viele Deutungen zu, so daß ein religiös verbindlicher Islam laut Höfer gar nicht habe entstehen können.
Das landläufige Bild des Islams beruht laut Höfer somit auf negativen Vorurteilen und auf Irrtümern: »Wenn es auch ernstzunehmende kritische Auseinandersetzungen [mit dem Islam] geben mag, so hat das vulgäre gehässige Islamfeindbild doch den größeren Fußabdruck hinterlassen.« Bedenke man die demographische Situation in Deutschland, dann werde das Verhängnis solcher den Islam ablehnenden Grundstimmung unmittelbar deutlich. Sie verhindere nämlich, die Islamfrage von der Migrationsfrage zu trennen, und führe so zu einer Perpetuierung »der Denkweise der hegemonialen Ideologie des Westens«, deren letzte Konsequenz laut Höfer in der Förderung der ungehemmten Migration besteht. Wenn die Entfremdung Europas vom Islam das sinistre Ziel der globalistischen Elite ist, dann ist die Feindseligkeit gegenüber dem Islam eine Sackgasse, denn ein Bewahren der autochthonen Lebensweise und Kultur werde so nicht gelingen; viel eher verrenne man sich in einer »aussichtslosen, kalten Bürgerkriegsposition unter liberalen Vorzeichen«.
Höfer erkennt, daß er diese Deutung der Verhältnisse mit Material unterfüttern muß, das die Ablehnung des Islams als widersinnig erscheinen läßt. Vor allem der Koran, der als die Quelle besorgniserregender machtpolitischer Bestrebungen des Islams angesehen wird, ist laut Höfer nichts weniger als das; er sei vielmehr ein »himmlischer Gesang«, mitnichten ein Parteiprogramm. Höfer beruft sich auf orientalistische Schriften, die den poetischen Charakter der arabischen Verse rühmen und von einem geradezu magischen Spiel von Laut und Sinn sprechen, das die koranischen Sätze so eindrucksvoll mache. Solche Sprachmelodik gehe in jeglicher Übersetzung verloren. Da Höfer sich mit dem Hintergrund derartiger Aussagen nicht auskennt, entgeht ihm, daß es in den betreffenden Untersuchungen um nichts anderes geht als um den islamischen Glaubenssatz der Unnachahmbarkeit des Koranstils, dem nicht zuletzt zum Zweck der Abwehr inhaltlicher Kritik am islamischen Offenbarungstext seit dem 8. Jahrhundert ein reiches islamisches Schrifttum gewidmet wird. Die muslimischen Eroberungszüge hatten weite Territorien, deren Bevölkerung seit Jahrhunderten christlich bzw. zoroastrisch geprägt war, der islamischen Herrschaft unterworfen; es sind Zeugnisse für die scharfe Kritik an dem Referenztext der neuen Herren überliefert, der als inhaltlich kurios und widerspruchsvoll, als weitschweifig und voller überflüssiger Wiederholungen empfunden wurde. Das Dogma von der Unnachahmbarkeit des Korans meinte zugleich die Unübersetzbarkeit, auf die auch in heutigen Diskussionen mit Muslimen gern verwiesen wird, sobald ein »Ungläubiger« sich auf ihn beruft: Als »Ungläubiger« kann er gar nicht Allahs authentisches Wort verstehen.
Doch zurück zu Höfer! Er wendet sich nun der Islamfeindlichkeit der AfD zu und erörtert kurz sechs Themenfelder, die er für kritikwürdig erachtet: Daß der Islam nicht zu Deutschland gehöre, wohl aber deutsche Muslime, sei ein Widerspruch; das Minarett, von dem der Gebetsruf erschalle, sei keineswegs ein islamisches Herrschaftssymbol, zumal die Kernaussage der muslimischen Glaubensbezeugung, es gebe keinen Gott außer Allah, dem einen Gott, nicht spezifisch islamisch sei; daß Musliminnen im öffentlichen Dienst kein Kopftuch tragen sollen, verstoße gegen die Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot und sei in Wahrheit ein Anliegen der religionsfeindlichen Linken; das Kopftuchverbot ziele auch nicht auf eine Befreiung der Frau von männlicher Dominanz, das Kopftuch bezwecke keine Unterordnung unter den Mann, vielmehr sollten weibliche Reize »zurückgenommen« werden, »um ihre Kostbarkeit allein dem heiligen Ehebund zu schenken«; der Vorwurf, der Islam habe keine Reformation durchlaufen, sei nichtig, da nicht gesagt werde, was mit einer Reform gemeint sei; das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels blende das Leid der in der Mehrheit muslimischen Palästinenser aus.
Was folgt für Höfer aus seiner Lobpreisung des Islams, den die »globalistische Elite« den Europäern als ihren Feind aufnötige? Höfer speist den Leser mit einem Schlagwort ab: Statt der Ablehnung des Islams solle man zusammen mit ihm eine »traditionale Wende« anstreben. Worin diese bestehen und wie sie gelingen könnte, bleibt freilich unerklärt. Sie behebe jedoch die Mißhelligkeiten zwischen den »traditional orientierten Gruppen« – also den nichtislamischen konservativ eingestellten Deutschen und den zugewanderten Muslimen – und forme aus ihnen eine »traditionale Ökumene«.
Weder Kießling noch Höfer suchen zu erkunden, ob innerhalb der kulturfremden Zuwanderer überhaupt nennenswerte Personenkreise für eine solche Ökumene zu gewinnen wären. Insbesondere Höfer, der so lebhaft für eine Verbindung mit Muslimen plädiert, hätte doch zuallererst danach fragen müssen, ob die »traditionale« Ausrichtung des Islams überhaupt mit den Ansichten der europäischen Konservativen kompatibel ist. Um es kurz zu sagen: Sie ist es nicht im mindesten. Denn was Höfer als muslimischen Traditionalismus wahrnimmt, ist ganz und gar mit dem muslimischen Überlegenheitskomplex über jede andere nichtmuslimische Daseinsordnung und Zivilisation verwoben. Täglich fünfmal beim Vollzug der rituellen Pflichtgebete wird dem Muslim eingeschärft, daß der Islam die einzig wahre Daseinsordnung sei, da sie unmittelbar auf den Gesetzeswillen des ununterbrochen das Diesseits schaffenden und gestaltenden Allah zurückgehe. Jeglichem anders geprägten Gemeinwesen wird damit die Daseinsberechtigung abgesprochen, erst recht demjenigen, das auf menschengemachten Gesetzen gründet. Um diese Überzeugung und ihre feste Verankerung in den islamischen Pflichtriten zu erkennen, bedarf es einer Beschäftigung mit dem Islam, die tiefer geht als die Lektüre einiger Artikel aus einem Konversationslexikon. Dann wird man rasch bemerken, daß die im täglichen Ritenvollzug vergegenwärtigte Eigendeutung des Islams ein Zwiegespräch von gleich zu gleich mit nichtislamischen »traditionalen« Weltauslegungen nicht zuläßt. Die nach islamischem Glauben den ungetrübten Gesetzeswillen Allahs verwirklichende Scharia mag Bestimmungen enthalten, deren Inhalt sich mit manchen nichtislamischen Regelungen deckt; beispielsweise gilt Diebstahl auch in letzteren als strafbar. Aber die Strafbarkeit des Diebstahls folgt für Muslime nicht aus diesen Regelungen, die nicht gleichwertig mit der Scharia sind, sondern allein aus letzterer. Nur was sie bestimmt, hat überhaupt den Charakter geltenden Rechts. Zeitgenössische Darstellungen aus islamischer Feder, die es in beeindruckender Qualität gibt, unterstreichen diesen Grundsatz nachdrücklich.
Der allfällige Einwand, das alles seien doch nur die Träumereien muslimischer Gelehrter, die Masse der ritentreuen Muslime kümmere sich nicht darum, verkennt völlig den auch von den Angehörigen dieser Masse gepflegten Bekehrungswillen. Daß es Pflicht sei, bei jeder irgendwie passenden Gelegenheit Andersgläubige zum Islam zu »rufen«, wird durchaus ernst genommen, meistens in einer naiven Art und Weise und bisweilen auch recht zudringlich. Dieser »Ruf« kann sich auch an Glaubensbrüder wenden, die sich nach Ansicht desjenigen, der ihn ausspricht, nicht islamisch genug verhalten. Gegen Andersgläubige wie auch gegen Glaubensbrüder ist ferner »das Befehlen des Billigenswerten und Verbieten des Verwerflichen« gerichtet, die Formel, die laut Sure 7, Vers 157, den Geltungsanspruch der islamischen Daseinsordnung selbst bei den banalsten Angelegenheiten durchzufechten verlangt. Jedem Muslim ist aufgetragen, diesem Anspruch Genüge zu tun, sei es mit der Hand, also notfalls mit Gewalt, mit Worten oder wenigstens mit dem Herzen, wie Mohammed befunden haben soll. Die islamische Literatur, die sich mit diesem Thema befaßt, ist uferlos, den Autoren Kießling und Höfer ist sie unbekannt geblieben.
In Anbetracht dieses hier nur angedeuteten Kerns islamischen Weltverständnisses, das grundsätzlich auf die Islamisierung des Erdballs zielt, sind die schariatischen Lehren vom Verhältnis zu Andersgläubigen oder Ungläubigen keineswegs nur eine Sache der Gelehrten; diese Überzeugungen formen in einem Maß das Denken des gemeinen Muslims, auch wenn dieser – situationsbedingt – im Gespräch mit Andersgläubigen vielfach »säkulare« Ansichten zu vertreten vorgibt. Der soziale Druck im Innern der Glaubensgemeinschaft läßt ein öffentliches und dauerhaftes Abweichen kaum zu. Auch auf politischer Ebene verbietet die Scharia einen unbefristeten Ausgleich mit Andersgläubigen; nur zeitlich begrenzte Abmachungen sind zulässig, und zwar wenn die islamische Seite sich in einer momentan nicht behebbaren Unterlegenheit befindet. In Gesprächen mit Muslimen hört man nicht selten die Auffassung, daß der Kippunkt in Europa in Kürze erreicht sein werde.
Schließlich die muslimische »traditionale« Ausrichtung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern und zur Familie: Die muslimischen Migranten bringen eine Zivilisation nach Europa, »in der die sexuelle Misere herrscht, da [sie] eine kranke Beziehung zur Frau« hat, wie zwei algerische Autoren zu diesem Thema feststellen. »Die Vergewaltigung ist nur der sichtbare Teil des Eisbergs; das übrige bleibt inmitten der Gesellschaft verborgen […].« Wird einmal etwas davon öffentlich, dann ist sofort die verlogene Entschuldigung parat: Mit dem Islam habe das nichts zu tun! Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit, denn die Abwertung der Frau und die diesem Zweck dienenden Bräuche sind samt und sonders durch schariatische Normen legitimiert und gelten daher dem Muslim als unentbehrliche Elemente des Gesetzeswillen Allahs.
Was die beiden Algerier mit Bezug auf Frankreich sagen, kann ohne Abstriche auf die deutschen Verhältnisse übertragen werden: Die Einheimischen »wissen nichts von dieser [muslimischen] Welt, die in [ihrem] Schoß gedeiht«, und die politisch-medialen Wortführer wollen auch nichts davon wissen. Sie befassen sich lieber mit der »Islamophobie« der Einheimischen und sichern sich dadurch, wie sie vermeinen, eine uneinholbare moralische Überlegenheit. Welche Feindseligkeit gegenüber den Andersgläubigen und Ungläubigen allein schon in den täglich im islamischen Kultus rezitierten Texten verborgen ist, interessiert sie nicht. Die Muslime, die sich der europäischen Kultur zuwenden, nehmen mit Grausen den Unwillen zeitgeistfrommer Intellektueller zu nüchterner Analyse wahr. Wenn nun Konservative vorschlagen, das Überleben ihrer Wertvorstellungen durch eine Hinwendung zum Islam zu sichern, weil anderenfalls die gesellschaftliche und politische Entwicklung über sie hinweggehen werde, dann schlagen sie nichts anderes vor, als aus Furcht vor dem Tod Selbstmord zu begehen. Doch konservativ sein und handeln heißt nicht, vor dem Zeitgeist die Segel zu streichen, sondern offensiv und mutig unsere freiheitliche Daseinsordnung zu verfechten, selbst wenn Innenministerin Nancy Faeser und ihr Ausführungsorgan, Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang, darüber die Stirn runzeln sollten. ¡
Benedict Neff: »Die deutsche Sehnsucht nach dem Islam«, in: nzz.ch vom 23. März 2024.
Simon Kießling: Das neue Volk, Schnellroda 2022.
Frederic Höfer: Feindbild Islam als Sackgasse, Dresden 2023.