Erstens Fronleichnam mit dieser erhebenden Prozession, für die in meiner Offenbacher Gemeinde sogar der Straßenverkehr angehalten wurde. (Wahnsinn, die müssen alle warten, weil der Leib des Herrn vorbeigetragen wird! Wie aus der Zeit gefallen kann etwas sein!)
Zweitens die Gräbersegnung an Allerseelen. Anfang November, wo man sich noch nicht richtig daran gewöhnt hat, daß es bereits nachmittags dunkel wird. Wo auf dem Friedhof überall rote Lichter flackern, wo das Weihrauchfaß besonders heftig geschwenkt wird, wo alle diese besondere Miene tragen, manch Mütterlein das Taschentuch zückt und die immergleichen rituellen Gebete gesprochen werden. Magisch!
Ich als damals Glaubenslose empfand den mythischen Hauch dieser ansonsten völlig entmythisierten Kirche bei diesen Gelegenheiten als sehr wuchtig, und das gefiel mir gut. Alles andere war ja verschwunden. Der Beichtstuhl war abgeschafft worden, statt Kirchenbänken gab es nun grüne Stühle, und das Liedgut war synkopisch und schwul.
Daß ich zurückfand in den Schoß der Kirche, hat viele Gründe. Der Friedhof und die Anhänglichkeit zu meinen Ahnen spielten eine große Rolle.
Wie sehr ich (die das Leben sehr liebt und ungefähr das Gegenteil von depressiv ist) Friedhöfe mag, wie es mich hinzieht, kann ich kaum beschreiben: ein Sehnsuchtsort, obwohl ich mir ein langes Leben wünsche. In jedem Land, das ich bereist habe, wollte ich die Friedhöfe sehen. Nirgends sind sie schöner als in Deutschland.
Hört mir auf mit England! Ja, die alten Cemeteries sind wunderbar romantisch, phototapetentauglich geradezu, aber frag besser nicht nach den Neubestattungen. Sie sind liederlich. Spanische Friedhöfe stinken zum Himmel, serbische gleichen Müllhalden, polnische starren vor Plastik. Deutsche Friedhöfe sind ziemlich kleinkariert mit ihren roten (=ungepflegtes Grab) , gelben (=Grabstein wackelt) und anderen Punkten, die auf die „Ablaufzeit“ hinweisen. Aber sie sind in ihrer Kleinkariertheit sehr würdig.
Bei einem Grab mit Erdbestattung endet die Totenruhezeit nach 20–30 Jahren, bei Urnengräbern deutlich früher. Gegen erhebliche Gebühren kann man die „Grabmiete“ verlängern. Jüdische Gräber hingegen haben eine Ewigkeitsgarantie – daher sind jüdische Friedhöfe auf deutschem Boden auch umwitterter, mysteriöser und ästhetischer als christliche.
Ich hatte einen Freund, den diese Ungleichbehandlung furchtbar aufregte. Das ist länger her. Auf komplizierten Umwegen und halblegal hatte er seine Großmutter daher in der Schweiz einäschern lassen. Er wollte, daß die Oma „auf ihrem eigen Grund und Boden Ruhe findet, und zwar für immer.“ Tatsächlich wurde die Urne dann vergraben, mit selbsterfundener Zeremonie. Das ist ungefähr zwanzig Jahre her.
Als ich dort kürzlich zu Besuch war (ich kannte die Großmutter), gab es einen kleinen Streit unter den Eheleuten, ob die Asche vorne bei den Brombeeren läge oder hinten unter dem Kirschbaum. War ja auch egal. Sie war ja „im Herzen“. Was für ein abstraktes Konzept! Die Trauer wurde an ein individuelles „Ich-denk-mal-dran“ überantwortet.
Aber diese Art Trauerkultur ist sehr modern: In Rheinland-Pfalz wurde nun ein überaus liberales Bestattungsgesetz verabschiedet, das vom „Friedhofszwang“ und der „Sargpflicht“ (das geht an die Muslime) weitgehend absieht.
Ja, das paßt. Der Tod wird individualisiert. Du kannst Deine Lieben heute anonym unter einer Buche begraben oder entlang eines Steinwalls mit Sinnsprüchen von Paulo Coelho. Ob das die Trauer mäßigt, eindämmt, würdigt, zivilisiert, steht in den Sternen. Ohnehin: Was bedeutet es, wie wir unserer Toten gedenken? Ich bin der (katholischen) Meinung, wir sollten sie aufbahren, tagelang beweinen, bis keine Tränen mehr kommen und den Leib dann bestatten.
Und, bitte, noch ein reales Beispiel. Ein Junge aus meiner Bekanntschaft ist mit 17 an Blutkrebs verstorben. Eingeäschert in der Schweiz, Urnenübergabe. Dann trennten sich die Eltern, womöglich aus Trauer. Dann mußte ein Haus verkauft werden. Alles war kompliziert. Die Urne ist nun leider, sehr peinlich, verschollen. Für die Eltern ist es ein geringes Problem unter so vielen. Aber Großeltern leiden furchtbar darunter, daß es keinen Ort gibt, um zu trauern.
Wo soll man denn hin, mit der Trauer ohne Boden? Was für eine bodenlose Trauer. Für mich sind deutsche Friedhöfe ein Kulturgut ersten Ranges, erst recht an diesen Tagen.
Laurenz
@EK ... früher dachte ich auch an den individuellen Trip nach dem Abtritt zur Großen Armee. Aber umso näher man diesem Datum kommt, umso weniger wichtig wird der individuelle Popanz. Meine katholische, kirchensteuerzahlende Mutter bestimmte, daß mein aus der Protestantischen Kirche ausgetretener Vater von einem vor-lutherisch traditionsbewußten Protestantischen Pfarrer würdig beerdigt wurde (der nichts verlangte), nachdem der katholische Pfarrer nur eine Beerdigung III. Klasse anbot. Ich hätte natürlich einen Ethiker gebeten, aber ich war nicht mit meinem Vater verheiratet. Das Doppelgrab kostet in der Heimatgemeinde, die halb-illegal, halb-legal Friedhofskosten quer finanziert, 800 Euro für 40 Jahre, während bei den nachbarlichen Pleitegemeinden 25 Jahre bereits 2k Euro kosten. Gräber werden immer kleiner, auch eine Frage der sinkenden monetären Möglichkeiten. Das Schmücken des Grabes meines Vaters mit weißem Marmor mit Goldfarbe beschriftet, kostete meine Mutter einen 5-stelligen Betrag. Meine Zwangs-Erfahrung aus dieser väterlichen Beerdigung war durchaus positiv. Wenn man den Friedhof besucht, ist man nie allein, man trifft immer Mitbürger, denen es genauso geht. Das verlagert die Last auf mehrere Schultern. Leid wird relativ.