Denn hinter der autokratischen Fassade zeigte sich ein fragiles Gebilde, das durch Gewalt, Gewohnheit und die religiös überhöhte Person des Zaren zusammengehalten wurde. Der Versuch des Premierministers Stolypin, das Reich durch Reformen zu stabilisieren, scheiterte; er wurde 1911 durch einen sozialrevolutionären Studenten, der mit dem Geheimdienst in Verbindung stand, ermordet.
In seinem neuen Buch, Die letzte Fahrt des Zaren, nimmt Baberowski den Faden auf und widmet sich den Ereignissen, die im Februar 1917 zum Ende der Zarenherrschaft führten. Er überspringt dabei den Ersten Weltkrieg, dessen Verlauf und Kosten dem Zarenreich den Todesstoß versetzten. Denn der Ursprung der Februarrevolution lag in spontanen Hungerunruhen der Bevölkerung und der Befehlsverweigerung von Soldaten, die den Frontdienst umgehen wollten.
Daß dieser Funke schließlich zur Abdankung des Zaren, der bolschewistischen Machtübernahme und zum russischen Bürgerkrieg führen konnte, läßt sich ohne das Wissen um die prekäre Lage der Herrschaft in Rußland kaum nachvollziehen.
Allerdings geht es Baberowski gar nicht so sehr um die langangelegten Gründe des Untergangs, als vielmehr um die Dynamik der Revolution selbst und die Möglichkeiten, die es gegeben hätte, ihren Erfolg zu verhindern. Denn hätten die Regierung und der Zar den Aufstand in Petersburg gleich im Keim erstickt und gewaltsam niedergeschlagen, wie das 1905 der Fall gewesen war, wäre die Geschichte vermutlich anders verlaufen.
Es gab zu Beginn der Revolte keinerlei politische Führung, die dem Volkszorn eine Richtung gegeben hätte. Die liberalen Kritiker des Zaren, die bald eine provisorische Regierung bildeten, hatten keine Alternative zum Zarenreich im Kopf und fürchteten sich vor den Volksmassen, und der Arbeiter- und Soldatenrat hatte keinerlei Erfahrung darin, wie man einen Staat führt.

Hinzu kam der Kadavergehorsam des autokratischen Systems, das streng auf die Spitze ausgerichtet und in dem Eigeninitiative nicht erwünscht war. In dem Moment, in dem die Entscheidungsträger durch die Besetzung der Telegraphenstationen von Informationen abgeschnitten waren, und es durch die Blockade der Schienenwege keine Möglichkeit mehr gab, loyale Truppen in die Hauptstadt zu verlegen, setzte die Lähmung ein. Was auch unter den neuen Herrschern funktioniert, sind die Beamten, die sich schnell an die neuen Verhältnisse gewöhnen.
Baberowski rekonstruiert die Ereignisse der entscheidenden Tage aus den Quellen und den Erinnerungen der Beteiligten, so daß ein lebendiges Bild aus verschiedenen Perspektiven entsteht. Brisanz gewinnt das Buch aber durch Baberowskis an den Klassikern des Herrschaftsdenkens geschulten Blick auf die Fragen der Machtergreifung.
Daher findet sich die beklemmend aktuelle Quintessenz des Buches in einigen Einsichten: “Macht hat, wer warten kann.“ Dazu brauche es Distanz zu den Ereignissen. „Distanz allein aber verschafft noch keine Macht. Was man will, das muß man auch können.“ Die Machtfrage stellen, bedeutete 1917 in Rußland, den Bürgerkrieg provozieren. Deshalb übernimmt schließlich Lenin die Macht, der an der Spitze einer kleinen Gruppe zu allem Entschlossener, die sich durch Recht und Moral nicht belasten, steht. Bei all dem ist Baberowski aber kein Zyniker, sondern jemand, der den Menschen (mit Odo Marquard) vor Schlimmerem bewahren will:
Wo sich die Zukunft von der Herkunft emanzipiert, ist die Gefahr groß, daß menschliches Handeln maßlos und bedenkenlos wird.
Wer will, kann dieses Buch als eine grundsätzliche und brandaktuelle Auseinandersetzung lesen. Das kann man im Hinblick auf Rußland (was passiert, wenn Putin abdankt) und auch auf unsere eigene Lage (wer Kompromisse macht, verliert) tun. Wie auch immer: Lesen sollte man das Buch in jedem Fall.
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Jörg Baberowski: Die letzte Fahrt des Zaren. Als das alte Rußland unterging, München 2025, 380 Seiten, 28 Euro – hier bestellen.

Laurenz
@Dr. EL ... Wenn ich Ihre Beschreibung dieses Werkes lese, hat das emotional mehr mit Unterhaltungsliteratur zu tun, warum auch nicht. Zar Nikolaus II war eben nicht die hellste Kerze am Himmel des meist Deutschen Adels Europas & jeder Lebenswirklichkeit der Russen entrückt. Seine Familie war auch nicht besser. Trump empfängt sogar den christlichen Ketzer der Neuzeit, Herrn Jäger, zur kurzen Photo-Audienz in Mar-a-Lago, Putin küßt & umarmt die Lehrerin Seiner Kindheitstage zu Petersburg im Kreml, wirkt echt, also glaubwürdig. Das sieht beides mehr nach zumindest formaler Bodenhaftung aus, als beim doch etwas minderbemittelten Adel Europas. Ich sehe überhaupt keinen Grund dafür, warum man diesen Schrott-Zaren hätte behalten sollen? Hier könnten Sie den Vergleich zum Neo-Feudalismus unserer Tage mit privilegierten Minderheiten ziehen. Statt lächerlichem Preußischem Karneval bei Kaiserwetter, haben wir heute Schwachkopf-CSD. Wo ist der Unterschied? Beides gleich schwul.