Vor 125 Jahren kam Erich Kästner zur Welt

PDF der Druckausgabe aus Sezession 121/ August 2024

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von Eva Rex –

Erich Käst­ner kommt am 23. Febru­ar 1899 in einer Dresd­ner Miets­ka­ser­ne zur Welt. Er ist der ein­zi­ge Sohn einer ehr­gei­zi­gen Mut­ter, die den sozia­len Abstieg ihres Man­nes vom Satt­ler­meis­ter zum Ange­stell­ten einer Kof­fer­fa­brik nie­mals über­wun­den hat. Ihre uner­füll­ten Wün­sche und Hoff­nun­gen über­trägt sie auf den Sohn. Von ihr bekommt er den Auf­trag, Leh­rer zu werden.

Sei­ne Kind­heit und Jugend ver­bringt Käst­ner in sei­ner Hei­mat­stadt. Spä­ter stu­diert er in Leip­zig, wird aber nicht Leh­rer, son­dern Jour­na­list und geht als frei­er Publi­zist ins wil­de Ber­lin. Dort schafft es der begna­de­te Selbst­dar­stel­ler in kür­zes­ter Zeit, zu einem bekann­ten Autor der wich­tigs­ten Zei­tun­gen sowie für Hör­funk und Film zu wer­den. Sein ers­ter Gedicht­band, Herz auf Tail­le (1928), wird ein gro­ßer Erfolg. In leicht ver­ständ­li­chen, ja schnodd­ri­gen Ver­sen drückt er wie kein ande­rer das moder­ne Lebens­ge­fühl der urba­nen Mit­tel­schicht aus. Der Arme-Leu­te-Sohn aus Dres­den steigt zu einem gefei­er­ten lite­ra­ri­schen Bohe­mi­en der Wei­ma­rer Repu­blik auf und läßt als Chro­nist des All­tags lako­nisch-iro­ni­sche Por­träts der Epo­che erstehen.

Mit sei­nen scharf­zün­gi­gen Glos­sen und Essays, die gern auch mal ins Fri­vo­le abglei­ten, tritt er für Pazi­fis­mus, Libe­ra­lis­mus und sexu­el­le Frei­zü­gig­keit ein. Ein Pro­phet will er nicht sein, auch kein Pre­di­ger, aber durch­aus ein »Mora­list«, wenn­gleich ohne dezi­dier­te Moral. Für ihn sind es gol­de­ne Jah­re. Mit sei­ner »see­lisch ver­wend­ba­ren Gebrauchs­lyrik« besingt er die »möblier­te Melan­cho­lie« der Groß­stadt und ver­spot­tet alles, was aus Sicht eines abge­klär­ten Links­li­be­ra­len lächer­lich zu machen ist: die Obrig­keits­hö­rig­keit, den Mili­ta­ris­mus, die kapi­ta­lis­ti­sche Wirt­schafts­ord­nung und natür­lich die Repres­si­ons­mäch­te von Kle­rus und Staat. Doch betrach­tet er die Din­ge stets aus der Distanz, gefällt sich in der Rol­le eines poli­ti­schen Fla­neurs und des­il­lu­sio­nier­ten Idea­lis­ten. Sich selbst erklärt er zum Ver­tei­di­ger der Ver­nunft und des gesun­den Men­schen­ver­stan­des – er sei ein »Ratio­na­list«, ein »Uren­kel der deut­schen Auf­klä­rung«. Einen ästhe­tisch-pro­gram­ma­ti­schen Über­bau hat er nicht. Auch kei­ne meta­phy­si­sche Anbindung.

Den ganz gro­ßen Durch­bruch schafft Käst­ner in einem ande­ren Gen­re als dem zunächst erprob­ten: Emil und die Detek­ti­ve (1929) begrün­det sei­nen Ruf als welt­weit gefei­er­ter Kin­der­buch­au­tor. Für Erwach­se­ne schiebt er den Groß­stadt-Roman Fabi­an. Die Geschich­te eines Mora­lis­ten (1931) hin­ter­her, der nach der Macht­über­nah­me durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten prompt auf dem Schei­ter­hau­fen lan­den soll: Käst­ner selbst ist zuge­gen, als sei­ne Schrif­ten bei der Bücher­ver­bren­nung auf dem Ber­li­ner Opern­platz dem Feu­er über­ge­ben wer­den; hier endet vor­erst sei­ne Kar­rie­re, die so glanz­voll begon­nen hat.

Fort­an steht er unter Beob­ach­tung und wird zwei­mal von der Gesta­po ver­haf­tet. Ent­ge­gen sei­ner kri­ti­schen Grund­hal­tung begibt er sich jedoch nicht ins Exil, denn um sein Leben fürch­ten muß er nicht. Der vor­dem so bis­si­ge Sati­ri­ker zieht sich in eine unpo­li­ti­sche Nische zurück und schreibt unter fal­schem Namen hei­te­re Roma­ne sowie Komö­di­en für Büh­ne und Film (Münch­hau­sen, 1943). Mehr­mals ver­sucht er sogar, in die Reichs­schrift­tums­kam­mer auf­ge­nom­men zu wer­den, was ihm aller­dings ver­wehrt bleibt.

Den­noch ist es ihm mög­lich, wei­ter­hin ein Leben auf gro­ßem Fuß zu füh­ren; sei­ne schmut­zi­ge Wäsche schickt er unver­dros­sen zum »Mutt­chen« nach Dres­den. Spä­ter wird Käst­ner als Grund für sein Ver­blei­ben in Deutsch­land anfüh­ren, er habe beob­ach­ten und Stoff sam­meln wol­len für den ganz gro­ßen Roman über das Drit­te Reich. Doch für mehr als eini­ge Tage­buch­ein­tra­gun­gen – unre­gel­mä­ßig geführt und meis­ten­teils mit Belang­lo­sig­kei­ten gefüllt – hat es nicht gereicht.

Nach dem Krieg gewinnt Käst­ner schnell sei­ne alte Form zurück. Er berich­tet als Live-Repor­ter von den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen und ver­faßt wie ehe­dem flot­te Tex­te fürs Kaba­rett. Mit den Kin­der­bü­chern Die Kon­fe­renz der Tie­re und Das dop­pel­te Lott­chen (bei­de 1949) gelingt es ihm, an sei­ne Erfolgs­sträh­ne als Autor für die jüngs­ten Leser anzu­knüp­fen. In der neu­ent­stan­de­nen Bun­des­re­pu­blik erin­nert man sich gern wie­der an den kri­ti­schen Unter­hal­tungs­au­tor, und »der Schrift­stel­ler aus Sach­sen« tut das Sei­ne dazu, indem er sich in Pres­se, Fern­se­hen und Rund­funk unent­behr­lich macht. Er über­nimmt reprä­sen­ta­ti­ve Auf­ga­ben im öffent­li­chen Leben und gilt in der Epo­che der »Ent­na­zi­fi­zie­rung« als ein Reprä­sen­tant des »ande­ren Deutsch­land«, und das, obwohl er die sei­ner­zeit heiß dis­ku­tier­te The­se von der Kol­lek­tiv­schuld mas­siv in Fra­ge stellt. Sich selbst und die Deut­schen begreift er als Opfer des Nationalsozialismus.

Den­noch genießt er, auch im Aus­land, höchs­tes Anse­hen. Viel­leicht, weil er sich so ein­dring­lich als »Bot­schaf­ter des Frie­dens« gebär­det, viel­leicht auch, weil er sich nicht als heim­li­chen Wider­ständ­ler insze­niert. Auch ver­bit­tet er es sich, daß der Stab über die­je­ni­gen gebro­chen wird, die in den dunk­len zwölf Jah­ren in Deutsch­land geblie­ben waren – über die könn­ten nur sie selbst urteilen.

Käst­ner läßt sich in Mün­chen nie­der, wird Prä­si­dent des deut­schen PEN-Clubs und Büch­ner-Preis­trä­ger, wird mehr­mals für den Nobel­preis vor­ge­schla­gen. Zusam­men mit jun­gen Leu­ten spricht er bei Oster­mär­schen, pro­tes­tiert gegen die Wie­der­auf­rüs­tung, gegen Atom­waf­fen, gegen den Viet­nam­krieg. Sei­ne letz­ten Jah­re indes gehö­ren nicht zu den glück­lichs­ten: Sein unste­tes Pri­vat­le­ben reibt ihn auf, er kämpft mit dem Alko­hol, erkrankt an Tuber­ku­lo­se und schreibt immer weni­ger – die inne­re Emi­gra­ti­on holt ihn erneut ein. Am 29. Juli 1974 stirbt der »weh­mü­ti­ge Rea­list«, 75jährig, an Speiseröhrenkrebs.

Heu­te, fünf­zig Jah­re nach sei­nem Tod und aus Anlaß sei­nes 125. Geburts­ta­ges, wird ­Käst­ner gefei­ert wie nie zuvor, und zwar von Grup­pen ­jeder poli­ti­schen Cou­leur, ob rechts, links oder betont libe­ral. Sie alle fin­den sich in Käst­ner wie­der, jeder glaubt ihn zu ken­nen, jede Sei­te ver­sucht ihn für sich zu rekla­mie­ren und gegen den poli­ti­schen Geg­ner in Stel­lung zu brin­gen. Doch ist die­se Indienst­nah­me gerechtfertigt?

Käst­ner war ein Dich­ter für jede Lebens­la­ge und für jede Gele­gen­heit, aber auch ein Mann, der zwi­schen allen Stüh­len und allen Sti­len saß, einer, »der zu kei­ner Par­tei gehört hat und immer Par­tei ergriff« (Her­mann Kes­ten). Die Brei­te sei­nes auf­klä­re­ri­schen Ver­ständ­nis­ses ver­eint zwar unter­schied­li­che Stand­punk­te, führt aber auch dazu, daß sei­ne Tex­te schier wahl­los für jedes poli­ti­sche Anlie­gen ver­wen­det wer­den kön­nen: für den »Kampf gegen rechts« eben­so wie für den Abwehr­kampf kon­ser­va­ti­ver Kräf­te gegen Gesin­nungs­dik­ta­tur und staat­li­che Bevormundung.

So tat sich schon der jun­ge Käst­ner als Advo­kat der frei­en Mei­nungs­äu­ße­rung her­vor, als er in sei­nem Auf­ruf »Der Staat als Gou­ver­nan­te« davor warn­te, die Sou­ve­rä­ni­tät der Wis­sen­schaft und der Kunst einer päd­ago­gisch- didak­ti­schen Kor­rekt­heit zu opfern, was in unse­ren Tagen gera­de­zu wie ein Ruf aus der Gruft anmutet:

For­schungs­er­geb­nis­se, Kunst­wer­ke, ­welt­an­schau­li­che Ver­su­che ver­mag der Staat nicht zu för­dern; und nichts berech­tigt ihn dazu, sie zu ver­hin­dern. Wis­sen­schaft, Kunst, Phi­lo­so­phie und Reli­gi­on sind Wert­ge­bie­te, die nir­gends an den Staat grenzen.

Doch soll­te man aus sol­chen Sät­zen kei­ne Rück­schlüs­se über ­Käst­ners Tole­ranz in bezug auf Anders­den­ken­de zie­hen, ging er doch in der Nach­kriegs­zeit »reak­tio­nä­re« Bemü­hun­gen scharf an (sowohl 1952 als auch 1966 sprach er von einem poli­ti­schen »Rechts­ruck«), wand­te sich gegen den – aus sei­ner Sicht – all­zu gro­ße Ein­fluß von Reli­gi­on und Kir­che, wet­ter­te gegen die »Jün­ge­rei« der 1950er Jah­re und gegen die Reha­bi­li­tie­rung von Gott­fried Benn. Rechts­kon­ser­va­ti­ve Anschau­un­gen lehn­te er dezi­diert ab. Mit »rück­wärts­ge­wand­ten Vor­stel­lun­gen« war für ihn kein Staat zu machen, und an die­ser Stel­le scheu­te er sich nicht, Emp­feh­lun­gen zu geben, wie und wo man »kor­ri­gie­rend« ein­wir­ken könn­te: näm­lich bei den Kin­dern und Jugendlichen.

Frei­lich waren ihm zeit sei­nes Lebens Wer­te wie Fami­lie und Hei­mat­ver­bun­den­heit hohe Güter, doch sah er kei­nen Anlaß, sich für deren Erhalt beson­ders ein­zu­set­zen. Zwar hat­te er eine star­ke Bin­dung an den deut­schen Sprach­raum, an deut­sche Geschich­te und Land­schaft, doch zeig­te er sich gleich­zei­tig von der Idee einer künf­ti­gen »Welt­re­pu­blik« fas­zi­niert, die, soll­te sie end­lich ein­mal instal­liert wer­den, alle Gren­zen obso­let machen und alle »frei­en Men­schen« in »Soli­da­ri­tät« ver­ei­nen würde.

Er freu­te sich, wenn Men­schen den Inter­na­tio­na­lis­mus prak­ti­zier­ten, in dem er ein wun­der­ba­res Uto­pia zu erbli­cken glaub­te, das sozia­le Gerech­tig­keit und pari­tä­ti­sches Mit­ein­an­der garan­tier­te – eine Grund­über­zeu­gung, die wich­tigs­ter Bestand­teil all sei­ner Kin­der­bü­cher ist. Und schließ­lich wur­de er in den Jah­ren sei­nes öffent­li­chen poli­ti­schen Enga­ge­ments nicht müde, die Wor­te Ovids zu bemü­hen, näm­lich »Bekämp­fe den Beginn!«, oder: »Weh­ret den Anfän­gen!« Man müs­se sich ein­mi­schen, ehe es zu spät sei, beton­te er, man müs­se »den rol­len­den Schnee­ball zer­tre­ten. Die Lawi­ne hält kei­ner mehr auf.«

So ist es nicht klar, ob Käst­ner heut­zu­ta­ge empör­te State­ments gegen die »Wann­see­kon­fe­renz 2.0« abge­ben und mit Stu­den­ten Mahn­wa­chen »gegen das Ver­ges­sen« abhal­ten wür­de oder ob er – anders­her­um – gegen »Gesin­nungs­dik­ta­tur« und »lin­ke Indok­tri­nie­rung« pro­tes­tie­ren wür­de. In bei­den Ange­le­gen­hei­ten hat er eine Tra­di­ti­on begründet.

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