Das Zitat stammt von Johann Kaspar Lavater, 18. Jahrhundert. Lavater ähnelt physiognomisch übrigens dem rechten Anwalt und Verlagsfreund Gerhard Vierfusz, dies nur nebenbei.
Ich bin mittlerweile erfahren genug, um zu sagen, daß dieser Spruch in seiner Absolutheit natürlich nicht stimmt. Ich habe im Leben schon unschöne, dicke, dürre, anderweitig verunstaltete Leute gesehen, die mich verblüfften, weil sie sozusagen gegen ihre Physiognomie auf Gebieten erfolgreich waren (derber Ausdruck, aber professionelle Geigerin in einem Orchester) oder glücklich und zufrieden waren, obwohl ihr Gesicht etwas anderes ausdrückte.
Und umgekehrt: Man kennt Personen mit Gesichtsprofilen der Kategorie „aaah!“ (dorisch, markant, profiliert), die in ihrem gesamten Dasein aber einfach nur Schrott verursacht haben.
Sagen wir also: Physiognomie lügt selten. Eines meiner Kinder beschied mir mal (original auf Englisch, dort eine stehende Wendung): „Beurteile ein Buch nie aufgrund seines Umschlags.“ (Never judge a book by its cover.)
Als Verlegerin tue ich das natürlich doch! Ich bestehe darauf! Das Äußere ist äußerst vielsagend! Ein Buch, das als schwammiger Lappen daherkommt und dann noch von einem Narren oder Laien gesetzt wurde – ich weiß vor dem ersten Satz, was mich erwartet. Stimmen Satzspiegel und Seitenlayout? Wenn nicht, ist auch der Inhalt zu 95% Quark.
Es ist nichts falsch daran, mit den Äußerlichkeiten zu beginnen. Und dann runterzuprüfen.
Ich wollte aber auf etwas anders hinaus. Im Streitgespräch, das ich gerade führte, ging es um den Typus Hendrik Wüst… aber bloß um den Typus, nicht um die konkrete Person. Es geht mir um die Physiognomie.
Wüst ist Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, CDU. Er mißt 191 cm, hat ordentlich gescheiteltes mittelbraunes Haar, trägt meist Krawatte. Verheiratet, ein Kind. Keine Skandale. Alles extrem ordentlich. Der klassische BRD-Bürger. Im Wortsinne: bürgerlich. Nicht zuviel, nicht zuwenig. Einer, der sich im Griff hat. Temperaturerhöhung? Nicht die Spur. Hat er nicht nötig, dafür ist er zu zufrieden. Vertreter des „besten Deutschlands aller Zeiten.“
Was kann ich bitte dafür, daß ich diese fiese Allergie gegen solche Typen haben? Gegen die Satten? Die Arrivierten? Die immer auf Nummer sicher gehen und genau diese Haltung in jedem Quadratzentimeter ihrer äußeren Erscheinung ausdrücken? Die Fusselfreien, die Faltenlosen, die mit den Bügelfalten? Mit den glatten Gesichtern? Gegen so eine Allergie bis du machtlos.
Mein Gegenüber, nennen wir ihn meinen Onkel, will es genau wissen. (Naja. Er will sich eigentlich produzieren. Jeder von uns kennt solche Situationen.) Er wählt seit 200 Jahren (okay, das ist jetzt übertrieben) stets exakt diesen Typus. Er ist dabei sogenannter Wechselwähler. Was ich sehr lustig finde: Denn er ist ein Fähnlein im Winde, begreift sich aber als äußerst „kritisch“, daher wechselt er munter in dem Tümpel herum, den er “Mitte” nennt.
Daß “kluge Köpfe” die FAZ lesen und die “Tagesschau” ein Bildungsprogramm (“diese 15 Minuten täglich müssen drin sein!”) sei – es sind so Weisheiten, die er seit Jahrzehnten propagiert. Ganz früher hatte ich Diskussionen mit ihm darüber angezettelt. Lang vorbei, nicht der Mühe wert. Aber er , der “45 Leute unter sich” weiß (quasi als Aktiv-Pensionär), wird bis an sein Lebensende nicht ablassen von seiner Mission. Ich vermute, er strebt das Bundesverdienstkreuz an.
Es ging also zufällig um Wüst, und ich machte einen herablassenden Ton oder eine Geste. Er:
Ellen. Es gibt Personen, mit denen kannst du einen Staat machen. Und andere, die taugen nicht dafür. Ja, das sieht man auch äußerlich! Du lehnst Leute ab, die Krawatte tragen. Für mich ist das grundsätzlich ein Pro. Wer heute Krawatte trägt, hat schon mal grundsätzlich bestimmte Normen begriffen. Du redest von “konservativ”. Aber genau das ist konservativ. Daß jemand einfach weiß, was sich gehört!
Ogott, das Krawattenthema. Ich hab irgendwannmal tatsächlich gesagt, daß ich Krawatten nicht so mag, und dazu stehe ich auch. Daraus möchte ich mir aber keine Philosophie zimmern. (Ich rede auch nicht von “konservativ”. Vor etwa zehn Jahren hatte ich dem Onkel “Warum Konservative immer verlieren” geschenkt. Aber solche Leute hören nur ihren eigenen Sermon. Und die Tagesschau. Alles andere sitzen sie aus, bevor sie nicht hundertfach zugeballert werden. DANN werden sie zu Wutbürgern.)
Ich antworte (mehr so im Impuls und durchaus auf Rabaukentum aus):
Diese Art, sie macht mich halt rasend. Wüst ist der Typ “Deutschland 2025, nehmt es hin, aber konservativ”. Es ist Schwiegermutters Liebling. Die Leute wählen ihn, weil er genau dieses glatte Äußere hat. Die meisten dieser Leute sind 55+. Ich mag sie in dem Maße nicht, wie sie diesen Typus lieben. Genau diese Typen sind unser Untergang. Die Protagonisten wie ihre Fans. Sie lieben es, wenn es nur irgendwie ordentlich ausschaut. Gepflegt in den Untergang, haha, ja.
Warum sage ich sowas? Das ist null komma null anschlußfähig. Schon gar nicht für den Onkel. Ich schreibe lieber als zu reden. Schriftlich bin ich differenzierter. Andererseits ist es mir auch egal. Ein langweiliges Familientreffen halt, da darf man schon mal austeilen, um die Stimmung zu heben.
Onkel: „Ellen.” (Er hat beizeiten gelernt, daß es “Wirkung hat”, sein Gegenüber mit dem Namen anzusprechen.)
Was willst du eigentlich. Wir haben nun mal keinen Milei bei uns. Wir müssen mit den Beständen rechnen. Das ist übrigens das, was Ihr Rechten predigt. Wen meinst du mit “Typus”?
Ich:
Kann ich Dir relativ genau sagen. Leute, die äußerlich völlig over sind, wenn sie ihren Friseurtermin verpaßt haben: Dein Herr Wüst, Daniel Günter, Martin Vinzent, Christian Lindner, das sprengt die Parteigrenzen. All diese Personalien sprechen Leute wie Dich an. Alles aus dem Ei gepellte mittelalte Männer. Sei mal ehrlich, Du fährst drauf ab, weil sie auf eine bestimmte Art “ordentlich” sind und Dich an irgendwie vergangene Zeiten erinnern. Bitte, das ist doch peinlich. Sie tun permanent, als ob noch ‘Ordnung herrsche´. Das ist nicht lustig, es ist pervers. Pervers mit Krawatte, meinetwegen. Und: Wir haben und wollen hier keinen Milei, weil wir unser Land nicht verscherbeln wollen.
Mein „Onkel“ hat mich nun auf diversen Kanälen blockiert. Das hab ich mir verdient. Wir alle sollten mit Verlusten rechnen. Es wird uns anderweitig angerechnet werden.
Ich bin übrigens weiterhin laienhaft physiognomisch unterwegs. Es hat schon seinen eigenen Wert, und es macht Spaß! Du kannst auch aus Schuhen (abgelatscht mit Linksdrall? Rechtsdrall?), Brillengestellen, aus der Art, wie jemand gestikuliert, wie er seine Haare trägt und wie sie sitzend mit ihren Beinen verfährt, eine Menge ablesen. Es sind stets bloß Akzentuierungen, klar. Aber es ist eine große Lust, genau hinzuschauen!
PS: Ein mir sehr nahestehender Mensch hat nach Lektüre dieses Textes kritisch nachgefragt: Wüst, Vinzent, Günter, Lindner – dies seien aber durchaus sehr deutsche Physiognomien, nicht? Und: stimmt ja.
RMH
"Was kann ich bitte dafür, daß ich diese fiese Allergie gegen solche Typen haben? Gegen die Satten? Die Arrivierten?"
"Angekommen sein" als Objekt des Suspekts, Satte als die Personen, die einen nicht da haben wollen und gegen die man dann instinktiv etwas hat etc, ist übrigens klassisches Mindset von Kindern und vor allem Enkeln von Vertriebenen. In uns allen ist der Krieg und sein schreckliches Ende immer noch tätig, wenn auch meist nur in Tiefenstrukturen, im Sublimen. Das Abchecken nach Äußerlichkeiten (und das wichtig halten, es dann selber "zu schaffen" und mit Äußerlichkeiten zu zeigen), ist ebenso vertriebenen-typisch, da man ins Neue geworfen wurde und Halt, Orientierung brauchte, die durch das Einrastern des Äußeren von Fremden leichter wird, denn als Vertriebener kam man nicht in die Heimat, zu Gleichen, sondern zu Fremden, die einen in der Mehrzahl der Fälle nicht unbedingt wohlgesonnen waren bzw. die ihre eigenen Kriegstraumata und -Wunden hatten und daher nicht zwigend "offen" für Neuankömmlinge waren, die den Wettbewerb um Grundbedürfnisse verschärften. Es ist bekannt, dass dies alles auf Kinder, Enkel, ja sogar Urenkel weitergegeben wird. Dies sei einmal am heutigen Volkstrauertag nur erwähnt. Dachte, es kommt ein passender Beitrag zum Volkstrauertag, aber unbewusst passt der Beitrag dann wohl doch dazu.