Kritik der Woche (75): Wir Ostpreußen

Wenn ein Journalist, der lange für die Zeit schrieb und heute für die FAZ tätig ist, ein Buch über Ostpreußen vorlegt, wird niemand einen großen Wurf erwarten. Die Geschmeidigkeit gegenüber dem Zeitgeist, in die sich solche Leute für gewöhnlich eingeübt haben, macht es nicht wahrscheinlich, daß einer von ihnen die ausgetretenen Pfade der Vergangenheitsbewältigung verläßt.

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Hin­zu kommt: Es gibt zahl­rei­che, her­vor­ra­gen­de Bücher über die­se Pro­vinz, Erin­ne­rungs­li­te­ra­tur, wis­sen­schaft­li­che Bücher und Roma­ne, sodaß die Lat­te, die es zu über­sprin­gen gilt, hoch liegt.

Im vor­lie­gen­den Fall lohnt es sich jedoch, sich von die­sen bei­den Vor­ur­tei­len nicht lei­ten zu las­sen und das Buch zu lesen. Buch­stei­ner ist kei­ner, der den Vor­fah­ren die Levi­ten lesen will und in demo­kra­ti­schem Dumm­stolz die Ver­gan­gen­heit verdammt.

Im Gegen­teil: Er will sei­ner Groß­mutter ein Denk­mal set­zen. Denn sie war es, die, nach­dem ihr Mann gefal­len war, allein für die Güter der Fami­lie in Ost­preu­ßen sor­gen muß­te und den Treck auf der Flucht Rich­tung Wes­ten führ­te. Die Erin­ne­run­gen sei­ner Groß­mutter bil­den nicht nur den roten Faden des Buches, sie waren über­haupt Anlaß, das Buch zu schreiben.

Die Flucht­ge­schich­te ähnelt dabei der vie­ler ande­rer, die sich im Win­ter 1944/45 auf den Weg Rich­tung Wes­ten mach­ten. Sie muß­ten nicht nur der Wit­te­rung trot­zen, son­dern auch die Tief­flie­ger­an­grif­fe über­ste­hen, und vor allem durf­ten sie nicht den sowje­ti­schen Trup­pen in die Hän­de fal­len, um zu überleben.

Dann über das zuge­fro­re­ne Fri­sche Haff, ein Schiff ergat­tern, nicht tor­pe­diert wer­den, das Lager in Däne­mark über­le­ben und schließ­lich die Ver­wand­ten, in dem Fall die Kin­der, den Vater des Autors, wie­der­fin­den. Und dann muß­te ein neu­es Leben begon­nen wer­den, fern der Hei­mat, mittellos.

Inso­fern ist das eine „ganz gewöhn­lich deut­sche Fami­li­en­ge­schich­te“ aus Ost­preu­ßen (auch im Hin­blick dar­auf, daß die Buch­stei­ners zu den Salz­bur­ger Emi­gran­ten gehör­ten, die 1730 nach Ost­preu­ßen ein­wan­der­ten). Aller­dings waren die Buch­stei­ners deut­lich begü­ter­ter als der Durch­schnitt, inso­fern stand neben dem Ver­lust der Hei­mat, den alle tei­len, der Ver­lust der gesell­schaft­li­chen Stel­lung als Gutsbesitzer.

Buch­stei­ner beschränkt sich nicht dar­auf, die Auf­zeich­nun­gen sei­ner Groß­mutter zu publi­zie­ren, son­dern er bet­tet sie ein in grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen zum Mythos Ost­preu­ßen und zum bei­spiel­lo­sen Ver­bre­chen der Vertreibung.

Es sind aber weni­ger die his­to­ri­schen Exkur­se als sei­ne eige­nen Erfah­run­gen mit die­sem Fami­li­en­er­be, die das Buch inter­es­sant machen. Jeder, des­sen Eltern selbst einen Ver­trie­be­nen­hin­ter­grund haben, weiß, daß die­ser Bezug immer wie­der eine Rol­le spielt, etwa wenn man die alte Hei­mat besucht und dort ver­geb­lich nach den Spu­ren der Vor­fah­ren fahn­det, weil alles zer­stört ist. Und jeder Ost­preu­ßen­be­su­cher wird die­sen Satz verstehen:

Etwas Bana­les hat sich ein­ge­schli­chen, die Bana­li­tät der Glo­ba­li­sie­rung, die man mit dem mythi­schen Ost­preu­ßen nicht recht in Ver­bin­dung brin­gen will.

Auch Buch­stei­ner fällt auf, daß Allen­stein auf­fäl­lig „weiß“ geblie­ben ist. Hier, beim eige­nen Erle­ben, gelin­gen Buch­stei­ner sowie­so ein­drucks­vol­le Stel­len, etwa wenn er die Atmo­sphä­re schil­dert, die er als Kind im Haus sei­ner Groß­mutter erlebt hat:

Fast jeder Besuch ging mit gro­ßen Fami­li­en­tref­fen ein­her, zu denen in mei­ner kind­li­chen Erin­ne­rung vie­le hoch­ge­wach­se­ne Män­ner kamen, die dröh­nend spra­chen und dabei das R roll­ten. Eini­ge tru­gen Stie­fel, weil sie neben­an, im Stall der Reit­hal­le, ihre Pfer­de ste­hen hat­ten oder aber in der Nähe als Tier­arzt arbei­te­ten. Im Haus blieb nach sol­chen Aben­den ein frem­der auf­re­gen­der Geruch zurück, von Rauch, Schnaps und Pferd.

Bei den gele­gent­li­chen Ver­beu­gun­gen vor dem Schuld­kult ist Buch­stei­ner doch bewußt, daß es einen Man­gel des Geden­kens für die Ver­trie­be­nen gibt. Nicht nur, daß das Geden­ken immer päd­ago­gisch prä­pa­riert sei, es feh­le auch ein ange­mes­se­nes Mahn­mal. Und auch auf den belieb­ten Fehl­schluß, der die gelun­ge­ne Inte­gra­ti­on der Ver­trie­be­nen als Abzieh­bild für die ille­ga­le Mas­sen­ein­wan­de­rung seit 2015 ver­kau­fen will, fällt er nicht herein:

Es sei 1945 klar gewe­sen, daß die Not sie zur Flucht gezwun­gen hat­te und es kaum kul­tu­rel­le Unter­schie­de gab. Und sym­pa­thisch ist schließ­lich sei­ne Erklä­rung, war­um Deutsch­land anders ist als der Wes­ten: „Wir sind anders, auch weil wir Ost­preu­ßen waren.“

– –

Jochen Buch­stei­ner: Wir Ost­preu­ßen. Eine ganz gewöhn­li­che deut­sche Fami­li­en­ge­schich­te, 2025, 285 Sei­ten, 26 Euro  – hier bestel­len

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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Kommentare (7)

RMH

30. Juli 2025 09:53

Die "gelungene" Integration wurde stark durch den Willen der Vertr. getrieben, etwas aufzubauen. Zwangseinquartiert bei Einheimischen, die i.a.R. dies oft nur zähneknirschend hinnahmen oder untergebracht in Nissenhütten, war keine echte Perspektive. Einen "Opfer- & Flüchtlingsstatus", in dem man sich einrichten konnte, gab es ebenso wenig in den restlichen dt Landen. Als es in der BRD später zum sog. Lastenausgleich kam, werden die Vorfahren des Autors als ehem. Gutsbesitzer sicher einen gewissen Schnitt gemacht haben, ganz im Gegensatz zu den Knechten & Arbeitern, die nichts hatten & nur ihr Leben retten konnten. Der Lastenausgleich hat die Gesellschaft noch einmal gespalten, daran erinnert man sich heute nicht mehr. Einige, die etwas bekamen, viele, die dafür zahlten & Vertriebene, die eben nur Arbeiter, Angestellte oder Knechte waren & nichts besonderes "auszugleichen" hatten, wurden angefeindet ohne davon groß zu profitieren. Der nächste Lastenausgleich ist auf dem Weg. Irgendwie müssen die finanz. Folgen von gescheiterter Migrations- Sozial- & Weltpolitik ja auf den Michel abgewälzt werden & so werden die Erben der Vertriebenen jetzt auch zur Kasse gebeten. Schicksalgemeinschaft trifft eben doch meistens (noch) die Biodeutschen.

Engel 0102

30. Juli 2025 10:45

Danke für den Artikel. Ich habe das Buch gelesen, es hat mich sehr berührt. Ich stamme selbst aus einer Flüchtlingsfamile ( meine Mutter war aus Schlesien) und kann vieles nachvollziehen.

Ein gebuertiger Hesse

30. Juli 2025 10:53

Hahaha! Toller erster Absatz.

Andreas J

31. Juli 2025 19:29

Meine Großeltern väterlicherseits hatten zwei Großgärtnereien am Rande von Königsberg. Irgendwann kamen regelmäßig Lkw von der Partei mit Soldaten, die große Mengen gekauftes Gemüse einluden. Wofür war geheim. Einmal soll dabei einem angetrunkenen Soldaten der Satz „Wieder Spinat für‘n Führer“ entfahren sein. Ob das stimmt ist natürlich fraglich, denn die Wolfsschanze lag ca. 100 km entfernt, andererseits eine passende Distanz, um Verpflegungsquellen zu verschleiern und das Gemüse trotzdem frisch anzuliefern. 
 

Laurenz

1. August 2025 07:05

@RMH ... ich denke, wenn Sie schon (zu Recht) so kritisch einsteigen, RMH, kann man das noch vertiefen. Man kann jedem, der an unserer jüngeren Geschichte interessiert ist, Hans-Ulrich Wehlers Buch über das II. Reich empfehlen, auch, wenn Wehler, freundschaftlich liiert mit Habermas, eher ein Alt-Linker ist. Das Buch ist sehr verdichtet, extrem gut recherchiert, aber trotzdem gut lesbar, auch für Nicht-Akademiker. Das II. Reich scheiterte an der politischen Macht & Reformunfähigkeit von ca. 27k (im Grunde oligarchisch linksradikalen) ostelbischen Junckern, zu denen auch deren Vertreter aus Ostpreußen gehörten. Mit der Niederschlagung der patriotischen 48er Revolution, legte man bis 1933 die Füße hoch, war damit im wesentlichen verantwortlich für das 2xige Scheitern Deutschlands. Dieses Scheitern mag auch mit ein Grund dafür sein, daß das Nachkriegsdeutschland sich nicht mehr vehement genug für die Rückgabe unserer Ostgebiete eingesetzt hat. Die Polen sind da ganz anders drauf, als wir & haben nie auf die Rückgabe ihrer Ostgebiete, die im Friedensvertrag von Riga (1921) festgelegt wurden, verzichtet.

Ernestine

1. August 2025 08:47

Ergänzend - auch noch zum Podcast 8. Mai mit der Frage an Björn Höcke, ob und in welchem Umfang es heute noch Ostpreußentreffen gibt - ein paar persönliche Erfahrungen und Einblicke. 
Ich habe mich ab 2013 sehr intensiv mit meiner ostpreußischen Familiengeschichte beschäftigt und dann selbst einige Zeit in der Redaktion des Heimatbriefs Gerdauen mitgearbeitet. 
Ja, es gibt sie noch, die Heimatkreisgemeinschaften - in sehr ausgedünnter Form. In welchem Umfang sie noch tätig sein können, ist sehr unterschiedlich. Manche geben noch regelmäßig Heimatbriefe heraus, andere nicht mehr. Kreisinterne Treffen finden statt, beschränken sich aber i. d. R. auf kleine Grüppchen.
Wichtig sind die Kreisgemeinschaften vor allen Dingen als Anlaufstelle für Familienforscher geworden. Die Informationen, die dort über viele Jahrzehnte hinweg über die Kreise gesammelt und dokumentiert wurden, sind unbezahlbar. 
An Großtreffen der Landmannschaft Ostpreußen habe ich nie teilgenommen, da ich im südlichen Baden-Württemberg wohne, also viel zu weit weg von den Veranstaltungsorten... 
Da ich die Heimatkreisgemeinschaften als sehr "mainstreamlastig" empfunden habe, habe ich mein Engagement dann mit Eintritt in die AfD eingestellt...

Dr Stoermer

6. August 2025 00:57

Bei Ostpreußen handelt es sich um amputiertes Kulturland, das im Krematorium verschwand. In seiner knochendurchzogenen Asche blüht neues Leben. Das Verlorene hallt nach in den Seelen der Verbliebenen (auch meiner). Sein Verschwinden ist so pervers falsch für uns und die Welt wie die rituellen Massaker, die an unseren Menschen dort physisch – und hier noch heute psychisch - verübt wurden und werden. Genug wissen, um wen es sich bei den Tätern handelt. Es sind nicht die Russen, die benutzt wurden wie wir.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Aufgeben – oder nicht aufgeben. Nicht aufgeben heißt nach Lage vorgehen und an Gott glauben. Also Geduld haben und nicht in Wahlperioden denken. Nicht mal nur in Jahrzehnten. In sieben Generationen.