Der Krieg, den Rußland führt, ist abwesend. In den kommenden Tagen, die ich in Moskau verbringen werde, wird weder Kriegswirtschaft zu spüren sein, noch gehen junge Männer mit ernstem Gesicht durch jene zivile Frist, die ihnen ein Aufschub gewähren würde. Sie schlurfen durch Moskau wie durch Berlin, es ist derselbe Typ, sie werden nicht rekrutiert werden, man wird ihnen ihre Handys und ihr Leben lassen.
Die Nation im Krieg – es war in der Hauptstadt wirklich nichts davon zu sehen und zu spüren, selbst am Kreml nicht, auf den ich zwei Tage später zuwanderte, um ihn mit Filipp Fomitschow zu umrunden. Ein bißchen Militärpolizei, außerdem Sicherheitsschleusen in den U‑Bahnhöfen und an den Eingängen in Einkaufszentren. Jedoch gibt es das schon immer, spätestens seit den islamistischen Anschlägen, die Moskau vor anderthalb Jahrzehnten erschütterten.
Im gesichtslosen Mercure-Hotel in der Baumanskaja war es, als wäre man in Berlin oder Wien – und hätte versäumt, etwas Eigentümliches zu buchen. So nun das Bett und das Frühstück: wie überall, bloß warme Würfelchen Roter Bete und ein bißchen schmandige Pfannkuchen, alles andere nicht anders als anderswo in Europa, und eben kein Mangel, keine Rationierung, weil etwa die Front etwas bräuchte.
War also auf Einladung Filipp Fomitschows dort, der wiederum im Rahmen seiner wissenschaftlichen Arbeiten über den deutschen Konservatismus der Nachkriegszeit auf Lehnert und mich stieß und einige Monate in Deutschland forschte.
Für den ersten Abend war ein öffentlicher Vortrag angesetzt, das Thema: “Die Lage in Deutschland 2025”, und ich hatte gegen 22 Uhr vor knapp 200 Hörern lange referiert und viele gute, teils auf Deutsch vorgebrachte Fragen beantwortet. Der Ort: eine zum Veranstaltungsraum umgebaute Fabrik, topmodern, lässig, man denkt an Bands und laute Musik und coole Leute.

Ehrliches Erstaunen, frappierende Offenheit: Nach Vortrag und Antworten kamen spät Hörer und sagten, sie hätten vieles erwartet, bloß nicht einen Vortrag und Antworten von solcher Ambivalenz und Suche, so etwas grundsätzlich Deutsches, Unpathetisches, einen so klaren deutschen Standpunkt; bloß sei ein wenig zu wenig gelacht worden, und: wo man das nachholen könne.
Mir fehlte nach der schlaflosen Nacht und dem Marathon in der zu einem modernen Veranstaltungsort ausgebauten Fabrikhalle die Kraft (den Dolmetschern ganz sicher auch!), und so ließ ich mich von den Fomitschows zu einer Fischsuppe in den elften Stock eines sowjetischen Wohnblocks einladen. Sie war köstlich, sie stärkte und wärmte, und während sie hochköchelte, studierte ich die Cover russischer Jünger-Ausgabe im Taschenbuch und erblickte trotz klarer, kalter Nacht über den Balkon hinweg das Ende der Stadt nicht: Es wohnen durchaus sechzehn Millionen dort, aber man geht auch von zwanzig aus – Rußlands globaler Süden ist wie unserer einer, der sich zusammenzupferchen weiß und die Schattenwirtschaft in Schwung hält.
Worum ging es an diesem ersten, langen Tag? Es ging um ein realistisches Bild der Lage, in der sich Deutschland als das im 20. Jahrhundert doppelt zerschlagene und wenigstens entlang eines Rissen wieder zusammengefügte Land befindet.
Es ging um die spürbar andere Mentalität der angegliederten ehemaligen DDR. Sie ist im Ausland nicht anders Thema als in Deutschland selbst – so offensichtlich anders sind das Wahlverhalten und die Weigerung, sich dem westlichen Weg und seiner politischen Ausrichtung ganz und gar anzugleichen.
Diese “Nachahmungsskepsis” ist nicht nur Thema und Kern jenes bahnbrechenden und erhellenden Buch Das Licht, das erlosch von Ivan Krastev und Stephen Holmes, das ich immer wieder erwähne und empfehle – so auch in Moskau; auch Simon Strauß (um nur das jüngste Beispiel zu nennen) weist in seinem neuen Buch auf einen Umstand hin, den wir längst zum Thema machten: In der Nähe. Vom politischen Wert einer ostdeutschen Sehnsucht geht davon aus, daß nur aus der unsicheren Aufmüpfigkeit der Überrumpelten und von der westlichen Verschlagenheit Ernüchterten noch Impulse für eine politische Wende ausgehen können.
(Das ist hier alles verknappt notiert, aber ich versprach den russischen Gastgebern eine schriftliche Ausarbeitung, und das werde ich auch hier veröffentlichen.)
Die Fragen nach den Ausführungen waren breit gestreut: Situation der Kirchen und des Glaubens in Deutschland, Ausrichtung der AfD im Richtungsstreit zwischen Transatlantikern und den Verteidigern der deutschen Mittellage und möglichen Koalitionspartnern; Parallelen der Massengesellschaften in Deutschland, Rußland und überhaupt überall auf der Welt – also: Fragen nach Fortschritts- und Konsumkritik.
Fragen nach der Unterdrückung der Meinungsäußerungsfreiheit in Deutschland und nach Medien, die man als Russe wahrnehmen solle, und zwar dann, wenn man keinerlei Interesse habe an jener peinlichen Anbiederung deutscher Rußlandromantiker und russisch gefütterter Propagandisten. Das war nun nicht schwierig, vor allem nicht ex negativo von denjenigen abzuraten, die aus allem eine Konfrontation und zugleich ein Geschäft machten: so absolut prorussisch und antiwestlich, zugleich aber überteuerte Trump- und Putin-Münzen im Sortiment, deren Kauf Wertanlage und Freiheitsakt zugleich sein solle …
Manchmal fragte ich zurück: nach konkreter Zensur und alternativen Meinungsräumen in Moskau, nach der grünen Bewegung, dem Denkmalschutz, den alles dominierenden und überrollenden Lieferdiensten, der Generaltendenz der Geschichtspolitik.
Dieser Austausch setzte sich am nächsten Tag nach einem weiteren Vortrag fort. Er fand aber in kleinstem Kreise statt, ich referierte vor geladenen Gästen über die Entwicklung der AfD und dessen, was man als den vorpolitischen Raum bezeichnet – über den Aufbau beider Räume aus dem Nichts und die besondere Tonlage, die sich aus dieser wiederum sehr besonderen, innerdeutschen Situation ergebe.

Es waren aber auch welche dabei, die sich dezidiert mit den Perspektiven russischer Außenpolitik und der damit verbundenen globalen Lageanalyse beschäftigen und nicht nur präzise nachfragten, sondern sehr offen und realistisch auf meine Fragen nach dem Krieg und den 28 Punkten des gerade dieser Tage vorgelegten Friedensplans antworteten. Das ist überhaupt eine Erfahrung: Dort, wo es um etwas geht, hält man sich nicht mit Abtasten und Floskeln auf, sondern kommt zur Sache und streitet nichts ab, was offensichtlich ist.
So war es in einem der Gespräche: Mit der ersten Frage wurde ein anderer Takt des Austauschs angeschlagen, es ging knapp und direkt hin und her, und natürlich hatte ich wahrgenommen, wie intensiv der Gesprächspartner mitnotiert hatte an Stellen meiner Ausführungen, deren Perspektive ihm neu war und die er noch vertiefen wollte. Das tat er dann, und daß es dazu russische Häppchen gab und ein Glas Rotwein, war Nebensache, und erst nach drei Stunden kam ich dazu, hastig etwas davon nachzuholen.
Solche Atmosphäre mag ich – überhaupt, wenn Leute das Essen vergessen über dem Gespräch, und zwar nicht aufgrund grundsätzlicher Kostverachtung (die ich überhaupt nicht mag!), sondern in der Situation.
Aber dies zum Schluß: Ganz anders war das Gespräch am dritten Abend, nach einer Vortragsveranstaltung in den Räumen des bereits erwähnten Verlags Ad Marginem. Fomitschow und Professor Alexander Michailowskij trugen zur deutschen Tradition der Technikkritik vor, und ich saß zweieinhalb Stunden lang auf meinem Stuhl und verstand kaum ein Wort, konnte aber die Position der Gedankenführung mit Nadeln markieren – der Name Spengler fiel, dann Theodor Lessing, Max Weber und Ernst Jünger, dann der von Friedrich Georg und dann Mohler und Kaltenbrunner und Gruhl.

Es war ein Verlegergespräch, über Aufbau und Vorlieben, über Dichtung und die Verzauberung der Welt, und gegen Mitternacht hatte sich der Witz durchgesetzt, daß dies alles nur für mich aufgebaut worden sei, eine Kulisse, ein Potemkinsches Dorf, die Kellner und die anderen Gäste arrangiert wie in der Truman-Show, und ob ich es nicht längst bemerkt hätte.
Von dort war es nur noch ein kleiner Schritt zur magischen Realität. Und auf dem Weg zurück ins gesichtslose Hotel Mercure kam mir der Antaios-Spruch von der SeitenWechsel-Messe in den Sinn. “Nichts ist verloren” – es kommt nur auf Perspektive und Findigkeit an. Das hatte mit Politik nichts mehr zu tun, aber mit Lebenkönnen sehr viel.
t.gygax
Hochinteressant- da ich selbst Kontakte nach Russland pflege und froh über den Austausch bin. Und wie immer bei GK- hervorragend geschrieben, richtig gut. Nur eines stört inhaltlich: der völlig überflüssige und peinliche Seitenhieb gegen Elsässer/COMPACT....ist das ein bißchen Schnellrodaer Arroganz gegenüber dem eher einfach gestrickten Leserpublikum von Elsässer? Wenn, um GK zu zitieren, " das Vaterland in Gefahr ist" (Originalzitat), dann sollte man die eigenen Reihen zusammenhalten und sich nicht zum Werkzeug der Spaltung machen.