Kritik der Woche (76): Die Lichter des Dorfes

von Dirk Brockschmidt - In der Tetralogie M, die den Aufstieg und den Fall Mussolinis beleuchtet, charakterisiert Antonio Scurati den faschistischen Politiker Alessandro Pavolini, den Autor von Die Lichter des Dorfes, als einen Mann mit rabenschwarzen Haaren und Augen. Sein stechender Blick scheint den Parteiapparat unterworfen zu haben, denn nach seinem Amt als italienischer Minister für Volkskultur und dem Sturz des Regimes war Pavolini in der gegründeten Republik von Salò Parteichef der Republikanisch-Faschistischen Partei.

Die Äußer­lich­kei­ten schei­nen den Cha­rak­ter wider­zu­spie­geln, das erkennt der Leser, wenn er die Mus­so­li­ni-Bio­gra­phie von Hans Wol­ler mit Ver­weis auf den Faschis­mus-Exper­ten Arri­go Peta­c­co zu Rate zieht. Pavo­li­ni war eine Art »faschis­ti­scher Jako­bi­ner«, und mit die­ser inbe­grif­fe­nen Här­te orga­ni­sier­te er den Schau­pro­zeß gegen die Abtrün­ni­gen des Gro­ßen Faschis­ti­schen Rates, die im Juli 1943 Mus­so­li­ni abge­setzt hatten.

Mit die­sem Hin­ter­grund­wis­sen liegt die Ver­mu­tung nahe, daß Pavo­li­nis Erzäh­lun­gen im Band Die Lich­ter des Dor­fes ein In Stahl­ge­wit­tern des Grau­ens dar­stel­len. In ihnen wei­sen Lei­chen­ber­ge – dies­mal nicht der an Ehren gleich­wer­ti­gen Sol­da­ten, son­dern des wür­de­lo­sen und ent­mensch­lich­ten poli­ti­schen Geg­ners – die Ori­en­tie­rung zur siche­ren hei­mi­schen Stellung.

Ringt sich der Leser durch und nimmt den mit reich­lich Attri­bu­ten ver­se­he­nen Band zur Hand – unter ihnen wird sicher »faschis­tisch« fal­len –, erschließt sich ein brei­tes Panorama:

In der dem Band den Namen geben­den Erzäh­lung erscheint Filip­po in einem typisch ita­lie­nisch wir­ken­den Dorf. Geklei­det in einem Gabar­di­ne­rock mit auf­ge­schla­ge­nem Kra­gen und wei­ßem Besatz, umgibt ihn eine mili­tä­ri­sche Aura. Er und sei­ne Män­ner machen einen Rund­gang durchs Dorf und keh­ren in ein Lokal ein, in dem eine blut­ro­te Ver­samm­lung tagt. Es ist eine eisi­ge Atmo­sphä­re, die mit den Erfah­run­gen der poli­ti­schen Unru­he jeder­zeit mit einem Fla­schen­wurf oder Revol­ver­schuß eska­lie­ren könnte.

Die Lich­ter im Dorf erlö­schen, die Bewoh­ner lachen. Wenig spä­ter stellt sich her­aus, daß der Gewerk­schafts­funk­tio­när und des­po­ti­sche Herr­scher des Dor­fes, gegen den sich die Bewoh­ner ohne Hil­fe von außen nicht behaup­ten kön­nen, hin­ter der regel­mä­ßi­gen Ver­dunk­lung steckt und in die­sen Momen­ten zu sei­ner Gelieb­ten schleicht.

Das unsicht­ba­re Band, das alle Erzäh­lun­gen zusam­men­hält, ist kei­ne Ideo­lo­gie oder der Faschis­mus, der in den Erzäh­lun­gen »Die Lich­ter des Dor­fes« und »Das ganz schwar­ze Hemd« poli­tisch iden­ti­fi­zier­bar in Klei­dung und mili­tä­ri­scher Hal­tung am stärks­ten zuta­ge tritt. Es ist die atmo­sphä­ri­sche Melan­cho­lie, in der die Figu­ren und die Hand­lung beschrie­ben wer­den, und es scheint, als wüß­ten sie – allen vor­an der Autor –, wel­che Umbrü­che die nahe Zukunft bringt.

Der Rück­zug auf das siche­re Ich in einem über­schau­ba­ren Umfeld, in dem der unru­hi­gen Welt­läu­fig­keit Ruhe und Bestän­dig­keit ent­ge­gen­ste­hen, liegt nahe. Es sticht der Erzäh­ler her­vor, der an den Läu­fer Nic­colò denkt und ihn wäh­rend sei­nes ihn prä­gen­den Spor­tes weh­mü­tig beschreibt. Der Diplo­mat und sei­ne Begeis­te­rung für Heming­way, Faul­k­ner, Mal­raux und Dos Pas­sos wir­ken in ihrem Über­schwang pro­pa­gan­dis­tisch, und je mehr der Betrach­ten­de sich dem Gegen­stand annä­hert, des­to mehr artet dies in eine Zügel­lo­sig­keit aus, wie sie den rus­si­schen Volks­tän­zen und Gesän­gen zuge­schrie­ben wird: ein Rausch, der als Welt­flucht und Suche nach inne­rem Aus­druck gele­sen wer­den kann, aber eine gewis­se melan­cho­li­sche Kom­po­nen­te in sich trägt – eine, die nicht als läh­men­de Depres­si­on gele­sen wer­den kann, son­dern in ihrer Eigen­schaft jede Erzäh­lung und das damit ver­bun­de­ne Gefühl melan­cho­lisch konserviert.

Auf lite­ra­ri­scher Ebe­ne sind Die Lich­ter des Dor­fes sozia­le Ver­grö­ße­rungs­glä­ser, die sich in der aus­ge­präg­ten Beob­ach­tungs­ga­be und Sym­bo­lik allen­falls in Gabrie­le D’Annunzios Roman Das Feu­er fin­den las­sen. Im Kon­text der Inten­si­tät ist es ver­wun­der­lich, daß die Erzäh­lun­gen im deutsch­spra­chi­gen Raum zwar mit einer Gesamt­auf­la­ge von 40 000 Exem­pla­ren erschie­nen, aber eine lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Ein­ord­nung nicht erfolgte.

Eine Publi­ka­ti­on unter die­sen Vor­zei­chen wird das klas­si­sche Feuil­le­ton – wenn es sich über­haupt dazu durch­ringt, sie wahr­zu­neh­men – kaum als Pro­vo­ka­ti­on wer­ten, weil es der unspek­ta­ku­lä­re Inhalt, abseits der hohen lite­ra­ri­schen Qua­li­tät, kaum zulässt. Das Dog­ma der Tren­nung zwi­schen Werk und Autor mag zwar im lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Rah­men funk­tio­nie­ren, fin­det in der öffent­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung kei­ne Anwendung.

Die­se Erzäh­lun­gen wer­den ein Bei­spiel dafür sein, wie der Bio­gra­phis­mus, der Ort der Ver­öf­fent­li­chung und die Tat­sa­che, daß dem Werk über­haupt Raum gege­ben wird, über eine tex­tu­el­le Aus­ein­an­der­set­zung hin­weg­täu­schen – wie es der Post­struk­tu­ra­list Roland Bar­thes in Der Tod des Autors idea­ler­wei­se fokus­sier­te. Denn Tex­te ent­wi­ckeln unab­hän­gig von ihren Umstän­den ein Eigen­le­ben, und am Ende zählt nichts außer­halb des Textes!

Die gesell­schaft­lich prä­gen­de Norm ver­drängt mit Die Lich­ter des Dor­fes ein exzel­len­tes Werk, das bis­lang nur unter der Hand kur­sier­te – nun bie­tet sich die Mög­lich­keit, es brei­ter, selbst­ver­ständ­lich in den Aus­prä­gun­gen kri­tisch, zu dis­ku­tie­ren. Für die­se Dis­kus­si­on muß Raum geschaf­fen, viel­leicht sogar erobert werden!

– – –

Ales­san­dro Pavo­li­ni: Die Lich­ter des Dor­fes, Schnell­ro­da: Antai­os 2025. 152 S., 22 € – hier bestel­len.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (5)

Hans Carl Bohr

12. August 2025 18:52

Vielen Dank, Herr Brockschmidt, für Ihren Beitrag. Ich kann nur bestätigen, daß die Faszination, die diese Geschichten auszeichnet und verbindet, von Ihnen gut getroffen ist. Dicke Empfehlung für alle die, die Pavolini noch nicht kennen. 
 

Hans Carl Bohr

12. August 2025 18:57

P. S. Keine Geschichte hat mich so berührt wie die mit dem umgedrehten Pferd... 

Maiordomus

13. August 2025 05:40

Solche Texte werden mich in der Tat interessieren, von wegen des dokumentarischen und leider auch anthropologischen Wertes betreffend eher unangenehmere Seiten unserer species. Erkläre das Buch auch als Anregung, dass andere es ebenfalls noch bestellen, als hiermit bestellt.
Bei der kürzlichen Debatte auf Anregung von EK betreff das Motiv der preussischen Seen in Verbindung mit Heimat und Fremde ist mir aufgefallen, dass bei der epischen Debatte die berührende und das Heimatgefühl prägende Seenlandschaft als solche kaum eine Bemerkung wert war. Deswegen ergänzte ich einen nur scheinbar unpolitischen Beitrag über den Stechlin-See und seine literarisch-heimatgeschichtlichen Hintergründe, eine Art Mutterland bei Fontane nicht zuletzt mit dem Melusinen-Motiv.  

Laurenz

17. August 2025 20:49

Als ich mir die Biographie von Alessandro Pavolini durchlas, fragte ich mich, was in letzter Konsequenz Faschisten vom Rest der Welt unterscheidet?

FraAimerich

17. August 2025 23:36

@Maiordomus  -  Mit Ihrem Beitrag zu Fontane haben Sie im "Fremdkörper"-Strang Konterbande plaziert. Fontanes Satz, daß "unsre Prüfungen auch unsre Segnungen sind", dürfte immerhin vielen einleuchten. Wohl auch, daß die Enge seelischer Erstarrung dem Gewinn einer neuen Zukunft entgegensteht. 
Um Seelenlandschaften erfahren zu können, braucht es natürlich zumindest Reste seelischen Empfindungsvermögens. Doch solches entfaltet sich schwerlich in einer ressentimentgeladenen Debatte. Und wer weiß abseits von Paracelsus noch etwas mit "dämonischen" Melusinen, Fischfrauen und Nykrtum anzufangen oder hätte die Legende vom Ursprung der Stauf(f)enbergs je ernst genommen?
Gerne wüßte ich, was der dämonologisch versierten Frau Sommerfeld in besagtem Kontext zum "Überlebensmotto" Carl Schmitts einfiele: "Das Leben kräftigt sich aus dem Born des Bösen, die Moral aber leitet ab in den Tod." (Vgl. H. Lethen, Die Staatsräte, S. 219 u. 317) - Wäre doch ein schöne Fortsetzung ihrer leider abgebrochenen "Gedankenexperimente". Gerne im Kontext mit der trivialen Auffassung, daß es letztlich doch "nur" das Eigene in der Gestalt des Fremden ist, das Schmitt als Feind erschien.