von Eva Rex –
Erich Kästner kommt am 23. Februar 1899 in einer Dresdner Mietskaserne zur Welt. Er ist der einzige Sohn einer ehrgeizigen Mutter, die den sozialen Abstieg ihres Mannes vom Sattlermeister zum Angestellten einer Kofferfabrik niemals überwunden hat. Ihre unerfüllten Wünsche und Hoffnungen überträgt sie auf den Sohn. Von ihr bekommt er den Auftrag, Lehrer zu werden.
Seine Kindheit und Jugend verbringt Kästner in seiner Heimatstadt. Später studiert er in Leipzig, wird aber nicht Lehrer, sondern Journalist und geht als freier Publizist ins wilde Berlin. Dort schafft es der begnadete Selbstdarsteller in kürzester Zeit, zu einem bekannten Autor der wichtigsten Zeitungen sowie für Hörfunk und Film zu werden. Sein erster Gedichtband, Herz auf Taille (1928), wird ein großer Erfolg. In leicht verständlichen, ja schnoddrigen Versen drückt er wie kein anderer das moderne Lebensgefühl der urbanen Mittelschicht aus. Der Arme-Leute-Sohn aus Dresden steigt zu einem gefeierten literarischen Bohemien der Weimarer Republik auf und läßt als Chronist des Alltags lakonisch-ironische Porträts der Epoche erstehen.
Mit seinen scharfzüngigen Glossen und Essays, die gern auch mal ins Frivole abgleiten, tritt er für Pazifismus, Liberalismus und sexuelle Freizügigkeit ein. Ein Prophet will er nicht sein, auch kein Prediger, aber durchaus ein »Moralist«, wenngleich ohne dezidierte Moral. Für ihn sind es goldene Jahre. Mit seiner »seelisch verwendbaren Gebrauchslyrik« besingt er die »möblierte Melancholie« der Großstadt und verspottet alles, was aus Sicht eines abgeklärten Linksliberalen lächerlich zu machen ist: die Obrigkeitshörigkeit, den Militarismus, die kapitalistische Wirtschaftsordnung und natürlich die Repressionsmächte von Klerus und Staat. Doch betrachtet er die Dinge stets aus der Distanz, gefällt sich in der Rolle eines politischen Flaneurs und desillusionierten Idealisten. Sich selbst erklärt er zum Verteidiger der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes – er sei ein »Rationalist«, ein »Urenkel der deutschen Aufklärung«. Einen ästhetisch-programmatischen Überbau hat er nicht. Auch keine metaphysische Anbindung.
Den ganz großen Durchbruch schafft Kästner in einem anderen Genre als dem zunächst erprobten: Emil und die Detektive (1929) begründet seinen Ruf als weltweit gefeierter Kinderbuchautor. Für Erwachsene schiebt er den Großstadt-Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) hinterher, der nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten prompt auf dem Scheiterhaufen landen soll: Kästner selbst ist zugegen, als seine Schriften bei der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz dem Feuer übergeben werden; hier endet vorerst seine Karriere, die so glanzvoll begonnen hat.
Fortan steht er unter Beobachtung und wird zweimal von der Gestapo verhaftet. Entgegen seiner kritischen Grundhaltung begibt er sich jedoch nicht ins Exil, denn um sein Leben fürchten muß er nicht. Der vordem so bissige Satiriker zieht sich in eine unpolitische Nische zurück und schreibt unter falschem Namen heitere Romane sowie Komödien für Bühne und Film (Münchhausen, 1943). Mehrmals versucht er sogar, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden, was ihm allerdings verwehrt bleibt.
Dennoch ist es ihm möglich, weiterhin ein Leben auf großem Fuß zu führen; seine schmutzige Wäsche schickt er unverdrossen zum »Muttchen« nach Dresden. Später wird Kästner als Grund für sein Verbleiben in Deutschland anführen, er habe beobachten und Stoff sammeln wollen für den ganz großen Roman über das Dritte Reich. Doch für mehr als einige Tagebucheintragungen – unregelmäßig geführt und meistenteils mit Belanglosigkeiten gefüllt – hat es nicht gereicht.
Nach dem Krieg gewinnt Kästner schnell seine alte Form zurück. Er berichtet als Live-Reporter von den Nürnberger Prozessen und verfaßt wie ehedem flotte Texte fürs Kabarett. Mit den Kinderbüchern Die Konferenz der Tiere und Das doppelte Lottchen (beide 1949) gelingt es ihm, an seine Erfolgssträhne als Autor für die jüngsten Leser anzuknüpfen. In der neuentstandenen Bundesrepublik erinnert man sich gern wieder an den kritischen Unterhaltungsautor, und »der Schriftsteller aus Sachsen« tut das Seine dazu, indem er sich in Presse, Fernsehen und Rundfunk unentbehrlich macht. Er übernimmt repräsentative Aufgaben im öffentlichen Leben und gilt in der Epoche der »Entnazifizierung« als ein Repräsentant des »anderen Deutschland«, und das, obwohl er die seinerzeit heiß diskutierte These von der Kollektivschuld massiv in Frage stellt. Sich selbst und die Deutschen begreift er als Opfer des Nationalsozialismus.
Dennoch genießt er, auch im Ausland, höchstes Ansehen. Vielleicht, weil er sich so eindringlich als »Botschafter des Friedens« gebärdet, vielleicht auch, weil er sich nicht als heimlichen Widerständler inszeniert. Auch verbittet er es sich, daß der Stab über diejenigen gebrochen wird, die in den dunklen zwölf Jahren in Deutschland geblieben waren – über die könnten nur sie selbst urteilen.
Kästner läßt sich in München nieder, wird Präsident des deutschen PEN-Clubs und Büchner-Preisträger, wird mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen. Zusammen mit jungen Leuten spricht er bei Ostermärschen, protestiert gegen die Wiederaufrüstung, gegen Atomwaffen, gegen den Vietnamkrieg. Seine letzten Jahre indes gehören nicht zu den glücklichsten: Sein unstetes Privatleben reibt ihn auf, er kämpft mit dem Alkohol, erkrankt an Tuberkulose und schreibt immer weniger – die innere Emigration holt ihn erneut ein. Am 29. Juli 1974 stirbt der »wehmütige Realist«, 75jährig, an Speiseröhrenkrebs.
Heute, fünfzig Jahre nach seinem Tod und aus Anlaß seines 125. Geburtstages, wird Kästner gefeiert wie nie zuvor, und zwar von Gruppen jeder politischen Couleur, ob rechts, links oder betont liberal. Sie alle finden sich in Kästner wieder, jeder glaubt ihn zu kennen, jede Seite versucht ihn für sich zu reklamieren und gegen den politischen Gegner in Stellung zu bringen. Doch ist diese Indienstnahme gerechtfertigt?
Kästner war ein Dichter für jede Lebenslage und für jede Gelegenheit, aber auch ein Mann, der zwischen allen Stühlen und allen Stilen saß, einer, »der zu keiner Partei gehört hat und immer Partei ergriff« (Hermann Kesten). Die Breite seines aufklärerischen Verständnisses vereint zwar unterschiedliche Standpunkte, führt aber auch dazu, daß seine Texte schier wahllos für jedes politische Anliegen verwendet werden können: für den »Kampf gegen rechts« ebenso wie für den Abwehrkampf konservativer Kräfte gegen Gesinnungsdiktatur und staatliche Bevormundung.
So tat sich schon der junge Kästner als Advokat der freien Meinungsäußerung hervor, als er in seinem Aufruf »Der Staat als Gouvernante« davor warnte, die Souveränität der Wissenschaft und der Kunst einer pädagogisch- didaktischen Korrektheit zu opfern, was in unseren Tagen geradezu wie ein Ruf aus der Gruft anmutet:
Forschungsergebnisse, Kunstwerke, weltanschauliche Versuche vermag der Staat nicht zu fördern; und nichts berechtigt ihn dazu, sie zu verhindern. Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion sind Wertgebiete, die nirgends an den Staat grenzen.
Doch sollte man aus solchen Sätzen keine Rückschlüsse über Kästners Toleranz in bezug auf Andersdenkende ziehen, ging er doch in der Nachkriegszeit »reaktionäre« Bemühungen scharf an (sowohl 1952 als auch 1966 sprach er von einem politischen »Rechtsruck«), wandte sich gegen den – aus seiner Sicht – allzu große Einfluß von Religion und Kirche, wetterte gegen die »Jüngerei« der 1950er Jahre und gegen die Rehabilitierung von Gottfried Benn. Rechtskonservative Anschauungen lehnte er dezidiert ab. Mit »rückwärtsgewandten Vorstellungen« war für ihn kein Staat zu machen, und an dieser Stelle scheute er sich nicht, Empfehlungen zu geben, wie und wo man »korrigierend« einwirken könnte: nämlich bei den Kindern und Jugendlichen.
Freilich waren ihm zeit seines Lebens Werte wie Familie und Heimatverbundenheit hohe Güter, doch sah er keinen Anlaß, sich für deren Erhalt besonders einzusetzen. Zwar hatte er eine starke Bindung an den deutschen Sprachraum, an deutsche Geschichte und Landschaft, doch zeigte er sich gleichzeitig von der Idee einer künftigen »Weltrepublik« fasziniert, die, sollte sie endlich einmal installiert werden, alle Grenzen obsolet machen und alle »freien Menschen« in »Solidarität« vereinen würde.
Er freute sich, wenn Menschen den Internationalismus praktizierten, in dem er ein wunderbares Utopia zu erblicken glaubte, das soziale Gerechtigkeit und paritätisches Miteinander garantierte – eine Grundüberzeugung, die wichtigster Bestandteil all seiner Kinderbücher ist. Und schließlich wurde er in den Jahren seines öffentlichen politischen Engagements nicht müde, die Worte Ovids zu bemühen, nämlich »Bekämpfe den Beginn!«, oder: »Wehret den Anfängen!« Man müsse sich einmischen, ehe es zu spät sei, betonte er, man müsse »den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.«
So ist es nicht klar, ob Kästner heutzutage empörte Statements gegen die »Wannseekonferenz 2.0« abgeben und mit Studenten Mahnwachen »gegen das Vergessen« abhalten würde oder ob er – andersherum – gegen »Gesinnungsdiktatur« und »linke Indoktrinierung« protestieren würde. In beiden Angelegenheiten hat er eine Tradition begründet.