Der Defekt ist chronisch: Schon aus FDJ-Versammlungen, aus Armee-Politschulungen und aus Lehrerkonferenzen ging ich hinaus, wie ich hineingekommen war, nur eben rammdösiger als vorher. Oft denke ich an Bartleby den Schreiber von Herman Melville, an seinen so einfachen wie tiefen und weltliterarischen Satz: „I would prefer not to.“ Der paßt zu meinem Unwillen Sitzungen und sogenannten Arbeitstreffen gegenüber.
Andere meinen auswertend und dabei sogar so ein bißchen erleuchtet, sie nähmen nun etwas ganz Wichtiges mit. Ich bedanke mich gleichfalls höflich für das Gebotene, klar. Aber nein, ich nehme leider – allzu ignorant? – nichts mit. Oje, ich bin kein „Teamplayer“, ich kann nur allein und eigenverantwortlich, das allerdings mit harter Selbstprüfung, so zwischen Sartre und Camus – auf Gedeih und Verderb.
Ja, eingestanden, ich freue mich über interessante Menschen, ich sehe mich überhaupt gern um, und sei’s auf der Suche nach ästhetischen Ereignissen, aber inhaltlich bin ich nur schwer zu beschenken. Andererseits vermögen das bereits eine gute Tageszeitung, ein Vers, eine Geschichte, ach, schon jeder Spaziergang oder eine Tour mit dem Rad durch die lebendige Landschaft – eine Sitzung jedoch nie.
Ich höre selten wirklich Neues, das mich erstaunt denken ließe: Oha, das habe ich auf diese berückend neue Weise wirklich noch nicht so vernommen, derart erfrischend ungewöhnlich und darüber hinaus sogar nuanciert eingängig formuliert.
Selten nur schlage ich das Notizbuch auf. Wenn doch, schreibe ich eigene Gedanken hinein, um während des Sitzungsverlaufs mein Bewußtsein wiederzubeleben. Dabei bin ich meinem Naturell nach neugierig, nur findet diese Neugier in Veranstaltungsräumen kein Ziel. Schüler fallen mir ein, die während meines Unterrichts, den ich selbst für interessant hielt, aus dem Fenster sahen, selbst wenn dort nur der herbstliche Blätterfall stattfand. Ich sehe nun gleichfalls aus dem Fenster …
Umgekehrt teile ich selbst in meinen Vorträgen nichts Neues mit, ich bewege mich allenfalls gelenkig im allzu engen Thema und versuche einigermaßen geistreich zu unterhalten, nicht zuletzt, um mich wenigstens an mir selbst nicht zu langweilen, gerade am Nachmittag, wenn alle nur noch fort wollen, wissend, es wurde absehbar das Erwartbare im Sinne lauen Standards geboten, mehr nicht.
Der einfach naheliegende Gedanke ist nicht zugelassen: Man hätte besser auf den Termin verzichten können. Mit Victor Tschernomyrdin sehr trefflich: „Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.“
An Edeladressen öffentlicher Einrichtungen wie dem Bundestag oder den Landesparlamenten stört mich anläßlich solcher Treffen zudem die Prasserei auf Kosten der Steuerzahler, die bei solchen Seminaren oder Gesprächsrunden offenbar dazugehören muß. Weshalb nur?
Kaum Platz auf den Beratungstischen, weil überall Brötchen- und Butterbrezel-Tabletts sowie ganze Batterien bester Säfte und Mineralwässer aufgefahren werden. Es gibt kannenweise blickdichten Kaffee, am Nachmittag sogar deliziöse Konditorei dazu, mittags ein opulentes Essen, zu dem genau richtig temperierter Riesling geordert werden darf.
Zwischen den Mahlzeiten in gewährten Pausen etwas Indoor-Training: Die langen Flure entlang, die Treppen im riesigen Jakob-Kaiser-Haus rauf und runter, letztlich völlig darin verirrt wie eine Ratte im Labyrinthversuch. Aber kurz vorm endlich doch erreichten Ziel noch ein paar verschämte Liegestütze auf der Herrentoilette als Kurzintervention gegen die Entropie.
Abends, zermürbt von Zwangsvereinnahmung und völlig durchgesessen, geht‘s – immer noch überfüllt und beschwert verdauend – in ein erstklassiges Restaurant, wo man zu Vorspeise, Hauptgang, Nachspeise eingeladen ist, nachdem man schon den ganzen Tag verhaftet der Völlerei frönte. Außer Schnäpse alle Getränke frei! Ja, gut gemeint. Man bedankt sich – und bleibt besser beim Salat und einem großen Wasser für die innere Zirkulation.
Im Bundestag übrigens teilen sich die Firmen Käfer und Dussmann das Catering; sie haben dafür, warum auch immer, eine Art Doppel-Monopol inne, und weil all die schnuckligen Freß-Tabletts auf Staatskosten beglichen werden, kostet ein weiches Brötchen mit fett Camembert samt einer halben Erdbeere sowie einem Klecks Orangenkonfitüre drauf so viel wie vor zwanzig Jahren ein Fischer-Taschenbuch. Auf Staatskosten heißt: Das Wahlvolk bezahlt, jene also, für die der Reichstag laut Portalschrift mal errichtet wurde.
Als Prignitzer Provinzialist komme ich aus kleinen Verhältnissen. Meine Leute brachten sich überall hin Stullenpakete im Butterbrotpapier und hartgekochte Eier mit. Und Kaffee in der Thermoskanne. Akzeptiert, diese Zeiten sind vorbei, mindestens für all die Bachelor und Master, für die Junior- und Senior Strategic Policy Advisors, die Group Leaders, die Heads und alle die anderen Operettendienstgrade aus Politik und Wirtschaft.
Man wird ja wohl erwarten können, daß hier serviert wird!
Sympathisch sind mir die „Servicekräfte“. In der Hinsicht sozialromantisch eingestellt, nehme ich sie als redliche Menschen wahr, die sich bei Hofe durchzubringen haben. Und einfach ihren Job machen. Mit ihnen sind Gespräche möglich, nicht nur Small-Talk und Antichambrieren. Sie sehen sehr genau, was Sache ist, aber sie werden nie gefragt.
Was bloß empfinden und denken sie, wenn sie das Demokratie-Bonzentum täglich erleben und bedienen? Sie allein arbeiten und werden von denen, die das öde Versitzen eines weiteren Tages Lebenszeit für Arbeit halten, wie eh und je beherrscht.
Die Großkopferten, die Multiplikatoren und Würdenträger mampfen dicke Mozzarella-Tomate-Brötchen und krümeln dabei grobmotorisch den Boden voll. So war’s im Hofstaat ja immer, ganz einerlei, ob nun monarchistisch oder demokratisch geherrscht wird. Geherrscht wird beständig, und die Herrschaft braucht einen Troß kleiner Leute, der chauffiert, bedient, den Dreck wegräumt.
Herrschaft braucht immer dicke Karren, Pracht und volle Tafeln. Und was nicht gegessen wird, welkt und wellt vor sich hin, bis Refood es recycelt. Jenseits des gesunden Menschenverstanden darf die Menge der übrigbleibenden Spezereien und Köstlichkeiten wegen irgendwelcher Zwangsverordnungen nicht weiterverwendet werden, und die Specki-Tonne, in der wir früher Lebensmittel-Abfälle für die Tiere sammelten, ging mit der DDR historisch unter.
Impressionen mit Blick übers Buffett in den legislativen und exekutiven Herrschaftsbereich:
Es gibt in diesem Biotop offenbar so eine Klasse artig strebsamer Uniabsolventen, auffallend viele trotz Vollversorgung leptosome Jünglinge, testosteronreduziert picklig, die mit wackerem Entscheidungsträgerblick ihre Rollköfferchen ziehen, immer überbügelt blütenweißes Hemd, immer knitterfreies Sakko, immer Krawatte, immer polierter Spitzschuh – alles trotz der Hitze, in der die Karriereaspiranten eine Garderobe täglich durchtranspirieren.
Daneben junge Frauen, noch mit Abiturientinnen-Physiognomie, reicher seelischer Innenraum sicher zu vermuten, Rock, Bluse, strenge dunkle Beinlinie, aber eine Stresemannsche Staatsbeschwertheit im quattrocentrischen Antlitz, als ginge es gerade akut um die Existenz der Republik.
Kurz, man findet sich, als einziger im mausgrauen T‑Shirt, in einem neuartigen Barock wieder. Man verfolgt die professionell durchchoreographierte PowerPoint-Präsentationen, an denen das Präsentieren und das Foliendesign wichtiger ist als das, was da so präsentiert wird; man hat sein Buch dabei, das man heimlich und leicht verrenkt unterm Tisch liest, wenn’s oben zu öde wird, schon weil man bei PowerPoint lesen soll, was einem vorgesprochen wird.
Und man nimmt dann doch noch ein Roquefort-Brötchen und pult das Laub von der Deko-Physalis.

Caroline Sommerfeld
Dies hier unten las ich gestern. Außer daß es "Hinsiechen" mit ie heißt und ich bei den "Salesgesprächen" an den hl. Franz von S. dachte und auf der Leitung stand, erklärt dieser Artikel vielleicht ein klein wenig von der Misere:
https://www.cathwalk.de/2025/07/09/the-office-der-alltag-ist-der-beste-humanismuskiller/