Für die Welt ist „die Sache inhaltlich eigentlich geklärt“. „Eigentlich“ bedeutet zwar immer, daß eine Sache eben nicht vollständig geklärt ist, davon läßt sich die Welt aber nicht beirren:
Der Holocaust ist und bleibt ein singuläres Menschheitsverbrechen, und das noch mehr für uns Deutsche. Der millionenfache, industrielle Mord an den Juden kennt keinen Vergleich.
Über derartigen semantischen und logischen Unsinn hat seinerzeit (2007 in der Zeitschrift Merkur) Egon Flaig das Notwendige gesagt:
Rein logisch ist alles Existierende singulär, weil die Bedingungen des Existierens für zwei Dinge unmöglich dieselben sein können, ja weil diese Bedingungen sich für ein und dasselbe Ding bereits geändert haben, während ich diesen Satz schreibe. Doch wenn ich wissen will, in welcher Hinsicht etwas singulär ist, dann komme ich nicht umhin zu vergleichen. Wer wird bestreiten, daß das Warschauer Ghetto ‚singulär‘ war? Aber jede einzelne Krankheit meines Großvaters war es ebenso. Sogar der Rotz in meinem Taschentuch ist singulär.
„Singularität“ ist also keine historische, sondern eine zivilreligiöse Kategorie, was deren Vertreter in lichten Momenten auch zugeben. Insofern paßt eine Neuerscheinung aus unverdächtiger Feder ganz gut, um diesen medialen Sturm um eine weitere Ebene zu erweitern.
Denn der Philosoph Luca di Blasi (geb. 1967) behauptet in seinem Buch Die Politik der Schuld. Eine Durchquerung (Berlin: Matthes & Seitz 2025, 462 Seiten, 34 Euro) nicht weniger, als daß die Rechten die eigentlichen Profiteure der „Politik der Schuld“ seien.
Das heißt: Irgendwo muß etwas schiefgelaufen sein. Denn ein Aspekt der Schuldpolitik war (und ist!) jahrzehntelang, daß man mit ihrer Hilfe die Wiederkehr der Rechten verhindern wollte. Aus der Schuld leitete sich ein „Nie Wieder!“ ab, und dieses richtete sich als „Wehret den Anfängen“ gegen die vermeintlichen rechten Wiedergänger der Täter. Aber: Diese heile Welt hat die Masseneinwanderung zerstört.
Di Blasi sieht das Problem, daß die Politik der Schuld in Deutschland an gewisse Voraussetzungen geknüpft ist, die es Migranten, gerade aus außereuropäischen, islamischen Herkunftsländern schwer macht, sich darin zu integrieren. Da di Blasi, unausgesprochen, Deutschland in ein multikulturelles Siedlungsgebiet umgewandelt sehen möchte, kann er die Schuld für dieses Problem nur bei den Deutschen finden, nicht bei denjenigen, die einwandern.
Unsere Schuld besteht im Festhalten an der „Politik der Schuld“. Denn diese weise den Juden einen vor anderen herausgehobenen Opferstatus zu und impliziere eine besondere Verantwortung gegenüber dem Staat Israel. Das seien Dinge, die man einem arabischen Migranten nicht zumuten könne, weil deren koloniales Opfer nicht hinreichend gewürdigt würde und Israel in ihren Augen Teil der kolonialen Unterdrückung durch den weißen Mann ist.
Hinzu komme erschwerend, daß Rechtspopulisten dadurch in der komfortablen Lage seien, muslimische Einwanderung mit dem Hinweis auf deren Nichtakzeptanz der Schuldpolitik abzulehnen. Die Politik der Schuld sei Grundlage einer ethnozentristischen Identität.
In dieser verzwickten Lage tut di Blasi nicht das Naheliegende und appelliert an die Deutschen, sich endlich von der Schuld freizumachen und selbstbewußt ihre Dinge zu regeln. Im Gegenteil: er sieht in der deutschen Identität selbst das Problem, die durch die Schuld am NS-Regime nicht etwa zerstört, sondern im Gegenteil gefestigt worden sei.
In seinen Augen ist die Annahme einer „deutschen Schuld“ der Trick gewesen, mit dem „die“ Deutschen ihre Volksgemeinschaft über die Stunde Null hinübergerettet haben. Um dafür den Nachweis zu führen, walzt er zunächst einen Gedanken von Paul Tillich aus, der Luther für die Entstehung eines „transmoralischen Gewissens“ verantwortlich und dies bei Nietzsche, Heidegger und der Psychoanalyse als Entkoppelung von Moral und Gewissen (bzw. Schuldbewußtsein) dingfest machte. Durch die Amoralisierung und Enttheologisierung von Schuld seien säkulare Schuldpolitiken erst möglich geworden.
Als Quintessenz nimmt Di Blasi in den zweiten, historischen Teil seines Buches die Erkenntnis mit, daß Schuld gemeinschaftsstiftend und exklusiv sein kann. Entscheidend sei historisch der Übergang von einer „kollusiven“ Schuldgemeinschaft, die auf einer uneingestandenen Schuld basiert, hin zu einer, die ihre Gemeinschaft aus dem Schuldbekenntnis (konfessional) selbst konstituiert.
Völkisch Denkende hatten demnach nach 1945 nur zwei Möglichkeiten ihre Identität aufrechtzuerhalten: Leugnung der Schuld oder kollektives Schuldeingeständnis. Ersteres ist strafbewehrt, für letzteres sorgte der Nationalprotestantismus, dem damit bei der Bewahrung der Identität eine wichtige Rolle zukommt.
Interessant ist in der Darstellung di Blasis, wie die Neuen Linken und die 1968er mit dieser negativen Identitätspolitik umgegangen sind. Walser habe die Identität gegen die durch die Forschung drohende Entsolidarisierung mit den Tätern betont und eine Tätervolksgemeinschaft konstituiert.
Die 68er stellten die Solidarität mit Israel in Frage und verabschiedeten sich von der Vätergeneration und damit von Nation und Schuld. Erst im Zuge des Historikerstreits sei es gelungen, die 68er wieder in die (jetzt) deutsche Geständnisgemeinschaft zu integrieren, weil Leugnung der Schuld eine gemeinsame Abgrenzung notwendig gemacht habe.
Die Wiedervereinigung schien das wieder in Frage zu stellen, was mit der Sakralisierung von Schuld, und damit dem Schuldkult der Singularität beantwortet wurde. Bei di Blasi wurde in Deutschland die Erinnerungsgemeinschaft der Schuld durch die „erinnerungspolitische Querfront“ von antideutschen Linken und Rechtspopulisten „zunehmend hegemonial“.
In weiten Teilen deckt sich der Befund di Blasis mit dem der IfS-Studie Meine Ehre heißt Reue (2007), nur daß das Ziel der Argumentation ein ganz anderes war. Der Schuldstolz war dort die lebensfeindliche Konsequenz aus der Niederlage von 1945, bei di Blasi ist nationale Identität grundsätzlich eine fragwürdige, wenn nicht perverse Angelegenheit.
Di Blasi will die Schuld nicht leugnen, die Schuldpolitik nicht komplett verwerfen, aber erhalten, wie sie ist, auch nicht, weil sie Einwanderung erschwert. Durch die Aufklärung über die theologischen und nationalprotestantischen Grundlagen der Schuldpolitik will er zeigen, daß Schuld nicht zwingend in eine nationale Identität münden müsse, sondern auch als Mittel zur Auflösung jeglicher nationaler Gemeinschaft beitragen könne. Wie das aussehen soll, bleibt allerdings völlig nebulös.
Um auf die Aufregung rund um die Aussagen von Ulrich Siegmund zurückzukommen: Ganz offensichtlich ist die Lage noch komplexer, als sich das der Welt-Autor Gordon Repinski und der Philosoph Luca di Blasi vorstellen können. Die „Politik der Schuld“ und die „Singularität“ können für alle möglichen Zwecke in Anspruch genommen werden.
Man kann damit ebenso AfD-Politiker diffamieren, wie Einwanderung bekämpfen. Doch unfreiwillig wird hier zumindest eines deutlich: Die „Politik der Schuld“ kann nicht die Grundlage der Zukunft unserer Nation sein, wenn man darunter die historisch gewachsene Schicksalsgemeinschaft der Deutschen versteht. Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, daß eine Generation politische ihre Stimme erhebt, die in diesen Kategorien nicht mehr gefangen ist.
Martha
Kann dem nur zustimmen. Da eine Diskussion über den Holocaust an sich unmöglich ist, sollte man sich auf die Einforderung der Meinungsfreiheit beschränken. Darüberhinaus kann man sich mit dem Phänomen Genozid grundsätzlich und weltweit beschäftigen. Beim Thymosmagazin ist dazu gerade ein Artikel online erschienen, der sich mit Armenien beschäftigt. Bekanntlich war der Genozid an den Armeniern der Anlaß für eine weltweit anerkannte Definition des Begriffes durch die UNO.