Allerseelen, Allerheiligen, Gräbersegnung

Wiewohl „von Haus aus“ katholisch, verlebte ich lange glaubensferne Jahre. Kurz war ich praktizierend neo-pagan (könnte ich zeichnen, würde ich einen Comic dazu machen, der ulkig wäre), vor allem aber Nietzscheanerin. Zweierlei im Jahreslauf der Kirche habe ich mir jedoch selten entgehen lassen:

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Ers­tens Fron­leich­nam mit die­ser erhe­ben­den Pro­zes­si­on, für die in mei­ner Offen­ba­cher Gemein­de sogar der Stra­ßen­ver­kehr ange­hal­ten wur­de. (Wahn­sinn, die müs­sen alle war­ten, weil der Leib des Herrn vor­bei­ge­tra­gen wird! Wie aus der Zeit gefal­len kann etwas sein!)

Zwei­tens die Grä­ber­seg­nung an Aller­see­len. Anfang Novem­ber, wo man sich noch nicht rich­tig dar­an gewöhnt hat, daß es bereits nach­mit­tags dun­kel wird. Wo auf dem Fried­hof über­all rote Lich­ter fla­ckern, wo das Weih­rauch­faß beson­ders hef­tig geschwenkt wird, wo alle die­se beson­de­re Mie­ne tra­gen, manch Müt­ter­lein das Taschen­tuch zückt und die immer­glei­chen ritu­el­len Gebe­te gespro­chen wer­den. Magisch!

Ich als damals Glau­bens­lo­se emp­fand den mythi­schen Hauch die­ser ansons­ten völ­lig ent­my­thi­sier­ten Kir­che bei die­sen Gele­gen­hei­ten als sehr wuch­tig, und das gefiel mir gut. Alles ande­re war ja ver­schwun­den. Der Beicht­stuhl war abge­schafft wor­den, statt Kir­chen­bän­ken gab es nun grü­ne Stüh­le, und das Lied­gut war synko­pisch und schwul.

Daß ich zurück­fand in den Schoß der Kir­che, hat vie­le Grün­de. Der Fried­hof und die Anhäng­lich­keit zu mei­nen Ahnen spiel­ten eine gro­ße Rolle.

Wie sehr ich (die das Leben sehr liebt und unge­fähr das Gegen­teil von depres­siv ist) Fried­hö­fe mag, wie es mich hin­zieht, kann ich kaum beschrei­ben: ein Sehn­suchts­ort, obwohl ich mir ein lan­ges Leben wün­sche. In jedem Land, das ich bereist habe, woll­te ich die Fried­hö­fe sehen. Nir­gends sind sie schö­ner als in Deutschland.

Hört mir auf mit Eng­land! Ja, die alten Ceme­ter­ies sind wun­der­bar roman­tisch, pho­to­ta­pe­ten­taug­lich gera­de­zu, aber frag bes­ser nicht nach den Neu­be­stat­tun­gen. Sie sind lie­der­lich. Spa­ni­sche Fried­hö­fe stin­ken zum Him­mel, ser­bi­sche glei­chen Müll­hal­den, pol­ni­sche star­ren vor Plas­tik. Deut­sche Fried­hö­fe sind ziem­lich klein­ka­riert mit ihren roten (=unge­pfleg­tes Grab) , gel­ben (=Grab­stein wackelt) und ande­ren Punk­ten, die auf die „Ablauf­zeit“ hin­wei­sen. Aber sie sind in ihrer Klein­ka­riert­heit sehr würdig.

Bei einem Grab mit Erd­be­stat­tung endet die Toten­ru­he­zeit nach 20–30 Jah­ren, bei Urnen­grä­bern deut­lich frü­her. Gegen erheb­li­che Gebüh­ren kann man die „Grab­mie­te“ ver­län­gern. Jüdi­sche Grä­ber hin­ge­gen haben eine Ewig­keits­ga­ran­tie – daher sind jüdi­sche Fried­hö­fe auf deut­schem Boden auch umwit­ter­ter, mys­te­riö­ser und ästhe­ti­scher als christliche.

Ich hat­te einen Freund, den die­se Ungleich­be­hand­lung furcht­bar auf­reg­te. Das ist län­ger her. Auf kom­pli­zier­ten Umwe­gen und halb­le­gal hat­te er sei­ne Groß­mutter daher in der Schweiz ein­äschern las­sen. Er woll­te, daß die Oma „auf ihrem eigen Grund und Boden Ruhe fin­det, und zwar für immer.“ Tat­säch­lich wur­de die Urne dann ver­gra­ben, mit selbst­er­fun­de­ner Zere­mo­nie. Das ist unge­fähr zwan­zig Jah­re her.

Als ich dort kürz­lich zu Besuch war (ich kann­te die Groß­mutter), gab es einen klei­nen Streit unter den Ehe­leu­ten, ob die Asche vor­ne bei den Brom­bee­ren läge oder hin­ten unter dem Kirsch­baum. War ja auch egal.  Sie war ja „im Her­zen“. Was für ein abs­trak­tes Kon­zept! Die Trau­er wur­de an ein indi­vi­du­el­les „Ich-denk-mal-dran“ überantwortet.

Aber die­se Art Trau­er­kul­tur ist sehr modern: In Rhein­land-Pfalz wur­de nun ein über­aus libe­ra­les Bestat­tungs­ge­setz ver­ab­schie­det, das vom „Fried­hofs­zwang“ und der „Sarg­pflicht“ (das geht an die Mus­li­me) weit­ge­hend absieht.

Ja, das paßt. Der Tod wird indi­vi­dua­li­siert. Du kannst Dei­ne Lie­ben heu­te anonym unter einer Buche begra­ben oder ent­lang eines Stein­walls mit Sinn­sprü­chen von Pau­lo Coel­ho. Ob das die Trau­er mäßigt, ein­dämmt, wür­digt, zivi­li­siert, steht in den Ster­nen. Ohne­hin: Was bedeu­tet es, wie wir unse­rer Toten geden­ken? Ich bin der (katho­li­schen) Mei­nung, wir soll­ten sie auf­bah­ren, tage­lang bewei­nen, bis kei­ne Trä­nen mehr kom­men und den Leib dann bestatten.

Und, bit­te, noch ein rea­les Bei­spiel. Ein Jun­ge aus mei­ner Bekannt­schaft ist mit 17 an Blut­krebs ver­stor­ben. Ein­ge­äschert in der Schweiz, Urnen­über­ga­be. Dann trenn­ten sich die Eltern, womög­lich aus Trau­er. Dann muß­te ein Haus ver­kauft wer­den. Alles war kom­pli­ziert. Die Urne ist nun lei­der, sehr pein­lich, ver­schol­len. Für die Eltern ist es ein gerin­ges Pro­blem unter so vie­len. Aber Groß­el­tern lei­den furcht­bar dar­un­ter, daß es kei­nen Ort gibt, um zu trauern.

Wo soll man denn hin, mit der Trau­er ohne Boden? Was für eine boden­lo­se Trau­er. Für mich sind deut­sche Fried­hö­fe ein Kul­tur­gut ers­ten Ran­ges, erst recht an die­sen Tagen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (67)

Laurenz

2. November 2025 10:30

@EK ... früher dachte ich auch an den individuellen Trip nach dem Abtritt zur Großen Armee. Aber umso näher man diesem Datum kommt, umso weniger wichtig wird der individuelle Popanz. Meine katholische, kirchensteuerzahlende Mutter bestimmte, daß mein aus der Protestantischen Kirche ausgetretener Vater von einem vor-lutherisch traditionsbewußten Protestantischen Pfarrer würdig beerdigt wurde (der nichts verlangte), nachdem der katholische Pfarrer nur eine Beerdigung III. Klasse anbot. Ich hätte natürlich einen Ethiker gebeten, aber ich war nicht mit meinem Vater verheiratet. Das Doppelgrab kostet in der Heimatgemeinde, die halb-illegal, halb-legal Friedhofskosten quer finanziert, 800 Euro für 40 Jahre, während bei den nachbarlichen Pleitegemeinden 25 Jahre bereits 2k Euro kosten. Gräber werden immer kleiner, auch eine Frage der sinkenden monetären Möglichkeiten. Das Schmücken des Grabes meines Vaters mit weißem Marmor mit Goldfarbe beschriftet, kostete meine Mutter einen 5-stelligen Betrag. Meine Zwangs-Erfahrung aus dieser väterlichen Beerdigung war durchaus positiv. Wenn man den Friedhof besucht, ist man nie allein, man trifft immer Mitbürger, denen es genauso geht. Das verlagert die Last auf mehrere Schultern. Leid wird relativ.

Laurenz

2. November 2025 10:44

@EK (2) ... mein Vater liegt zwischen einem 21jährigen Serbischen Selbstmörder & einem 23jährigen Krebstoten, der wieder neben eine schmerzlich vermißten Frau & Mutter in den frühern 50ern liegt, die auch dem Krebs zum Opfer fiel. Eine Türkische Frau die Reihe weiter oben, lehnte es ab, Ihren doch früh verstorbenen Mann auf dem Muslimischen Friedhof der Nachbarkommune zu beerdigen. Ihr Mann hätte nicht mit Türken, sondern mit den Deutschen Ihrer "Heimatsstadt" gelebt, da soll Er auch mit jenen, die sein Leben bestimmten, zusammen ruhen. Gestern fuhr ich meine Mutter (kann Selbst nicht fahren, wegem akuten Grauen Star), nach Sendelbach zu den Familiengräbern. Die Deutsche Kriegsgräberfürsorge machte da noch richtig Geld, gut, nicht? Da war noch richtig Massenauflauf, schon angenehm, aber die Predigt des lokalen (katholischen) Pfarrers vertrieb mich nach 5 Sätzen. Für mich persönlich ist der Katholizismus einfach zu Nordkoreanisch. Das Wetter war auch zu regnerisch. Der Nebelung braucht Dunst oder Nebel, um gemäß Theodor Storm, den Kontakt zur Anderwelt zu erleichtern. Vielleicht lagen Sie, EK, als Europäer mit Samhain, dem Führer der Ahnentoten auch gar nicht so verkehrt.

Carsten Lucke

2. November 2025 11:01

Sehr berührender Text, aber : Nein ! Meiner Erfahrung nach ist man dem Toten nirgends ferner als an seinem Grab.

t.gygax

2. November 2025 11:59

" polnische Friedhöfe starren vor Plastik".Das ist leider wahr.Besuch auf dem Friedhof von Frombork, deutsch Frauenburg ( mit Nikolaus Kopernikus Gedenkstein und Focaultschem Pendel!), ein unsagbar trister Anblick.Plastikkitsch, ein furchtbar grelles Bild....

Ernestine

2. November 2025 12:07

Das, was Sie beschreiben, ist gute, katholische Tradition. 
Ich selbst bin vor 35 Jahren zum katholischen Glauben konvertiert, dann fast ebensolange in der katholisch-chatismatischen Erneuerung beheimatet gewesen und mit der ganzen Familie erst kürzlich zu den katholischen Traditionalisten gestoßen. Endlich zuhause angekommen! 
Mit Friedhofsbesuchen tat ich mir immer schwer. Unverarbeitete Trauer über den Tod meines Vaters als Fünfjährige. Großeltern und Mutter, die aus Ostpreußen vertrieben wurden.
Kindheit und Jugend verbrachte ich in München. Wir sind wir oft im Waldfriedhof spazieren gegangen. Wegen der Stille und der guten Luft. 
Öffentliche Bekundung von Trauer ist mir sehr unangenehm. Ich habe mein "Vater-Trauma" im Gebet zuhause verarbeitet, ganz allein mit Gott. Ohne Zuschauer. Das war dann mit über 40 meine innere Heilung. 
Die Erinnerung an meine Ahnen pflege ich auf mystische Weise, ausschließlich im Inneren meines Herzens. Unkatholisch, aber eben ich... 

Majestyk

2. November 2025 13:15

Nirgendwo zeigt sich Kulturverfall deutlicher als bei Bestattungen. Ob einem nun am Grab vom kleinen Prinzen aus dem Weltraum erzählt wird oder der Nebenmann mit Flip-Flops auf dem Friedhof erschienen ist. Wer wirklich hip sein will, entscheidet sich längst für den Friedwald, klingt idyllisch, ist vor allem ein Bombengeschäft. Und genau das ist Sterben in Deutschland ja auch, die Friedhofsgebührensatzungen sprechen eine eindeutige Sprache. Bei den Bestattungen zeigt sich, wie sehr gerade Katholiken ihrem eigenen Glauben wirklich vertrauen. Die setzen längst auch auf Feuerbestattungen und Ewigkeit endet auch für Katholiken nach zwei oder drei Jahrzehnten. Von wegen Auferstehung des ewigen Leibes.  Juden und Muslime sind da anders, die nehmen den eigenen Glauben wenigstens formal noch ernst. 

nagini

2. November 2025 14:29

Das wünsche ich Ihnen wirklich, Frau Kositza, dass Sie bis ins ganz hohe Alter körperlich und geistig fit bleiben werden und genauso bleiben, wie Sie sind. 

Monika

2. November 2025 16:36

Ich bin heute "zufällig" in Neustadt Weinstraße in einer Heiligen Messe in überliefertem Ritus gelandet. Weshalb ich  nicht an Zufälle glaube. Gleich zu Beginn wurde das Lied "Wir sind nur Gast auf Erden" gesungen. Das sang ich als Kind schon an Allerseelen auf unserem Friedhof in Frankfurt, auf dem meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern liegen. Als Kind mochte ich das Lied nicht und fand den Feiertag eher etwas duster u.deprimierend. Ich konnte noch alle Strophen mitsingen, jetzt fast heiter. Denn wie heißt es bei Novalis: "Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause." Ich mag alte Friedhöfe und die Änderungen in Rheinland-Pfalz sind unschön und wohl vor allem unseren muslimischen Mitbürgern geschuldet. Wer kauft denn ein Haus, in dessen Garten Urnen vergraben sind ? Die jüdischen Friedhöfe im Elsass (Rosenwiller) sind sehr alt (Bis ins 15.Jhd) und erhebend. Aber unsere Friedhofskultur verändert sich leider ins individuelle und unspezifische. Auch ich weiß nicht, wo ich mal begraben werden will und werde. 🫢Meine Namenspatronin soll mir Richtschnur sein.

Gracchus

2. November 2025 16:39

Mir geht es überraschend ähnlich. Auf Friedhöfe gehe ich auch gern, früher hab ichs häufiger getan. Jetzt - an Allerheiligen/Allerseelen - gerate ich immer in eine besondere - Geborgenheit vermittelnde - Stimmung. Dazu muss ich nicht mal einen Friedhof aufsuchen. Die Stimmung kommt wohl aus der Tuchfühlung mit dem, was @Laurenz Anderswelt nennt. Meine Toten scheinen dort gut aufgehoben. Leider haben viele Pfarrer hierfür keinen Sensus oder keine angemessene Sprache. 
Mit Fronleichnam verbinde ich starke Kindheitserinnerungen. Das ganze Dorf war damals entlang der Prozession mit Fahnen geschmückt. Ich liebe Prozessionen.
 

Dieter Rose

2. November 2025 16:43

@t.gygax "polnische Friedhöfe starren vor Plastik" In Hirschberg/Schlesien waren die aufgebrochenen Familiengräber und Mausoleen der Deutschen mit Plastikflaschen und sonstigem Müll gefüllt. Das war vor etwa 20 Jahren. Vielleicht wird  inzwischen den verstorbenen Vorbewohnern  mehr Respekt gezollt. 
 

Laurenz

2. November 2025 16:44

@Majestyk ... Gräber von Kelten basieren meist auf Erdbestattungen, Germanen & Skandis verbrennen in der Regel nach dem Tod. https://youtu.be/VivUVsVPLu0 https://www.youtube.com/shorts/suG161cQesM?feature=share Die christliche Erdbestattung basiert auf der Opposition zum Heidentum gegen Hel (Frau Holle) & mit dem Fegefeuer. Wieder haben Sie nicht recherchiert. Zumindest in Hessen sind Friedhofsgebühren meist zu billig, weil die Hessische Gemeindeordnung vorschreibt, daß die Kosten des Friedhofs auf die Familien der jeweils neuen Toten zumindest ansatzweise umgelegt werden müssen. Damit verfällt aber Ihre Kultur aus Mangel an Geld. @T.Gygax ... vor 4 Jahren besuchte ich einen großen Friedhof in Budapest. Dort gab es keine funktionierende Friedhofsordnung. Dort wurden auch keine Gräber aufgelöst, viele mit Sträuchern überwuchert. Zigeuner ließen dort ihren Toten Moshammer-Mausoleen errichten. Zigeuner (Frauen in Mini-Röcken & hohen Klotzschuhen) waren auch die einzigen, die Wallfahrtsorte in größerer Zahl besuchten. @Carsten Lucke ... Ihre Weise sei Ihnen unbelassen. Aber jeder muß seinen eigenen Weg finden, Trauer & Verlust zu bewältigen.

Monika

2. November 2025 17:16

Ich hatte nie den Gedanken, mir ein langes Leben zu wünschen. Da bin ich eher bei Andreas Gryphius' BETRACHTUNG DER ZEIT, wo es darum geht, daß "der Augenblick mein ist". Ein kleiner Moment kann eine lange Zeit aufwiegen. 
.https://www.planetlyrik.de/lyrikkalender/andreas-gryphius-gedicht-betrachtung-der-zeit/

Caroline Sommerfeld

2. November 2025 19:53

Ich stieß kürzlich (sowas kriegt man beim Rechneraufklappen ja immer penetrant präsentiert: die Themen, für die man sich interessiert, aus Mainstreamperspektive) auf diesen Beitrag des ZDF: https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/bestattung-gesetz-deutschland-100.html Ursprünglich war ein Filmchen eingebettet, das eine moslemische Beerdigung mit Sarg zeigt, Tenor: sie brauchen eben viel Platz, deswegen ist es gut, wenn die Deutschen sich auf Urne oder gar ausgestreute Asche oder gleich den Diamanten beschränken. Offensichtlich hat man das Video nach dem 19.10. als ich die Seite besucht habe, wieder rausgenommen. 

Folgender Artikel https://www.corrigenda.online/kultur/kolumne-von-guido-rodheudt-himmelsfriedhof  weist auf das dahinterstehende Problem hin: die völlige Ahnungslosigkeit der Christen über ihren eigenen Glauben. Manchmal denke ich mir, die Missionare hatten es weiland besser: sie trafen auf ungläubige Heidenvölker – wir treffen auf vehement vertretene Patchwork-Eso-Privatglaubenssysteme oder auf völliges Desinteresse. 

RMH

2. November 2025 20:28

Die gesamte "Grabauflösungs"-Thematik geht mir gegen den Strich. Von wegen "letzte Ruhestätte". Der Islam sieht, wenn ich mir richtig erinnere, eigentlich - wie das Judentum - vor, dass da auch nichts "aufgelöst" werden soll. Bin mal gespannt, was es da für Diskussionen in 15- bis 20 Jahren gibt, wenn die ersten moslemischen Gräber "neu" vergeben werden sollen. Vermutlich haben die bereits ne Extra-Wurst.
Was bereits heute besonders bitter für manche ist: Nicht wenige Friedhofsordnungen sehen für Einzelgräber, also keine sog. Famliengräber, keine Verlängerungsöglichkeit vor. Dann ist nach 20, 25, 30 Jahren eben Schluss mit der Erinnerung an den Menschen, der da lag.
Insgesamt geht das Friedhofswesen in Dtl. in der Tat genauso den Bach herunter, wie der Rest vom Land halt auch. Katholische Restromantik ändert da leider auch recht wenig daran.
 

Laurenz

2. November 2025 20:59

@CS ... glauben Sie mir, hätten alle Christen die Bibel komplett gelesen, wäre der %-Satz derer, wie meine Wenigkeit, die den Laden & den Glauben daraufhin verlassen, wesentlich größer. Ihr Glaube, CS, hat nichts mit Ihrer wissenschaftlichen Ahnung zu tun. Sie könnten auch als wenig gebildete Küchenhilfe denselben Glauben in derselben Intensität pflegen. Der Glaube schaltet jegliche Ratio den Glauben betreffend aus, oder man glaubt nicht. @Ernestine ... wie EK korrekt andeutete, ist fast jegliche Katholische Tradition, vor allem die der Feiertage Heidnischen Ursprungs. Die Missionare, die Kirche ersetzte einfach die alten Feiertage quasi termingleich durch nun kirchliche. In unserem Kulturraum wurden auch die wenigsten freiwillig Katholiken. Das muß man also nicht ganz so eng sehen. Diese feiertäglichen Termine besitzen eine natürliche Eminenz, egal, wie man sie bezeichnet. Für jeden sind traumatische Erlebnisse schwer zu offenbaren, auch ererbte. Das Schweigen hilft dann, wenn man keine Unterstützung findet. Wenn man allerdings kompetente Unterstützung findet, die einen auffängt, erleichtert die Offenbarung der Erlebnisse das Finden einer guten Lösung.

Gracchus

2. November 2025 21:01

@C. Sommerfeld: Frühere Heidenvölker hatten ja auch ihre Religionssysteme, wenn sie die auch wohl nicht privatistisch-individualistisch aufgefasst haben. 
Sehr viele Deutsche scheinen einen natürlichen  Hang zu Naturanbetung und Pantheismus (oder Panentheismus) zu haben. Es tröstet sie anscheinend mehr in einem Baum weiterzuleben als im Himmel und leiblich. Viele sind ja auch "Griechen", leicht geht es einem daher wie Paulus mit den Athenern, spricht man von der Auferstehung des Fleisches.
Ich halte die Auferstehung des Fleisches zwar für zentral (wie Paulus) - auch für die Mission -, schließe daraus aber nicht die Notwendigkeit von Erdbestattungen, wie @Majestyk anscheinend meint.
 

Gracchus

2. November 2025 21:05

@Ernestine: das ist ja ein interessanter religiöser Werdegang. Frage: Schließen sich Charismatismus und Traditionalismus aus (immer diese -ismen!)? (Ich kenne nur traditionalistische Milieus). Das wäre etwas komisch, da ja beides unter dem selben Dach zu Hause sein soll. Ich finde es unbefriedigend, wenn jedes Grüppchen ihr Süppchen kocht. 

Laurenz

2. November 2025 22:29

@Gracchus @Ernestine ... finde es unbefriedigend, wenn jedes Grüppchen ihr Süppchen kocht. ... Das unterscheidet uns fundamental. An der Geschichte EKs, inklusive der unterschiedlichen Lebensabschnitte, können Sie doch ermessen, daß EK sich einen vergleichsweise individuellen Weg gesucht hat, um sich dieser spirituellen Angelegenheit (Allerheiligen, Halloween (hier dazu ein ARTE-Doku (geht so) https://youtu.be/5_E2g1lVCj8 ) oder Samhain), auf dem Friedhof anzunähern & sich dabei wohl zu fühlen. Auch der Einwand des Teilnehmers @Carsten Lucke ist für Ihn persönlich eminent, da Er, wie Er sagt, außerhalb des Friedhofs besser klar kommt. Die "traditionellen" Christen sind auf die spirituellen Erfahrungen einer arg überschaubaren Anzahl von Leuten im Orient vor 2k Jahren angewiesen. Bei den Katholiken kommen dann noch Wunder hinzu, deren "Genehmigung" durch die Kurie einer langwierigen Zertifizierung durch die EU gleicht. Das wohl berühmteste Beispiel ist Hildegard von Bingen, welche ihre Wahrnehmungen von einem päpstlichen Nuntius genehmigen lassen mußte. Seit 13 Jahren, also nach 850 Jahren ist Hildegard nun auch eine Heilige. Solche Gruppenzwänge verhindern doch den persönlichen Kontakt zur Anderwelt.

Gracchus

2. November 2025 23:19

@Laurenz: Da möchte ich widersprechen. Ich mache derzeit die Probe und lese die Bibel von vorne bis hinten durch, und das ist seelisch absolut bereichernd. (Natürlich hatte ich schon zuvor das NT komplett gelesen und einzelne Bücher im AT, sowie täglich Psalmen).
Keine Ahnung, was Sie genau mit ratio meinen, aber da der Glaube den ganzen Menschen ergreift oder ergreifen soll, gehört auch die ratio dazu. Wenn Sie Glaube mit Vertrauen umschreiben, ist klar, dass kein Mensch ohne überlebt. Natürlich können Sie Ihr ganzes Vertrauen in die Wissenschaft legen, also in Hypothesen - ich nicht.  
Dass eine Küchenhilfe intensiv glauben kann, ist richtig. Wofür oder -gegen ist das ein Argument? 
Ich wünsche mir, dass hierzulande mehr Glaube, Hoffnung, Liebe zirkulieren.  Sozusagen mehr Jerusalem als Athen (vgl. Schestow: Jerusalem und Athen). 
 
 

Gracchus

2. November 2025 23:29

@Laurenz: P. S.: das mit den christlichen Festen erscheint mir auch übertrieben. Was soll denn das heidnische Vorbild für Ostern oder Pfingsten sein? Es wäre mir letztlich auch egal. Erstens weil Christen wissen, was sie da feiern. Zweitens ist heidnisch nicht = teuflisch. Ich finde es auch nicht falsch, wenn dem Heiden (in mir) Konzessionen gemacht werden.
 

dojon86

3. November 2025 07:59

Ein Volk, das weder seine Sprache, noch seine Rituale mehr pflegt, ist keines mehr. @Laurenz Sie reden viel von der Bibel und vom Glauben. Ich sag's ihnen ganz offen, die ewige Rederei vom Glauben geht mir auf die Nerven. Das ist so ein lutherischer Tick. Dass ich die Traditionen meiner ländlichen österreichischen Herkunft liebe und sie tröstlich finde, hat aus meiner Sicht nichts mit Glauben zu tun. Wenn ich an meine katholische Konfession denke, dann denke ich an den heiligen Severin, der im Augenblick tiefster Verzweiflung in den römischen Donauprovinzen zu retten versuchte, was zu retten war. Ob sich irgendwelche Leute an irgendwelchen Sätzen in der Bibel festbeißen ? Na wenn es ihnen hilft. Aus meiner Sicht ist die Bibel ein literarisches Werk, dass vor allem im alten Testament mehr einer Stammessage ähnelt. Die Sprache ist vor allem in der Übersetzung Luthers wuchtig und schön. Aber aus dem Inhalt kann jeder herauslesen, was er sich wünscht.

Laurenz

3. November 2025 09:05

@Gracchus @L. ... Sie dürfen/können die Bibel solange & sooft lesen, wie Sie wollen. Wer soll Sie daran hindern? Ich ganz gewiß nicht. Meine Empfindung ist die gegenteilige Reinhold Messners, der die Weite der Wüste als Geburtsort der Abrahamitischen Religionen feiert. (Vielleicht schauen Sie mal die religiösen Videos Messners am Berg Kailasch, den die Buddhisten quasi kriechend umrunden & der Wüste, etc.). Ich komme aber nicht aus der Wüste, sondern aus dem grünen kalten Norden. Bei uns erkrankt man selten an Heliosis, sondern sieht den Atem eines Drachen im flachen Morgennebel auf einer Wiese oder einen Schimmel auf der Hallig. Daß ich gegenüber der werten @CS das Beispiel der Küchenhilfe brachte, bezog sich auf das Argument CSs, daß die Christen keine Ahnung von ihrer eigenen Religion hätten. Hatte dieser Fakt jemals einen christlichen Missionar von der Mission abgehalten? Lesen die Katholischen SiN-Follower die Bibel auf Latein oder Griechisch? Zeitschnur vielleicht. Aber bis Luther zogen Katholische Priester bei uns für 1.000 Jahre die Messe auf Latein durch, das 90% eh nicht verstanden. EK, das unterstelle ich, würde sagen, daß in diesen 1k Jahren aber der Katholische Glaube authentischer war. Ich behaupte das auch, siehe die Kreuzzüge, siehe den Kaperkrieg gegen die Sarazenen.

Le Chasseur

3. November 2025 09:15

@Gracchus"das mit den christlichen Festen erscheint mir auch übertrieben. Was soll denn das heidnische Vorbild für Ostern oder Pfingsten sein?"
Ostern fällt ja in die Jahresphase, in der die Tage länger werden als die Nächte (Tag und Nachtgleiche ist am 21. März), die Temperaturen steigen und die Wachstumsphase der Pflanzen beginnt, eine Auferstehung des Lebens und des Lichts also. Bei Weihnachten ist der Fall eindeutig, früher wurde an dem Termin die Wintersonnenwende gefeiert, also der Zeitpunkt, an dem die Tage wieder länger werden. Richtig spürbar wird das dann ab Lichtmeß Anfang Februar.

RMH

3. November 2025 10:13

"und lese die Bibel von vorne bis hinten durch, und das ist seelisch absolut bereichernd."
@Gracchus, habe ich schon vor vielen Jahren gemacht. Für mich wars das Ende meiner Zeit bei sog. evangelikalen Christen (damals noch sogar unter dem Dach der offiz, Amtskirche, wobei diese "Umtriebe" mehr als kritisch von "oben" beäugtwurden, da biblischer Fundamentalismus bereits damals "verdächtig" war), bei denen ich mich aber nie so richtig wohl gefühl habe. Fand gerade im alten Testament vieles derart unsympathisch und auch nicht irgenwie "menschlich" und "wie Gott sich erbarmt" etc.,  wie das immer wieder dargestellt wird. Bei den Psalmen konnte ich ebenso wenig nur selten etwas lesen, was ich seelisch bereichernd hätte empfinden können. So ist das Individuum eben unterschiedlich.
@Laurenz, beim Glauben geht´s nicht um irgendwelche Genese von einstmaligen Stammeskulten hin zu Weltreligionen. Das ist intellektuell nice to know, aber religiös schlicht irrelevant. Klar, gerade Intellektuelle oder Leute, die anderen ständig von irgendwas "überzeugen" müssen,  haben ihre Erklär-Bär- Kartei in ihren grauen Zellen immer gut gefüllt zu halten.

Maiordomus

3. November 2025 10:14

@Sommerfeld. "Die völlige Ahnungslosigkeit der Christen über ihren eigenen Glauben." Das ist jedenfalls nicht eine Folge  der neueren "Aufklärung", welche eher zur Vergleichgültigung geführt hat. Es gab zu jeder Zeit bedeutende christliche Intellektuelle, der erste war Paulus, einer der frühesten Augustinus, immerhin der Erfinder der Autobiographie und der existentiellen Selbstreflexion. Auch Meister Eckhart hat das Christentum bzw. die christliche Mystik auf orientierende Weise verstanden, Erasmus betrachtete das Neue Testament so wissenschaftlich es nur möglich ist. Pascal war ein überragender Intellektueller, konnte zugleich mathemtisch und intuitiv denken, wie Kepler und Newton. Kierkegaard und der nun zum Kirchenlehrer erhobene Henry Newman waren je einzigartige protestantische und katholische Intellektuelle, längst so intellektuell wie irgendein Marxist, siehe noch Baader, der wohl interessanteste deutsche christliche Philosoph der letzten 200 Jahre. Grossen Respekt  empfinde ich gegenüber Albert Schweitzer, siehe seine Leben-Jesu-Forschung, seine Bücher über Bach und "Die Mystik des Apostels Paulus". Die sog. Klimagläubigen sehe ich ungefährt auf Niveau Hexenhammer, den man zwar nicht unterschätzen sollte, so wenig wie das "Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens". Unter modernen Theologen wohl Teilhard massiv unterschätzt. 

Umlautkombinat

3. November 2025 10:21

Vertrauen in die Wissenschaft legen, also in Hypothesen

Jetzt lehnen Sie sich aber weit heraus, indem Sie implizieren, dass Glauben oder besser seine konkreten Inhalte irgendwie per se keine Hypothesen abbilden wuerden. Wissenschaft ist vorlaeufig, das gibt sie auch zu. Sie heben auf den Punkt ab aber fragen nicht, warum Glaube das gerade nicht tut. Oder besser, es lebenslang versucht, nicht zu tun. Das ist naemlich ein Charakteristikum und aus meiner atheistischen Sicht heraus gerade keine Staerke (und eine von Wissenschaft).     

Gracchus

3. November 2025 10:54

@Laurenz: Es muss natürlich sein Süppchen heißen. Ansonsten: Sie kommen auch immer mit denselben Textbausteinen. 
Dabei unterschlagen Sie: Das keltische Christentum hat den Kontakt mit der Anderswelt weiter gepflegt. Jesus hat nicht alles gelehrt,  sondern den Hl. Geist verheissen. Jeder Christ macht, wenn er sich persönlich an Gott wendet, eigene Erfahrungen. Dann sind da Myriaden von Heiligen und ihre Erfahrungen. Das Johannes-Evangelium endet mit der Auskunft, dass kein Buch der Welt fassen könne, was Jesus getan habe, denn die Geschichten gehen weiter. Die liturgische Zeit ist eine andere. Da ist alles Gegenwart, auch das, was vor 2000 Jahren geschah, da ist die Fülle der Zeiten. Lassen Sie mal das Exsultet in der Osternacht auf sich wirken! 
Glaube, Hoffnung, Liebe wollen Sie ja aus Ihrer individualistischen Selbstverkapselung heraus- und in die Gemeinschaft mit dem Dreieinen Gott und seinen Engeln und Heiligen hereinholen. 
 

Le Chasseur

3. November 2025 11:37

@Gracchus
Noch ein Nachtrag zu Ostern: Das Osterlamm hat vermutlich Bezug zum Tierkreiszeichen Widder. Die Sonne befindet sich im Mittel in der Zeit zwischen dem 21. März und dem 20. April in diesem Zeichen.

Rabenkaiser

3. November 2025 12:23

Friedhöfe sind auch für mich Sehnsuchtsorte. Wo ich niemanden kenne, zieht es mich hin – und plötzlich werden die eigenen Sorgen klein, fast durchsichtig. Das Bewusstsein für all die Generationen, die vor uns waren, tritt hervor, und alles Gegenwärtige ordnet sich still ein.
Doch dort, wo geliebte Menschen als „Steine unter Steinen“ verweilen, ist es umgekehrt: Da werden die eigenen Sorgen so groß, dass sie überlaufen – sie wollen hinaus, gesprochen, geteilt werden, als könnten Worte den Abstand zwischen den Welten für einen Moment überbrücken.
Apropos Friedhöfe – es passt thematisch nur dezent hierher, aber ich möchte es dennoch anbringen. Cioran, der selbst Friedhofsgänger war, schrieb: „Man stelle die Wörter dorthin, wo sie hingehören: lauter Gräber auf dem Alltagsfriedhof des Sprechens. Was durch den Gebrauch geheiligt ist, bedeutet den Tod der Sprache: ein vorhergesehenes Wort ist stets ein verstorbenes Wort, und nur ein abwegiger Gebrauch flößt ihm neues Leben ein – bis die Allgemeinheit es sich zu eigen macht, es verunreinigt und abgreift.“
Ein Satz, den man sich gerade in sprachpolitischen Zeiten öfter ins Gedächtnis rufen sollte.

MarkusMagnus

3. November 2025 13:09

Interessant wie Unterschiedlich der Umgang mit den Toten in der Geschichte ist.
Die alten Zoroastrier sahen einen Friedhof als "zweitschrecklichsten Ort" auf der Welt an und legten ihre Toten auf die Gipfel von Bergen oder Türmen. Die Aasgeier besorgten den Rest.
Die Ägypter sorgten sich dagegen sehr um die Erhaltung des Körpers. Auch Katzen wurden mumifiziert.
 

Gracchus

3. November 2025 15:20

@Umlautkombinat: tja, weiß nicht. Im Glauben geht es um die persönliche Beziehung Gott - Mensch. Daher darf die Analogie zu persönlichen Beziehungen mit Menschen erlaubt sein. Darin ist, würde ich meinen, nicht wissenschaftliche Objektivität eines unbeteiligten Beobachters gefragt, sondern persönliches Engagement, und es wäre doch verfehlt, den Anderen als Objekt zu behandeln, an dem man wissenschaftliche Hypothesen ausprobiert. Wenn Sie sich dazu entschließen, Person xy zu heiraten, beruht dieser Entschluss dann auf wissenschaftlichen Hypothesen? 
 
 
 

Gracchus

3. November 2025 15:42

@RMH: tja, da sind die "Geschmäcker" verschieden. Wobei mir auch nicht alles schmeckt oder sympathisch wäre, was ich da im AT lese. Mir schmeckt aber auch nicht alles, was mir die Realität vorsetzt. Ich bin auch nicht für einen Biblizismus zu haben. Was mich da ergriffen hat, lässt sich nicht so einfach bestimmen. 

Kositza: Wem das AT runtergeht wie Öl, ich weiß ja nicht... Man muß das alles mit einer guten, kundigen Kommentierung lesen! https://antaios.de/antaios-liefert-jedes-buch/193209/die-bibel-vorkonziliar

Licht des Vaterlandes

3. November 2025 18:12

Ich lebe am Rande Dresdens, wo es einen herrlichen alten Friedhof gibt, dessen romantisches Kapellchen vom bekannten Architekten Waldemar Kandler errichtet wurde, und der selbst dort auch begraben liegt, in Sichtweite zu seinem Werk. Das 19. Jahrhundert ist hier noch spürbar, und damit die - leider verblassende - deutsche Romantik. An den alten, leidlich gepflegten Grabsteinen liest man die alte Grab- und Bestattungskultur ab. Leider verfallen viele alte Grabstätten, wo blutjunge Soldaten liegen, die für Volk und Vaterland im 1. Großen Krieg ihr Leben gaben. Die Tendenz zu Unverbindlichkeit, Anonymität und Plastikfirlefanz ist aber leider auch an diesem Ort erkennbar. Es wird immer mehr auf eine Weise bestattet, wie zunehmend oberflächlich und naiv gelebt wird. Funktioniert aber nur in einer  von gelangweiltem Überdruss und Dekadenz  gesättigten Gesellschaft. Ich wage die Prognose, dass nach einer Dekade des totalen Niedergangs und grausamster Kulturkämpfe nichts mehr davon übrig bleibt. Man wird den Tod wieder zu würdigen wissen. Ich kann David Engels, den großartigen Analysten unserer Epoche (z.B. "Was tun ? "), nur wärmstens empfehlen.

FraAimerich

3. November 2025 20:45

@Maiordomus: "Unter modernen Theologen wohl Teilhard massiv unterschätzt."
Gut möglich, vielleicht auch, weil Teilhard im Westen in mehreren Wellen von "New Agern", Hippie-Mystikern, "Deadheads", LSD-Cybernauten und nicht zuletzt auch den globalen Algorithmenjongleuren des Silicon Valley rezipiert und verwertet wurde und wird.
Wenn man in den 1960er/70er Jahren in der so populären amerikanischen Science-Fiction-Literatur, etwa beim legendären Philip K. Dick, auf einen Theologen stieß, dürfte es Teilhard gewesen sein, der heute - vor dem Hintergrund "globaler neuronaler Netze" - sozusagen als Prophet einer Technik und Spiritualität versöhnenden, transhumanistischen Vollendung der Noogenese gedeutet wird. Die Immanentisierung des "Omegapunkts" steht so gesehen kurz bevor.  

Le Chasseur

3. November 2025 21:45

@MarkusMagnus"Die alten Zoroastrier sahen einen Friedhof als "zweitschrecklichsten Ort" auf der Welt an und legten ihre Toten auf die Gipfel von Bergen oder Türmen. Die Aasgeier besorgten den Rest."
Wird heutzutage von Buddhisten in Tibet auch noch praktiziert:
https://www.spiegel.de/fotostrecke/larung-tal-in-china-himmelsbestattung-mit-geier-fotostrecke-131559.html

Dagmar Sutter

3. November 2025 23:57

Mit Interesse habe ich Ihren Artikel gelesen. Ein Thema, welches sonst nicht so besprochen wird. Doch frage ich mich, was sie  mit "schwulem Liedgut" meinen. Was soll man sich darunter vorstellen? 

Kositza: Das "Neue geistliche Lied" im Allgemeinen, Schlager wie "Tanzen ja tanzen und springen wollen wir" und "Manchmal feiern wir mitten im Tag" im Besonderen. "Schwul" meine ich im übertragenen Sinne - peinlich. (Ich weiß, daß viele in den 1980er Jahren katholisch sozialisierten Menschen eine Anhänglichkeit an dieses auch rhythmisch weichliche Liedgut haben - was es nicht besser macht.)

Olmo

4. November 2025 08:51

Als ich klein war, sechs Jahre alt, nahm meine Oma mich einmal mit zur Pflege von Opas Grab. Ich durfte die Gießkanne füllen, tragen und auch mit ihr gießen. Meine Oma lobte meine Kraft und meinen Fleiß, und ich war mächtig stolz. Das Grab meines Vaters wurde bereits abgeräumt. Ich war erschüttert, als ich davon erfuhr, wir waren extra nach Deutschland gereist, um das Grab zu besuchen. Meine Mutter hatte uns nicht einmal danach gefragt, ob wir einverstanden damit sind. Sie kommentierte etwas genervt, daß wir uns nie darum gekümmert hätten, sie auch nicht. Der einzige, der das Grab regelmäßigt besucht und gepflegt habe, sei W. gewesen (der beste Freund meines Vaters).
In der Nähe unseres Hauses liegt ein kleiner verfallener Friedhof, der die Saiten in der Seele eines jeden Romantikers zum schwingen bringen dürfte, Zypressen wie auf Böcklins Toteninsel, aus den Gräbern wachsen jeden Frühling Sträucher, die ich nicht benennen kann. Das jüngste Grab ist von 1951.

Monika

4. November 2025 10:09

Danke an @Rabenkaiser und @Licht des Vaterlandes für die wertvollen Beiträge. Friedhöfe sind Sehnsuchtsorte und atmen Geschichte. Die Einordnung in die Generationenfolge und Ausrichtung auf das Göttliche gibt eine Geborgenheit, die neu zu entdecken ist, auch für Kinder. Das individualisierte Ableben ist erbarmungslos. Deshalb ist die Pflege und Kultivierung von alten Friedhöfen wichtig, gerade auch für die, die sich nicht mehr ein- und unterordnen können oder wollen. Die FAZ berichtet heute über Tierfriedhöfe und Trauer um das geliebte Haustier . Schlimm. Natürlich haben wir als Kinder unsere Katzen im Garten begraben, mit Prozession u. Kreuz. Aber den Unterschied zum Menschen wussten wir schon. Ein sehr schöner Friedhof:https://www.freiburg-geniessen.de/de/freiburg/alter-friedhof.php

Caroline Sommerfeld

4. November 2025 10:24

Ich meinte natürlich des "gläubigen Volkes", nicht eines Eckart, v. Baader oder Schweitzer! Aus eigener Erfahrung: Ich habe im Katechumenat (Amtskirche, 2010/11) schlicht und einfach nichts gelernt. Alles (von wenigen Details übers Kirchenjahr, Ämterfunktionen und Lokalgeschichte Wiens abgesehen) habe ich mir später durch Lektüre erschlossen und dann seit 2021 bei der Tradition gelernt. Ein Reichtum! Ein Glück! Und zugleich eine Schmach, wie beliebig, anbiedernd, auf Kindergottesdienstniveau es in der katholischen Kirche heute allüberall abläuft im Bereich der Katechese.

Monika

4. November 2025 11:24

In Kairo wurde kürzlich das größte archäologische Museum der Welt eröffnet und das ist beeindruckend: Dort kann man jetzt den "ganzen Schatz von Tutanchamun" bestaunen. Als Kind las ich voller Faszination das Buch Götter, Gräber und Gelehrte, das bei meinen Eltern im Bücherregal stand. Dort das Kapitel über die Entdeckung des Grabes von Tutanchamun durch Howard Carter. Der Gedanke, dass es noch verborgene Schätze u.unentdeckte Gräber geben könnte, beschäftigte mich lange. Dieses Supermuseum entzaubert diesen Gedanken. Alles, wirklich alles liegt offen zur großen Beschau durch Millionen unserer Art. Eine Art von Exhibitionismus. Und ich warte auf den Fluch der Pharaonen. https://www.welt.de/reise/article6908cb1e179af97ae7d76129/antike-wunder-in-kairo-groesstes-archaeologisches-museum-der-welt-nach-20-jahren-bauzeit-eroeffnet.html

Monika

4. November 2025 13:18

"Die Welt wird religiöser", schreibt Thomas Ribi, Kulturredakteur, in der NZZ. Nur in "Westeuropa breite sich Beliebigkeit aus", woraus folge, daß "ein Europa, das seine religiösen Fundamente verliere,  in globalen Konflikten eine schwache Position habe." Beliebigkeit hat nichts mit Toleranz oder Weltoffenheit zu tun, im Gegenteil, nur eine Ver-bindlichkeit anerkennt Kultur und respektiert andere Kulturen. Die modernen Friedhöfe, Friedwälder oder zu Diamanten gepresste Asche sind Zeichen des Zerfalls. Götter und Gräber, das hängt zusammen.https://www.nzz.ch/meinung/ein-europa-das-seine-religioesen-fundamente-verliert-ist-fuer-die-globalen-konflikte-schlecht-geruestet-ld.1909709

Maiordomus

4. November 2025 13:20

@FraAimerich. Betrift Teilhard de Chardin: Ich bitte Sie, diese Thematik nicht aus geschilderter Idiotenperspektive zu betrachten. Wenn schon aus einem der dramatischsten Gesichtspunkte der christl. Theologie, nämlich des eschatologischen Humanismus. Die Grundfrage, die seit der mittelalterlichen Mystik, auch früher oder später wesentlich blieb: Setzte die Menschwerdung Gottes den Sündenfall voraus, bedingte sie denselben,  oder gehörte sie sozusagen zum "Schöpfungsplan" seit Anbeginn? Befasste mich zwischen 1963 bis 1967 erstmals mit Teilhard, auf Basis des franz. Teilhard-Kenners Pierre Chauchard, dessen 4 Bücher zum Thema die Schweizer Teilhard-Rezeption von damals, Josef Vital Kopp, u.a. anregte.Also kein  Konnex zu Hippie-Quatsch. Hingegen fragte er: "Wer spricht in einer Million Jahren noch darüber?" Für mich war Teilhard nicht zuletzt ein Fortsetzer des Blicks in den Kosmos à la Kepler und Pascal. Letzterer lebte wie Teilhard in Clermont-Ferrand, wo ich vor Jahresfrist 8 km vom Stadtzentrum sein Geburtshaus aufgesucht haabe, von dem Einwohner aus unmittelbarer Umgebung bereits nichts mehr wissen. Von den modernseinwollenden Theologen interessieren sich nur wenige für Teilhards Fragestellungen geschweige denn für sein visionäres Gesamtwerk.    

MarkusMagnus

4. November 2025 14:25

@ Monika
Es liegt alleine in Ägypten noch viel Unendecktes unter dem Sand.
Auch in Südamerika findet man im Dschungel noch ganze Städte und Tempelanlagen. 
Viele Artefakte werden auch niemals ein Museum sehen. Die Himmelsscheibe von Nebra wäre um ein Haar auch bei Privatleuten gelandet. 
Einer der größten Verluste war die Plünderung des Museum für Archäologie in Bagdad infolge der US-Invasion im Irak. Seitdem fehlt z.B. die Bagdad-Batterie als Beweis das Elektrizität schon lange bekannt und genutzt wurde.
 

RMH

4. November 2025 17:19

@Monika,
man darf im Grunde froh sein, wenn ein muslimisches Land wie Ägypten mittlerweile - nach Jahrhunderten von Nachlässigkeit, Grabräubertum etc. - achtsam und stolz mit den heidnischen Götzenbildern und dem Totenkult der Vorbewohner dieses Landes umgeht. Daher übe ich bei diesem Museumsneubau keine Kritik. Das ich das Museum nicht besuchen werde, weil ich in kein rein muslimisches Land mehr reisen werde (wieso auch? Bald lebe ich in einem solchen) steht dabei auf einem anderen Blatt.
Thema Friedhöfe, die man besuchen kann: Der Stadtgottesacker in Halle an der Saale ist einen Besuch wert, auch wenn dort die "Restaurierung" einiges verschlimmbessert hat und viel des einstigen, morbiden Charmes, wie er noch in den 90ern vorhanden war, raus aus der Anlage genommen hat. Er ist nicht groß und parkmäßig, eher klein. Aber wenn man ohnehin in Halle ist (das Landeskundemuseum ist auch einen Besuch wert), lohnt sich der Abstecher.

Rabenkaiser

4. November 2025 22:18

@RMH: Heißer Tipp mit Blick Richtung SeitenWechsel, danke!
Mir fallen noch der Südfriedhof in Leipzig und der Bergfriedhof in Heidelberg ein - immer wieder einen Spaziergang wert.

RMH

4. November 2025 22:25

Bei dem Thema vermisse ich einen Kommentar/ Beitrag von Adler & Drache. 
Mal eine dezidierte protestantisch-lutherische Stimme dazu täte bei der ganzen Katholophilie ganz gut. Hoffe, ihm geht´s gut.

Laurenz

5. November 2025 01:45

@RMH @Monika ... die praktizierte Ägyptologie der Islamischen Besatzer Ägyptens stellt einen enormen Wirtschaftszweig dar. Kein Museum, keine Schätze, keine Besucher/Touristen.

Ordoliberal

5. November 2025 05:07

1/2
Meine Mutter ist dieses Jahr ganz unerwartet gestorben. Auf die Frage der Bestatters nach dem gewünschten Begräbnisritual bestand ich zur Überraschung meiner atheistischen Familie auf den katholischen Ritus. Ich bin nicht gläubig. Aber meine Mutter war es. Glaube ich. Auch wenn sie nicht die Bibel las oder in die Kirche ging. (Ob sie betete, weiß ich nicht.) Sie handelte nach der christlichen Moral, ohne sie zu befolgen. Sie war eine praktizierende, keine bekennende Christin.
Ihr Sterben war ihr nicht mehr bewusst geworden. Die Schmerzen - die sie auf einen Bandscheibenvorfall schob - mussten mit hohen Dosen Morphium behandelt werden. Es war ein Wegdämmern.
Dann der Moment, in dem ich ins Krankenzimmer trete, um den Leichnam zu sehen. Ein Handtuch unter dem Kinn als Stütze, die Hände gefaltet, das Gesicht eine Totenmaske ohne die geringste Spur der vertrauten Seele, die noch gestern dahinter gelebt hat. Der Seele, die meine Mutter war. Eine halbe Stunde später wird das Zimmer geräumt. Die Habseligkeiten aus dem Spind nehme ich in einer Plastiktüte mit in die Tiefgarage, wo mein Auto steht.

Ordoliberal

5. November 2025 05:11

2/2Der Ritus in der Aussegnungshalle wird von einer Frau gehalten. Priestermangel. Sie bezeichnet sich als Diakonin, ist aber natürlich nicht geweiht. Sie macht ihre Sache sehr gut. Sie hat sich lange mit uns zusammengesetzt und spricht dann schön und richtig über meine Mutter. Ich spreche auch. Sie liest aus der Bibel. Dann schwenkt sie das Weihrauchfaß über der Urne und singt etwas Uraltes auf Lateinisch in einer fremdartigen Kirchentonart - so ernst und tief und magisch, so tröstlich das Ewige beschwörend, dass ich für immer von meiner läppischen Überheblichkeit gegenüber dem Christentum geheilt werde.
Meine Mutter pflegte lebenslange Freundschaften. Es sind genug Trauergäste da, um die Halle zu füllen. Wir folgen der Urne zum Grab. Man spürt die leichte Unsicherheit über den Ablauf. Wieder macht es die Diakonin gut. Als sie das Vaterunser anstimmt, beten alle erleichtert mit. Das können sie noch.
Eine Kultur, in der wir jedesmal neu verhandeln müssen, wie wir unsere Liebsten bestatten, ist eine sterbende Kultur. Rituale sind Magie. Ein Zauber, der wirkt. Die ewige Linke hat erkannt, wie sie diesen Zauber missbrauchen kann, um ihr ultimativ lebensfeindliches Ziel zu erreichen: Absolute Macht.
Wie schafft es die Reaktion, Rituale zu stiften, die wieder ihrem eigentlichen Zweck dienen, nämlich ein Leben überhaupt zu ermöglichen?

Monika

5. November 2025 10:34

@Laurenz 1:45
schon klar, auch der Muselmann liebt das Geschäftsleben 
Da lobe ich mir Ezra Pound ( 1885-1972) 
" The temple is sacred because it is not for sale." 

Adler und Drache

5. November 2025 11:05

@ RMH
Danke der Nachfrage, ich fühle mich geehrt. Es geht mir wieder besser.
Das Thema beschäftigt auch mich (da ich eine Zeit lang "professionell" mit Tod und Bestattung zu tun hatte). Ich wälze den Gedanken zu einem entsprechenden Artikel schon länger in mir herum, aber wie bei den ein Dutzend anderen Gedanken kam er nicht zur Ausführung. Am Ende schreibt Kositza dann zumeist das, was ich so ähnlich auch geschrieben hätte.
Bei der Bestattung berühren und verbinden sich Individuelles und Kollektives, Religiöses und Völkisches. Von allen Ritualen ist die Bestattung wohl das mit den vielfältigsten und weitesten Horizonten. Zum Beispiel, das deutsche Land ist ja nicht nur Land des deutschen Volks, weil wir es irgendwie besitzen, sondern doch vor allem auch, weil es der heilige Boden ist, in dem unsere Vorfahren ruhen. 
Der letztgültige Ernst als Wesenskern von Tod und Bestattung ist trotz aller Verflachung und Verwahrlosung unzerstörbar. Menschen, die diesen Ernst nicht rituell bewälztigen können, verstummen oder flüchten sich in Phrasen, aber er ist ihnen präsent.  
 

Majestyk

5. November 2025 14:02

@ Ordoliberal:
Mein aufrichtiges Mitgefühl. An der Stelle auch vielen Dank, daß Sie sich derart öffnen und über so persönliche Erfahrungen schreiben.
Ich finde Sie haben zwei sehr wichtige Beobachtungen beschrieben.
"Man spürt die leichte Unsicherheit über den Ablauf."
Ich war in den vergangenen Jahren auf zahlreichen Beerdigungen und genau das ist mir auch aufgefallen, kaum noch jemand weiß wie er sich verhalten soll. Man könnte sagen, es herrscht eine Orientierungslosigkeit innerhalb der Tradition. Im Grunde versucht man doch von Links alles Traditionelle zu löschen, um es anderweitig ersetzen zu können.
"Eine Kultur, in der wir jedesmal neu verhandeln müssen, wie wir unsere Liebsten bestatten, ist eine sterbende Kultur."
Und mit der Kultur stirbt dann auch das Volk. Selbst wenn es in Teilen genetisch überlebt, weiß es nicht mehr was es ist, woher es kommt. Es verliert sein Bewußtsein. Es kann sich auch nicht mehr wehren, sondern wird unmündig und leicht beherrschbar. 
Wer sind wir? Was macht uns aus? Was verbindet uns? Wohin gehen wir? Ich habe keine Antwort, aber der Verlust von Tradition und Ritualen läßt den Menschen so schrecklich allein. 

RMH

5. November 2025 15:34

"Zum Beispiel, das deutsche Land ist ja nicht nur Land des deutschen Volks, weil wir es irgendwie besitzen, sondern doch vor allem auch, weil es der heilige Boden ist, in dem unsere Vorfahren ruhen." 
@Adler und Drache, danke für die direkte Antwort auf meine Frage nach Ihnen. Sie sprechen mit dem oben zitierten Satz etwas Wesentliches, eine Art Tiefenebene an.
Wenn die Deutschen so gerne technokratisch ihre Gräber "auflösen", machen sie Platz für "die Neuen". So wie die Vertreiber die Gräber der dt. Vertriebenen entweder planierten oder ignorierten und dem Verfall, der Schändung und dem Abriss hingaben. Wenn man seine Asche am liebsten in den Wind streut, unter Bäumen verbuddelt oder auf hoher See verstreut, so ist darin auch kein Wille mehr erkennbar, "Ahne" und damit konkret bestimmbarer Vorfahr für nachkommende Generationen zu sein, vielfach vermutlich auch, weil man keine Nachkommen hat. Das Ergebnis fehlender Selbstbehauptung und der Lust an der Selbstauflösung, am Verblassen, sehen wir tagtäglich. Und mit dieser Beobachtung wird die religiöse Dimension noch nicht einmal berührt.

Monika

5. November 2025 17:37

Die Sorge um ein angemessenes Begräbnis beschäftigte schon die griechischen Tragödiendichter ( siehe Sophokles 'Antigone, deren Bruder eine ordentliche Bestattung verwehrt wurde) und zugleich spricht Jesus in Lk 9,60 über die Dringlichkeit der Nachfolge, der das Begräbnis des eigenen Vaters unterzuordnen ist: "Laß die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes," sagt er zu einem Zuhörer, der zuerst seinen Vater begraben will. In dieser Spannung, das Richtige und/oder Wichtige zu tun, stehen wir auch heute. Danke an die Runde für das interessante Gespräch .

Maiordomus

5. November 2025 17:42

@Monika. Immer mehr konkrete Gottershauser stehen zum Verkauf, nicht zuletzt in Frankreich, à vendre steht da geschrieben. Die Kirche übrigens unweit Rouen, wo vor ungefähr 10 Jahren der bedeutendste Fall des Martyriums eines schlichten Geistlichen stattfand, ist meines Wissens immer noch geschlossen. Wenn sie den nicht heiligsprechen, um keinen Anstoss zu erregen, können sie das einschlägige Theater, meine das Ritual, auch zuletzt mit dem unverwesten frommen Bubi, mal für ein paar Jahre zumachen.   

Gracchus

5. November 2025 21:21

@Kositza: danke, werde ich mir vormerken. Ich will mir die Bibel erstmal pur geben. Ausserdem warte ich ja auf Lichtmesz Lichtspielführer!
@RMH: na, wenn mein Bibel-Werben und meine Angriffe gegen die griechische Philosophie nicht echt lutherisch sind ...
@Le Chasseur: Ostern orientiert sich an Passach und Pfingsten wiederum an Ostern. Genau weiß ich auch nicht, wohin die Diskussion führen soll - zum Vorwurf kultureller Aneignung? 
 

Gracchus

5. November 2025 21:41

@Ordoliberal: auch von mir Beileid.
@Majestyk (14:02): da nennen Sie entscheidende Punkte. 

Ordoliberal

6. November 2025 00:10

@Majestyk: "Wer sind wir? Was macht uns aus? Was verbindet uns? Wohin gehen wir? Ich habe keine Antwort, aber der Verlust von Tradition und Ritualen läßt den Menschen so schrecklich allein."
Da bin ich ganz bei Ihnen. Man bleibt so schrecklich allein. Politisch verordnete Rituale erzeugen einen Rausch. Aber sie können alte Traditionen, die über Jahrhunderte gewachsen sind, nicht ersetzen.
Ich konnte das alles als junger Mann nicht sehen. Ich war von der Can-do-Mentalität der 80er geblendet, die eigentlich gar nicht meine Mentalität ist. Jetzt, da ich Fehler in meinem Leben gemacht habe, die traditionsverwurzelte, familienorientierte Menschen vielleicht nicht gemacht hätten, sehe ich den Konservativismus, genauso wie das Christentum, mit ganz anderen Augen.
Ich bin froh, dass ich - wenn auch zu spät - noch eine Familie gegründet habe. Meine Frau und mein Sohn sind das größte Glück, das mir ewig undankbarem und unzufriedenem Charakter - gänzlich unverdient - zugestoßen ist.
Das bedeutet aber natürlich nicht, dass ich die Freiburger Schule nicht immer noch für den besten Weg halte, einen wirtschaftlich UND kulturell gesunden Industriestaat aufrecht zu erhalten. Seinen Untergang hat das Christentum selbst verschuldet, indem es sich mit dem Staat säkularisiert hat.

Ordoliberal

6. November 2025 00:32

@Ellen Kositza
Ich habe meinen Glauben schon als Teenager durch Nietzsche verloren. Die heimlichen, übel dünstenden Motive der Sklavenmoral usw. Ich kannte keine Christen, die ich bewunderte. Sie waren alle so anämisch, so zu kurz gekommen und nach Kuhstallwärme suchend. Ich bin ein Einzelgänger.
Später kam Wittgenstein dazu: Die Unmöglichkeit, einen Gottesbegriff zu bilden. Seltsamerweise war Wittgenstein aber von Tolstoj und seinem Christentum beeindruckt. Das verstand ich damals nicht.
Wie haben Sie zurück zum Katholizismus gefunden? Ich kann mich einfach nicht überwinden, mich "in meiner Not an Gott zu wenden". Es bleibt Aberglaube für mich. Beschwörung von Geisterkraft.

Artabanus

6. November 2025 04:11

Bei Religion sollte man grundsätzlich zwischen Traditionen und Glauben unterscheiden. Die Betonung des Glaubens ist ein Trick um die Menschen gefügig zu machen. Traditionen hingegen sind wertvoll, nützlich, ja sogar unverzichtbar. Aus diesem Grund ist der Protestantismus meiner Meinung nach auch so eine öde und leere Religion, da er die alten Traditionen fast alle verworfen und stattdessen den Glauben in den Mittelpunkt gestellt hat. Ein "Unglaeubiger" hingegen kann durchaus die Christlichen Traditionen weitgehend schätzen und pflegen.

Monika

6. November 2025 07:12

@ Maiordomus Sie haben leider recht. Immer mehr "Tempel"stehen zum Verkauf oder man muß Eintritt zahlen, wie etwa im Hohen Dom zu Meißen . Ich verweigerte das seinerzeit mit der Begründung, ich wolle im Dom beten und kein Museum besichtigen. In Italien funktioniert das Argument, in Deutschland nicht. Und ja, père Hamel müsste längst heilig gesprochen werden. Das Gewese um den "unverwesten Bubi" verstehe ich auch nicht. Sie sprechen aus, was ich nur zu denken wagte. Köstlich. "Haben wir eigentlich einen neuen Papst," fragte mich kürzlich mein Friseur. Man hört garnichts von ihm. 🤷🏽

Raffael

6. November 2025 08:03

@Monika: diese Spannung ist zum Glück nicht allzu stark, denn wenn die Evangelien von Judenchristen geschrieben wurden, so haben diese sich wahrscheinlich auch des "Stilmittels" der Verklausulierung bedient, d.h. eine Wahrheit mittels ihres "Gegenteils" ausgedrückt (so verfährt etwa auch Moses Maimonides in seinem "Führer der Verwirrten"). Bedeutet bzgl. Lk 9,60: Man soll sogar großen Wert darauf legen, dass der eigene Vater in Ehren begraben wird, denn: a) soll nach christlicher Auffassung zwischen dem irdischen und dem himmlischen Vater höchstens ein Pergamentpapier Platz haben (der leibliche Vater ist das Bild des himmlischen - auch wenn er als fehlbarer Mensch allzu oft nur sein Zerrbild sein konnte), und b) ist der christgläubige Vater ja nach christlicher Auffassung gar nicht tot, sondern er lebt, er hat also mit den Toten, die sich selber begraben müssen, gar nichts zu tun. @Laurenz: Der Gedanke der "Großen Armee" ist sogar genuin christlich, denn wenn es diese Armee nicht gäbe, wäre das Abrollen der Apokalypse, wie sie bei Johannes beschrieben wird, gar nicht möglich. Zu fragen wäre nur, ob jeder Irdische - oder meinetwegen jeder Deutsche - einmal Teil dieser Armee sein wird, oder doch nur eher eine Schar solcher, die man zunächst nicht mit einer "Armee" verbinden würde, wie z.B. unsere damals im Osten geschändeten und ermordeten Mädchen und Frauen. Im Christentum liegt das Abhalten des Endgerichts nämlich bei denen, auf die zu ihren Lebzeiten herumgetrampelt worden war.

H. M. Richter

6. November 2025 08:36

Dank für den tiefgründigen Austausch, fast möchte ich sagen über Gräber hinweg.
 
Ernst Jünger schrieb einst, daß er in fremden Ländern stets die Friedhöfe zuerst aufsuche, denn der Totenkult sage am meisten über eine Kultur aus. "Überhaupt läßt sich am Totenkult das Maß ablesen, in dem die Lebenden in Ordnung sind."
 
An einer anderen Stelle: „Wir sollten an jeden Toten denken, als ob er lebte und an jeden Lebenden, als trennte uns schon der Tod. So richten wir die Wünsche höher, auf die unverletzliche Person.“ 
 
Und schließlich an einer dritten: "Wenn ich ein Licht auf ein Grab stelle,  bewirkt das nichts, aber es bedeutet viel.  Es leuchtet für das Universum, bestätigt seinen Sinn.“ 
 
In einem Zimmer hier steht ein Karton mit Friedhofskerzen. Wenn ich am heutigen Abend auf dem nahen Friedhof eine aufstellen werde, werden andere in der Dunkelheit schon leuchten.

Maiordomus

6. November 2025 10:30

@H.M. Richter. Diese drei Zitate Jünger sind mit ein Grund,  in diese Debatten reinzuschauen. Muss mir in nächster Zeit in Richtung Testament ein paar Gedanken machen und bin insofern dankbar, so wertvolle Zeilen von Ihnen vermittelt zu bekommen. 

Adler und Drache

6. November 2025 10:47

@ RMH
So wie die Vertreiber die Gräber der dt. Vertriebenen entweder planierten oder ignorierten und dem Verfall, der Schändung und dem Abriss hingaben.
Genau darüber habe ich auch viel nachgedacht. Warum stören sie sich an den Toten? Weil unsere begrabenen Ahnen uns in gewisser Weise tragen. Sie sinken in die Tiefe der Erde, die wir beschreiten, sie sinken vom Persönlichen ins Allgemeine oder Überpersönliche - die "Vorfahren" kennt man noch, die "Ahnen" nicht mehr (man kann sie eben nur noch ahnen). Die Vertreiber jedoch spüren vermutlich, dass die Ahnen sie nicht tragen, sondern abweisen. Eine unbewusste Intuition für die Kette, die Lebende und Tote verbindet - oder eben auch nicht. Solange die Toten noch in Frieden ruhen, solange sind sie auch noch anwesend.
Die damnatio memoriae ist eine damit eng verwandte Sache. 

Adler und Drache

6. November 2025 10:57

@ Ordoliberal
Wie schafft es die Reaktion, Rituale zu stiften, die wieder ihrem eigentlichen Zweck dienen, nämlich ein Leben überhaupt zu ermöglichen?
Ich glaube nicht, dass wir die not-wendigen Rituale stiften können, vielmehr, dass wir sie befolgen müssen, genauer gesagt, ihnen Gehorsam leisten müssen. Wir müssen durch unsere Haltung, durch unsere Bewegungen, durch unser Tun und Lassen selbst zu Elementen des Rituals werden. 
Beispiel 1: Als ich vor vielen Jahren an der Bestattung eines mir unbekannten Menschen teilnahm, musste die große Trauergesellschaft mit dem Bus zum Friedhof gefahren werden. Der alte Pfarrer saß vorn auf dem ersten Platz. Ich wollte ihn etwas fragen, er sah mich entrüstet an und fuhr sich mit der Hand über den Mund, mir signalisierend, dass auf dem Weg zum Grabe nicht gesprochen werde - nicht nur nichts Unbedeutendes, sondern gar nicht. Das hat sich mir eingeprägt, eingebrannt. 
Beispiel 2: Ich habe, obzwar ich evangelisch bin, angefangen, mich zu bekreuzigen, weil ich immer stärker, drängender spürte, dass es so zu sein hat.  

Adler und Drache

6. November 2025 11:15

@ Ordoliberal II
Ich würde sagen, dass jedes echte Ritual religiös ist. Es gibt vielleicht politisch verordnete Zeremonien, aber Rituale? - Freilich, immer die Frage, wie man's definiert ... Sagen wir so: Das seelisch Tragende ist religiös fundiert. 
Dass Sie aus intellektuellen Gründen nicht glauben können, ist ein Phänomen auf der Oberfläche. Wir alle, auch diejenigen aus sehr religiösen Familien, wurden ja nicht mehr ins Selbstverständliche hineingeboren. Ich vermute, auch alle oder doch zumindest die allermeisten Gläubigen kennen den Widerstand des Intellekts. Aber das ist eigentlich nicht besonders wichtig. Man sollte sich diesbezüglich nicht dauernd selbst prüfen und erforschen, man wird ja erstens nicht damit fertig, und zweitens führt es zu nichts.
Abermals gänzlich unlutheranisch rate ich Ihnen: Zuerst das Werk, das Wort wird sich dann schon irgendwann einstellen, in welcher Weise auch immer. Praktizieren Sie, werden Sie zum Element des Rituals! Vor drei Jahren war mir nichts wichtiger, als mich am Aschermittwoch in der Messe mit dem Aschekreuz bezeichnen zu lassen, es war für mich der tiefste Eindruck des gesamten Kirchenjahrs.
Das ganze intellektuelle Gerede über Für und Wider hält einen bloß vom Wesentlichen ab. 
Kriegen Sie vielleicht noch raus, was für ein lateinischer Gesang das war, der sie so berührt hat? 
 

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.