»Menschenpark« – ein Essay und ein Skandal

PDF der Druckausgabe aus Sezession 121/ August 2024

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von Jörg Seidel –

Unter den drei gro­ßen Debat­ten, die Peter Slo­ter­di­jk aus­lös­te und die als natio­na­le Skan­da­le insze­niert wur­den, ragt der Lärm über sei­ne Rede »Regeln für den Men­schen­park« – vor aus­ge­wähl­tem Publi­kum auf Schloß Elmau gehal­ten – her­aus. Er stell­te zudem den vor­läu­fi­gen Höhe­punkt einer medi­al und nahe­zu maschi­nell ein­ge­spiel­ten Erre­gungs­kli­max dar, deren Vor­läu­fer der His­to­ri­ker­streit um Nol­tes Infra­ge­stel­lung der Sin­gu­la­ri­tät (1986), die Debat­te um Botho Strauß’ »Bocks­ge­sang« (1993), Peter Hand­kes Par­tei­nah­me für Ser­bi­en (1996), Mar­tin Walsers Frie­dens­preis­re­de (1998) waren.

Slo­ter­di­jks Äuße­run­gen in einem Lang­in­ter­view, drei Jah­re bevor ihn der Stru­del end­gül­tig ein­sog, wirk­ten nahe­zu pro­phe­tisch, als er von »Pran­ger-Pro­sa« sprach, die sich im deut­schen Feuil­le­ton breit­mach­te, und nach den »Milieu-Auf­trä­gen sol­cher Ver­höh­nungs­übun­gen« frag­te. Dort nahm er die inkri­mi­nier­ten Autoren in Schutz und defi­nier­te den Beruf des Schrift­stel­lers als »Expe­ri­men­ta­tor«, des­sen Auf­ga­be »das Auf­spü­ren der gefähr­li­chen Sub­stan­zen sei, die man The­men nennt, die Tief­en­the­men der Epo­che«, sich die­se dann selbst zu inji­zie­ren und in Selbst­ver­su­chen zum Spre­chen zu brin­gen, »gefähr­li­che Ansich­ten von gefähr­li­chen Stof­fen« aus­zu­pro­bie­ren, sich selbst dabei beob­ach­tend und nach­lau­schend, wie das klin­ge, was man da sagt:

Es gibt eine direk­te Rela­ti­on zwi­schen der Grö­ße eines Autors und der Gefähr­lich­keit der Stof­fe, die er pro­zes­siert und meistert

Die »Milieu-Auf­trä­ge« – das ist das Frap­pie­ren­de und Erhel­len­de – stamm­ten in allen Fäl­len aus einer geis­ti­gen Quelle.

Slo­ter­di­jk hielt sei­nen Vor­trag am 17. Juli 1999 zum zwei­ten Mal – zwei Jah­re zuvor in Basel hat­te es kei­ner­lei Auf­se­hen gege­ben. In ihm ver­such­te er die The­se zu eta­blie­ren, daß der west­li­che Huma­nis­mus ein Ergeb­nis der Buch­kul­tur sei, denn Bücher sei­en Brie­fe an fer­ne Freun­de. Slo­ter­di­jk ver­folg­te den Weg der »freund­schafts­stif­ten­den Kom­mu­ni­ka­ti­on« von Grie­chen­land über Rom ins christ­li­che Euro­pa, stell­te sich dann als Emp­fän­ger von Heid­eg­gers Brief über den Huma­nis­mus (1947) zur Ver­fü­gung, ant­wor­te­te dar­auf, indem er Heid­eg­gers The­se vom Schei­tern des Huma­nis­mus zwar bejah­te, sich aber gegen des­sen Anthro­po­lo­gie­feind­lich­keit wehr­te und unter Schüt­zen­hil­fe von Nietz­sche und Pla­ton auf die Tat­sa­che auf­merk­sam mach­te, daß Men­schen seit jeher – man nennt das Kul­tur – plas­tisch anein­an­der und an sich selbst, zäh­mend und züch­tend, domes­ti­zie­rend, also anthro­po­tech­nisch arbeiten.

Mit den neu­en tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten, so Slo­ter­di­jk wei­ter, ins­be­son­de­re der Gen­tech­no­lo­gie, ändert sich der Cha­rak­ter die­ser Arbeit; es eröff­ne sich die Lage,

daß Men­schen vor Pro­ble­me gestellt wer­den, die für Men­schen zu schwer sind, ohne daß sie sich vor­neh­men könn­ten, sie ihrer Schwe­re wegen unan­ge­faßt zu lassen

– und es stellt sich die Fra­ge, ob die neu­en Tech­ni­ken nicht selbst in die­sen Pro­zeß ein­zu­spei­sen wären, ob man nicht »das Spiel aktiv auf­grei­fen und einen Codex der Anthro­po­tech­nik zu for­mu­lie­ren« habe, um so »wir­kungs­vol­le Ver­fah­ren der Selbst­zäh­mung auf den Weg zu bringen.«

Eine Woche dar­auf ver­mel­de­te Mar­tin Meggle in der Frank­fur­ter Rund­schau in gro­ßen Let­tern, Slo­ter­di­jk habe jüdi­schen Den­kern das Ent­set­zen gelehrt, in ers­ter Linie, weil er von den »sehr ver­düs­ter­ten Jah­ren nach 1945« gespro­chen habe. Es hät­te vor einem maß­geb­lich jüdi­schen Publi­kum einen Eklat mit Saul Fried­län­der gege­ben – spä­ter stell­te sich her­aus, daß schon dies nicht der Wahr­heit ent­spro­chen hatte.

Feuil­le­ton­re­dak­teur Rai­ner Ste­phan streb­te dann am 29. Juli in der Süd­deut­schen Zei­tung bewußt den Skan­dal an, indem er auf sug­ges­ti­ve Wei­se im Empö­rungs­ton den »Ungeist« auf­spür­te und Slo­ter­di­jk ad homi­nem schlicht­weg Men­schen­züch­tungs­phan­ta­sien und ein Eli­ten­pro­jekt der Selek­ti­on unter­stell­te, eine Über­men­schen­phi­lo­so­phie sozu­sa­gen. Die Eska­la­ti­on trieb dann Tho­mas Ass­heu­er vor­an, der am 2. Sep­tem­ber in der Zeit ein »Zara­thus­tra-Pro­jekt« aus­zu­ma­chen mein­te, den Ver­such einer »gen­tech­ni­schen Revi­si­on der Mensch­heit«. Sloterdijk

schwe­be eine demo­kra­tie­freie Arbeits­ge­mein­schaft aus ech­ten Phi­lo­so­phen und ein­schlä­gi­gen Gen­tech­ni­kern vor, die nicht län­ger mora­li­sche Fra­gen erör­tern, son­dern prak­ti­sche Maß­nah­men ergreifen

Sekun­diert wur­de die­se Phan­ta­sie­lek­tü­re von Rein­hard Mohr im Spie­gel, der »faschis­ti­sche Anklän­ge« ver­nahm, einen Aus­tausch von Gesell­schafts­kri­tik durch Gen­tech­no­lo­gie. All das wur­de noch ohne Kennt­nis des Tex­tes notiert und unter­stellt, und damit war die Kat­ze aus dem Sack. Nun waren die ent­schei­den­den Stich­wor­te gefal­len, Roß und Rei­ter waren kennt­lich gemacht. Caro­lin Emcke dampf­te das Eska­lat auf Slo­ter­di­jks ver­meint­li­che Grenz­über­schrei­tung – »wenn er bes­se­re Men­schen züch­ten will« – ein, und die­ser Vor­wurf exis­tiert bis in unse­re Tage.

Slo­ter­di­jk reagier­te mit zwei offe­nen Brie­fen, der eine an Ass­heu­er, der ande­re an Haber­mas, denn instinkt­si­cher hat­te er die »Fat­wa aus Starn­berg« dahin­ter ver­mu­tet. Plötz­lich wur­de eine gro­ße Struk­tur sicht­bar: Die initia­len Prot­ago­nis­ten, die Skan­da­li­sie­rer und Fehl­le­ser Mohr, Ste­phan, Ass­heu­er, Emcke sind alle geis­ti­ge Kin­der ­Jür­gen Haber­mas’, haben bei ihm pro­mo­viert, schrie­ben ihm Elo­gen, hän­gen am geis­ti­gen Tropf der Frank­fur­ter Schu­le. Das gilt eben­so für Axel Hon­neth und Chris­toph Men­ke, die 2009 den nächs­ten Slo­ter­di­jk- Skan­dal ent­fach­ten. Aber auch hin­ter den ande­ren gro­ßen Medi­en­skan­da­len sind Haber­mas’ Umris­se sicht­bar, teil­wei­se indem er direkt ein­griff (Nol­te, Wal­ser, Slo­ter­di­jk) oder Stroh­män­ner vor­schick­te (Strauß ).

Nimmt man noch Haber­mas’ phi­lo­so­phi­sche Dif­fa­mie­run­gen gegen­über kon­ser­va­ti­ven  (ins­be­son­de­re Heid­eg­ger und Geh­len) oder selbst post­mo­der­nen Autoren  (Fou­cault und Der­ri­da) hin­zu, dann kann man eine brei­te Schnei­se von intel­lek­tu­el­len Ver­nich­tungs­ver­su­chen wahr­neh­men, die den Pro­phe­ten der »kom­mu­ni­ka­ti­ven Ver­nunft« und des »herr­schafts­frei­en Dis­kur­ses« nicht nur theo­re­tisch, son­dern auch cha­rak­ter­lich des­avou­iert. »Kom­mu­ni­ka­ti­ves Han­deln« ent­puppt sich im Pra­xis­ver­such als akti­ve Dis­kurs­hy­gie­ne, die Frank­fur­ter Schu­le als Wacht am Main. Slo­ter­di­jk erklär­te im Sep­tem­ber 1999 dar­auf­hin die Kri­ti­sche Theo­rie für tot – eine Respekt­lo­sig­keit, die ihm viel Gegen­wehr einbrachte.

In der Retro­spek­ti­ve habe die »Fabri­ka­ti­on der Debat­te« ihm »ein drit­tes Auge ein­ge­pflanzt«, denn sie habe ihn end­gül­tig zum Medi­en­theo­re­ti­ker gemacht; er habe »den Sieg der Lek­tü­re über den Text« durch die »Ange­hö­ri­gen der recht­ha­ben­den Klas­se« als Fol­ge »zei­chen­ba­sier­ter Epi­de­mien« erkannt, die das Wesen der Mas­sen­me­di­en aus­mach­ten. Bio­gra­phisch dürf­te die­ses Erleb­nis eine Zäsur und einen Rechts­schwenk bedeu­tet haben. Es folg­ten in den kom­men­den Wochen an die 250 Bei­trä­ge in allen gro­ßen Medi­en, bald war die Dis­kus­si­on vor Unüber­sicht­lich­keit nicht mehr zu über­bli­cken. Meh­re­re Dis­kurs­ebe­nen scho­ben sich übereinander.

Text­hermeneutische Ver­su­che wur­den bald von der Skand­al­lo­gik über­la­gert, Skan­dal und Dis­kurs wur­den selbst zum The­ma. Was sich anfangs nach »einem Reiz­wort-Sche­ma, ganz auf der Paw­low­schen Ebe­ne« abspiel­te, sich an einem »pro­blem­träch­ti­gen Voka­bu­lar […] an der Syn­tax vor­bei, an der Argu­men­ta­ti­on vor­bei, an der Text­ar­chi­tek­to­nik vor­bei, an der Autoren­in­ten­ti­on vor­bei« künst­lich erreg­te, ver­lief sich in ein brei­tes Del­ta an The­men. Slo­ter­di­jk – den von Haber­mas erho­be­nen Faschis­mus­vor­wurf umdre­hend – sah dar­in den »Spä­t­er­folg der NS-Zeit in den Ner­ven­sys­te­men der Nach­le­ben­den.« Neben der Gen­tech­nik­de­bat­te wur­de über die Fra­ge, ob man heu­te noch Heid­eg­ger lesen dür­fe, gestrit­ten, über den Zustand der Kri­ti­schen Theo­rie, die Rol­le der Phi­lo­so­phie als sol­cher und ob ­Slo­ter­di­jk über­haupt ein Phi­lo­soph sei, bis hin zur Meta­de­bat­te über die deut­sche Debattenkultur.

Dahin­ter ver­steck­ten sich ver­schie­de­ne Macht­kämp­fe. Slo­ter­di­jk war kurz zuvor Bera­ter des Suhr­kamp Ver­la­ges gewor­den, und Haber­mas muß­te um sein sozio­lo­gis­ti­sches Pro­gramm­pro­fil ban­gen. Es war auch ein Gene­ra­tio­nen­streit, das Abdan­ken einer aka­de­misch und medi­al eta­blier­ten Schu­le zuguns­ten einer Denk­be­frei­ung, das Rin­gen zwei­er Phi­lo­so­phie­ty­pen und ‑sti­le – auf der einen Sei­te das streng for­ma­li­sier­te, immer mora­li­sie­ren­de, auf der ande­ren das asso­zia­ti­ve, expe­ri­men­tel­le, meta­phern­rei­che Den­ken. Es ging um Gesell­schafts­theo­rie, Ideo­lo­gie­kri­tik, Moral­phi­lo­so­phie, Ver­nunft­be­grün­dung, letzt­lich ana­ly­ti­sche Phi­lo­so­phie ver­sus his­to­ri­sie­ren­de Anthro­po­lo­gie, kul­tur­kri­ti­schen Essay­is­mus und medi­en­theo­re­ti­sche Grundlegung.

Es ging auch um den Begriffs­kampf und die Fra­ge nach der Tabui­sie­rung – Slo­ter­di­jk wag­te nicht nur meh­re­re Tabu­be­grif­fe, sein Fai­ble für Meta­phern und Neo­lo­gis­men, die oft grie­chi­schen oder latei­ni­schen Ursprungs sind, dürf­te auch als Reak­ti­on auf den his­to­ri­schen Begriffs­ver­schleiß und die in Frank­furt auf­ge­stell­ten Ver­bots­zo­nen für Wort­fel­der zurück­zu­füh­ren sein. Und es war ein Macht­kampf inner­halb der Medi­en­welt, aber auch der poli­ti­schen Wen­de von der Bon­ner zur Ber­li­ner Repu­blik, es ging am Grun­de des Strei­tes um Erin­ne­rungs­po­li­tik, wie bei den vor­he­ri­gen Skan­da­len auch – mit einem Unter­schied: Slo­ter­di­jk knick­te nicht ein und zog sich auch nicht zurück.

Das Ereig­nis bie­tet wich­ti­ge skan­dal­theo­re­ti­sche Ein­sich­ten. Es zeigt nicht nur, wie die Erst­kom­men­ta­re einen Skan­dal ent­fa­chen, son­dern ihn auch lan­ge Zeit in sei­ner Rich­tung bestim­men kön­nen. Unter sei­nen drei kon­sti­tu­ti­ven Bestand­tei­len – 1. Ver­feh­lung oder deren Unter­stel­lung, 2. Ent­hül­lung, 3. Ent­rüs­tung – erweist sich der zwei­te Schritt als der pri­mä­re, denn nur die Ent­hül­lung kann Auf­merk­sam­keit erzeu­gen, selbst dann, wenn die Ver­feh­lung nur unter­stellt wird; die­se kommt ohne jene nicht in die Exis­tenz. Die Ent­rüs­tung wie­der­um bleibt kon­tin­gent und arbi­trär und kann nur in ihrer Wahr­schein­lich­keit durch die lang­fris­ti­ge Schaf­fung eines Empö­rungs­kli­mas – etwa durch media­le Tabui­sie­run­gen, Sen­si­bi­li­sie­run­gen, Mar­kie­run­gen und öffent­li­che Ost­ra­ki­sie­run­gen – vor­be­rei­tet werden.

Es macht zudem »die Funk­ti­on des Skan­dals als Herr­schafts­kon­trol­le in demo­kra­ti­schen Sys­te­men« deut­lich, schafft die Neu­syn­chro­ni­sie­rung der Wert­ka­te­go­rien – inso­fern ist der Skan­dal sys­tem­sta­bi­li­sie­rend –, offen­bart »den Eklat als Aus­drucks­form öffent­li­cher Mei­nungs­bil­dung«. Aber er hat – selbst als typisch deut­sches »mas­o­po­li­ti­sches Syn­drom« – auch eine pro­duk­ti­ve Funk­ti­on: Der Skan­dal schafft »auto­poe­tisch« die Streß­ge­mein­schaf­ten, die nach Slo­ter­di­jk die Basis der Natio­nen­bil­dung sind  – selbst wenn er kei­nen edu­ka­ti­ven Mehr­wert besitzt –, jene »Ritua­le der Labi­li­tät, in denen die deut­sche Gesell­schaft das stärks­te Wir-Gefühl erreicht.«

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