Hinzu kommt: Es gibt zahlreiche, hervorragende Bücher über diese Provinz, Erinnerungsliteratur, wissenschaftliche Bücher und Romane, sodaß die Latte, die es zu überspringen gilt, hoch liegt.
Im vorliegenden Fall lohnt es sich jedoch, sich von diesen beiden Vorurteilen nicht leiten zu lassen und das Buch zu lesen. Buchsteiner ist keiner, der den Vorfahren die Leviten lesen will und in demokratischem Dummstolz die Vergangenheit verdammt.
Im Gegenteil: Er will seiner Großmutter ein Denkmal setzen. Denn sie war es, die, nachdem ihr Mann gefallen war, allein für die Güter der Familie in Ostpreußen sorgen mußte und den Treck auf der Flucht Richtung Westen führte. Die Erinnerungen seiner Großmutter bilden nicht nur den roten Faden des Buches, sie waren überhaupt Anlaß, das Buch zu schreiben.
Die Fluchtgeschichte ähnelt dabei der vieler anderer, die sich im Winter 1944/45 auf den Weg Richtung Westen machten. Sie mußten nicht nur der Witterung trotzen, sondern auch die Tieffliegerangriffe überstehen, und vor allem durften sie nicht den sowjetischen Truppen in die Hände fallen, um zu überleben.
Dann über das zugefrorene Frische Haff, ein Schiff ergattern, nicht torpediert werden, das Lager in Dänemark überleben und schließlich die Verwandten, in dem Fall die Kinder, den Vater des Autors, wiederfinden. Und dann mußte ein neues Leben begonnen werden, fern der Heimat, mittellos.
Insofern ist das eine „ganz gewöhnlich deutsche Familiengeschichte“ aus Ostpreußen (auch im Hinblick darauf, daß die Buchsteiners zu den Salzburger Emigranten gehörten, die 1730 nach Ostpreußen einwanderten). Allerdings waren die Buchsteiners deutlich begüterter als der Durchschnitt, insofern stand neben dem Verlust der Heimat, den alle teilen, der Verlust der gesellschaftlichen Stellung als Gutsbesitzer.

Es sind aber weniger die historischen Exkurse als seine eigenen Erfahrungen mit diesem Familienerbe, die das Buch interessant machen. Jeder, dessen Eltern selbst einen Vertriebenenhintergrund haben, weiß, daß dieser Bezug immer wieder eine Rolle spielt, etwa wenn man die alte Heimat besucht und dort vergeblich nach den Spuren der Vorfahren fahndet, weil alles zerstört ist. Und jeder Ostpreußenbesucher wird diesen Satz verstehen:
Etwas Banales hat sich eingeschlichen, die Banalität der Globalisierung, die man mit dem mythischen Ostpreußen nicht recht in Verbindung bringen will.
Auch Buchsteiner fällt auf, daß Allenstein auffällig „weiß“ geblieben ist. Hier, beim eigenen Erleben, gelingen Buchsteiner sowieso eindrucksvolle Stellen, etwa wenn er die Atmosphäre schildert, die er als Kind im Haus seiner Großmutter erlebt hat:
Fast jeder Besuch ging mit großen Familientreffen einher, zu denen in meiner kindlichen Erinnerung viele hochgewachsene Männer kamen, die dröhnend sprachen und dabei das R rollten. Einige trugen Stiefel, weil sie nebenan, im Stall der Reithalle, ihre Pferde stehen hatten oder aber in der Nähe als Tierarzt arbeiteten. Im Haus blieb nach solchen Abenden ein fremder aufregender Geruch zurück, von Rauch, Schnaps und Pferd.
Bei den gelegentlichen Verbeugungen vor dem Schuldkult ist Buchsteiner doch bewußt, daß es einen Mangel des Gedenkens für die Vertriebenen gibt. Nicht nur, daß das Gedenken immer pädagogisch präpariert sei, es fehle auch ein angemessenes Mahnmal. Und auch auf den beliebten Fehlschluß, der die gelungene Integration der Vertriebenen als Abziehbild für die illegale Masseneinwanderung seit 2015 verkaufen will, fällt er nicht herein:
Es sei 1945 klar gewesen, daß die Not sie zur Flucht gezwungen hatte und es kaum kulturelle Unterschiede gab. Und sympathisch ist schließlich seine Erklärung, warum Deutschland anders ist als der Westen: „Wir sind anders, auch weil wir Ostpreußen waren.“
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Jochen Buchsteiner: Wir Ostpreußen. Eine ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte, 2025, 285 Seiten, 26 Euro – hier bestellen

RMH
Die "gelungene" Integration wurde stark durch den Willen der Vertr. getrieben, etwas aufzubauen. Zwangseinquartiert bei Einheimischen, die i.a.R. dies oft nur zähneknirschend hinnahmen oder untergebracht in Nissenhütten, war keine echte Perspektive. Einen "Opfer- & Flüchtlingsstatus", in dem man sich einrichten konnte, gab es ebenso wenig in den restlichen dt Landen. Als es in der BRD später zum sog. Lastenausgleich kam, werden die Vorfahren des Autors als ehem. Gutsbesitzer sicher einen gewissen Schnitt gemacht haben, ganz im Gegensatz zu den Knechten & Arbeitern, die nichts hatten & nur ihr Leben retten konnten. Der Lastenausgleich hat die Gesellschaft noch einmal gespalten, daran erinnert man sich heute nicht mehr. Einige, die etwas bekamen, viele, die dafür zahlten & Vertriebene, die eben nur Arbeiter, Angestellte oder Knechte waren & nichts besonderes "auszugleichen" hatten, wurden angefeindet ohne davon groß zu profitieren. Der nächste Lastenausgleich ist auf dem Weg. Irgendwie müssen die finanz. Folgen von gescheiterter Migrations- Sozial- & Weltpolitik ja auf den Michel abgewälzt werden & so werden die Erben der Vertriebenen jetzt auch zur Kasse gebeten. Schicksalgemeinschaft trifft eben doch meistens (noch) die Biodeutschen.