Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte. Ich habe sie so genannt, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen.
So beschreibt Zweig seine Absicht im Vorwort zu den vierzehn Sternstunden, die er schilderte und versammelte.
Der Gedanke, daß der Verlauf der Geschichte tatsächlich an manchen Stellen für einen Moment in der Waage sei und sich neige, weil dieser oder jener zu früh, zu spät oder gar nicht kommt, handelt, zur Stelle ist, standhält oder verzagt, hat etwas Magnetisches an sich. Er versetzt uns Handlungsfähige in die Rolle von Wirkmächtigen, die dem rollenden Rad in die Speichen greifen könnten.
Ganz nach dieser Vorlage hatte der Publizist Robin Alexander in seinem Buch Die Getriebenen (2017) den Vorgang der Grenzöffnung im Frühherbst 2015 beschrieben. Er verdichtete diese dramatische Entscheidung auf die Schilderung weniger Stunden, in denen am Vormittag des 12. Septembers zwei Politiker über das weitere Schicksal der BRD entschieden hätten.
Der Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Innenminister Lothar de Maiziere lag an diesem Vormittag tatsächlich die Meldung des Präsidenten der Bundespolizei, Dieter Romann vor, man habe Kräfte und Material zusammengezogen und sei in der Lage, die Grenze nach Österreich sofort und lückenlos zu schließen und die anmarschierenden Kolonnen von “Flüchtlingen” aufzuhalten, rückzustauen, jedenfalls nicht ins Land zu lassen. Blaupause dafür war die Grenzschließung, die zu den Sicherheitsvorkehrungen rund um das G7-Treffen auf Schloß Elmau wenige Wochen zuvor vollzogen worden war.
Für die nun angesichts der Kolonnen mehr als dringend notwendige Schließung war nur noch eine einzige Unterschrift notwendig, die Anordnung lag ausformuliert vor und beinhaltete – auch das eine dramatische Verdichtung – fünf entscheidende Wörter: Es sei auch dann erlaubt, den Ankömmlingen “auch im Falle eines Asylgesuchs” die Einreise zu verwehren. Rechtlich war und ist das alles möglich und gedeckt, denn alle, die kamen, durchquerten Drittländer, in denen sie längst in Sicherheit vor unmittelbarer Bedrohung waren.
Merkel und de Maiziere zögerten, berieten, warteten ab, verschleppten, drückten sich vor der Verantwortung und vor “schlechten Bildern” und unterschrieben nicht. Sternstunde abgelaufen, historisches Blatt aufgedeckt:
Die Bundespolizei trat zur Seite und ließ in den folgenden Wochen und Monaten Hunderttausende passieren – zu Fuß, in Bussen und Zügen und Autos, und das alles hält bis heute an und hat uns in den vergangenen zehn Jahren 6,5 Millionen vorwiegend männliche “Flüchtlinge” unter 40 Jahren beschert, die auch dann nicht zurück in ihre Heimat geschickt wurden, als dort der Bürgerkrieg vorbei und “Urlaubsreisen” längst wieder möglich und gängige Praxis waren.
Das alles, die Zahlen, die Kosten, die Verheerungen, die journalistische Peitsche gegen uns, der Aufstieg der AfD aufgrund dieser Katastrophe und die völlige Ratlosigkeit unserer Nation im Umgang mit dieser zweiten, dritten großen Überfremdungswelle – das alles spielt für die Antwort auf die Frage, ob es diese “Sternstunde der BRD” tatsächlich so gegeben habe, keine Rolle.
Denn die Frage ist, ob diese Vormittagsstunden des 12. Septembers 2015 tatsächlich das waren, was Stefan Zweig und Robin Alexander beschrieben: Momente auf der Kippe, bis der eine Mensch, die paar Menschen etwas in eine der Waagschalen legen, und die Stunde kippt…
Glauben wir, daß es manchmal so ist? Glauben wir an solche Berichte, halten wir solche Schlüsselmomente für plausibel, für wahrscheinlich, für entscheidend? Hängt also der Zustand unserer Nation von einer solchen Situation ab, in der tatsächlich jemand frei ist, so oder anders zu entscheiden? Und was, wenn Romann die unterschriebene Anordnung erhalten und die Grenzen abgeriegelt hätte: In welchem “Zustand” wäre unsere Nation, wäre unser Volk dann?
Es hat mich als Kind fasziniert, und es fasziniert mich immer noch, im schwäbischen Allgäu an der “Europäischen Wasserscheide” haltzumachen und den Regentropfen und das Rinnsal zu betrachten, deren Fallstelle und Fließrichtung darüber entscheiden, ob es mit der Donau ins Schwarze Meer oder mit dem Rhein in die Nordsee gehe.
Was gibt je den Ausschlag? Ein Windstoß, ein Dämmchen aus Blättern und Zweigen, der allgemeine Sog mal nach West, mal nach Ost? Jedenfalls: weitreichende Konsequenz für das Tröpfchen, belanglos aber für die beiden mächtigen Ströme, die sich ihr Bett längst gebahnt haben und von der Quelle her auf ihrem Weg einsammeln, was sich einfindet.
Kurzum: Ich halte die Schilderung solcher Schlüsselmomente für Literatur, für Stoff, dramatischen Stoff, aber nicht für mehr. Der 12. September war keine Sternstunde der BRD, auch wenn man so darüber erzählen kann, als sei es eine gewesen. Denn das, was vor zehn Jahren in Gang kam, ist nicht das Ergebnis einer fatalen Entscheidung oder der Unfähigkeit, für das nationale Wohl kalt zu handeln.
Es ist vielmehr die Konsequenz aus einer Entwicklung, die den ganzen Westen und – nur um eine weniges verzögert – den ganzen Osten, also letztlich ganz Europa erfaßt hat und der Deutschland aufgrund seines historischen Genickbruchs wie ein vom Hals abwärts Gelähmter hilflos ausgesetzt ist.
Gegen das über Jahrzehnte propagandistisch und geschichtspolitisch zurechtgeformte Volk hätten kein Politiker und keine Polizei eine geschlossene Grenze Verteidigen können. Die Fließrichtung unserer Geschichte, der große Strom hat sich sein Bett längst gegraben, der große Austausch war in Köln und Nürnberg, Wien und Stuttgart längst abgeschlossen, bevor der Einfall nun auch die mitteldeutschen Städte erreicht hat.
Die Tendenz ist selbstmörderisch, und die Aufgabe der AfD (um diejenige Kraft zu nennen, die vielleicht einmal in einem Verdichtungsmoment den Innenminister stellend in einem Lagezentrum sitzen wird) ist nicht diejenige, in der leeren Luft zu agieren und zu denken, man könne einfach auf Waagschalen tippen. Ihre Aufgabe ist die Umerziehung der Nation zur Selbstbehauptung.
Wie lange das dauerte, wenn man könnte, wie es notwendig wäre? Vermutlich sogar dann zu lange. Es ist jedenfalls das “langsame Bohren harter Bretter”, von dem Max Weber sprach, und daß es durch sehr, ich wiederhole: sehr starke symbolpolitische Gesten begleitet sein müßte, versteht sich hoffentlich von selbst.

Mboko Lumumbe
Wie wahr!
Danke & schönes WE