Am 1. Juli 2024 übernahm Ungarn turnusmäßig die EU-Ratspräsidentschaft. Dies entspricht stärker einer formellen Funktion als einer gestalterischen. Doch Ministerpräsident Viktor Orbán strebt an, »mehr« daraus zu machen, als beispielsweise nur Treffen der Fachminister vorbereiten zu lassen, bei denen die jeweiligen Vertreter aus den 27 EU- Mitgliedsstaaten mit den fachlich zuständigen EU-Kommissaren dinieren und tagen. »Mehr« – das heißt in Orbáns Kontext, eine proaktive Rolle in der EU-Außenpolitik, geradezu in der Weltpolitik, einzunehmen.
Nach einem unterkühlten Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj reiste Orbán Anfang Juli ausgerechnet nach Rußland, um in Moskau Präsident Wladimir Putin zu treffen. In regierungsfreundlichen Medien Ungarns wurde dies als »Friedensmission« tituliert; Budapest könnte die Rolle als ehrlicher Makler zwischen Kiew und Moskau einnehmen. Das sorgte in der westlerischen Presse für bissige Ablehnung, die dadurch potenziert wurde, daß Orbán nach seiner Rußlandreise weiter nach Peking flog, um dort mit Chinas Staats- und KP-Parteichef Xi Jinping, mit dem Ungarn enge Wirtschaftskooperationen pflegt, zu konferieren. Orbán spitzte die Lage weiter zu, indem er abschließend den vormaligen US-Präsidenten Donald Trump aufsuchte.
Man kann diese Reisepolitik des ungarischen Staatsmannes, wie Leitmedien hierzulande, als Despotennähe denunzieren, der es an (westlichen) »Werten« fehle. Man kann sie aber auch sachlich in jenem größeren Bezugsrahmen verorten, den der Konfliktforscher Wolfgang Sporrer (Hertie School Berlin) kürzlich im sozialistischen Jacobin-Magazin (Nr. 15) aufspannte: als friedens- und interessengeleitete Außenpolitik, die rationale Ausgleichsmotive präferiert. Viktor Orbán verwirft demzufolge die unrealistische Erwartung eines »Siegfriedens« in die eine oder andere Richtung und nutzt die im Juli neuverliehene symbolpolitische Macht eines EU-Ratspräsidenten. Sein Konzept der Außenpolitik ist – mit Sporrer gedacht – nicht »pazifistisch« ummantelt. Vielmehr ist darin eine »radikal-realistische Position« eingeschrieben, bei der nicht Moralpolitik, sondern »Friedenserhaltung und ‑wiederherstellung das Leitmotiv darstellen«.
Dieser radikale Realismus Orbáns ruft Gegenreaktionen hervor. Nicht nur die Europäische Kommission gab kund, daß Ungarns Spitze nicht für die EU spreche; insbesondere auch aus Deutschlands politischer Elite kam scharfe Kritik, die ihre Folgen zeitigte: Am 15. und 16. Juli meldeten regierungsnahe Instanzen, darunter die Tagesschau, daß EU- Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit einer »Boykott-Entscheidung« auf Orbáns »Alleingänge« reagiere:
Die deutsche Spitzenpolitikerin ließ ankündigen, daß an künftigen informellen Ministertreffen unter der Leitung der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft in Ungarn keine Kommissarinnen oder Kommissare, sondern nur ranghohe Beamte teilnehmen werden. Zudem verzichtet die EU-Kommission auf den traditionellen Antrittsbesuch bei der ungarischen Präsidentschaft.
Gewiß: Damit kann Orbáns Regierung leben; sie zehrt innerhalb der eigenen Landesgrenzen von ihrer perpetuierten Konfrontationssituation mit der Brüsseler Nomenklatura. Etwas anderes sorgt aber für eine neue Situation: das Aufkommen einer inneren Opposition zu Fidesz, die ebenso für sich beansprucht, nationale und interessengeleitete Politik betreiben zu wollen, nur weniger konfliktbeladen mit den Verantwortungsträgern in Brüssel und Straßburg.
Das ist neu, denn wir erinnern uns: Die ungarische Opposition, gefördert von EU-Apparaten, Soros- Netzwerken und linksliberalen NGOs aus aller Welt, hat es über viele Jahre eben nicht verstanden, dem nationalen Block an der Macht Risse beizufügen, weil sie nicht als »ungarisch« interpretiert wurde, sondern als »globalistisch« oder zumindest »EU-westlerisch«. Nicht einmal die Eingemeindung der einst nationalistischen Partei Jobbik in die Reihen der Anti-Orbán-Front von Postkommunisten bis zu Marktliberalen hat ausgereicht, um Fidesz’ Stellung ernstlich zu gefährden. Zahllose Versuche zwischen 2010 und 2024 verpufften oder blieben auf die traditionell liberalere und linkere Hauptstadt Budapest limitiert.
Nun dräut aber die größere Gefahr: diejenige aus dem »eigenen Lager«; innere Widersprüche haben das Zeug zur Blockspaltung und deswegen setzen Orbáns Gegner fortan auf ebensolche. Anlaß bieten Orbáns Führungszirkel selbst: Seit April 2023 werden diese immer wieder von Verhaltens- und Verantwortungskrisen erfaßt, als Staatspräsidentin Katalin Novák den »Kinderheimskandal« auslöste. Die faktische Nummer zwei hinter Orbán begnadigte einen ehemaligen stellvertretenden Direktor eines Kinderheimes, der sexuellen Mißbrauch durch seinen Vorgesetzten vertuscht hatte. Die damalige Justizministerin Judit Varga billigte es. Als dies der Öffentlichkeit bekannt wurde, demonstrierten Zehntausende gegen die Regierung. Ende Februar 2024 trat Staatspräsidentin Novák zurück, Varga verzichtete auf die Spitzenkandidatur zur EU-Wahl im Juni 2024.
Parallel brach ein innerer Widerspruch auf, und zwar in Gestalt von Vargas ehemaligem Ehemann, Péter Magyar. Der bis dato Orbán- loyale Behördenleiter inszenierte sich als Insider, der auspackt. Sein Video »Wenigen Familien gehört das halbe Land« erzielte mehr als 2,5 Millionen YouTube-Aufrufe – bei knapp zehn Millionen Einwohnern Ungarns. Im Anschluß surfte er auf der Welle der Aufmerksamkeitsökonomie und wurde zum Social-Media-Star: Bei Facebook überholte er an Reichweite Orbán himself. Es ist keine Übertreibung, wenn das österreichische Magazin Profil (Nr. 14/2024) im studierten Juristen Péter Magyar jenen Mann sieht, »der Orbán gefährlich wird« (eine Redewendung, die hierzulande prompt vom Spiegel und dem ZDF kopiert wurde).
Im ersten großen Porträt des Fidesz-Renegaten überhaupt verweisen Gregor Mayer und Franziska Tschinderle auf Magyars Image als »Saubermacher«, der gegen Vetternwirtschaft agitiert, als jemanden, der »einmal Teil des Systems war, das er jetzt bekämpfen möchte«, und dafür aus dem Stand zweistellige Werte in Wahlumfragen erzielen konnte. Das lag nicht nur am »Begnadigungsskandal«, sondern auch an diversen Leaks aus Fidesz-Spitzenkreisen. Besonders konservativ eingestellte Menschen in Kleinstädten und auf dem Land – die Kernklientel von Orbán – reagierten teils angewidert auf publizierte Dialoge zwischen Fidesz-Akteuren über gelenkte Staatsanwälte und Vertuschungen »von oben«. Das erinnerte an ähnliche Aussagen ungarischer Altlinker, die dafür elektoral vernichtend abgestraft wurden.
Auch auf dieser neuerlichen Empörungswelle surfte Magyar virtuos und konnte massenmedial brillieren: als jener, der mit dem Sumpf Schluß machen will, ohne aber alle politischen Verhältnisse umkehren zu wollen: als Fidesz 2.0 ohne korrupte Mechanismen. So droht er damit, Enttäuschte unter ihnen und Nichtwähler zu mobilisieren. Insbesondere für diese Klientel gründete Magyar Ende April 2024 seine Partei: Respekt und Freiheit – Tisza. Die Unterschriften für die EU-Wahl hatte Tisza nach wenigen Tagen zusammen, indem man eine Doppelstrategie fuhr: ideologisch so patriotisch wie Orbán, aber strategisch versöhnliche Töne gen Brüssel anschlagend.
Es schien von Anfang an zu funktionieren; die Wahl im Juni 2024 wurde daher als harte Bewährungsprobe für den »nationalen Block« Viktor Orbáns verstanden, der erneut aus der Wahlallianz zwischen Fidesz und den konservativen Christdemokraten bestand. Zwar konnte man 44,8 Prozent erzielen – doch Tisza ist aus dem Stand auf 29,6 Prozent gesprungen; eine Machtdemonstration, die von Tisza-Chef Péter Magyar so erhofft worden war.
Anläßlich der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Ungarn zum 1. Juli verkündete er mit der Verve eines Shootingstars, seine Partei arbeite an einer »grundlegenden Erneuerung Ungarns« und werde bei den Parlamentswahlen 2026 gewinnen. Die Partei, raunte er, habe keine ausländischen Gelder angenommen und bleibe strikt unabhängig. Das entspricht kaum der Realität: Denn Tisza wurde nach der EU-Wahl Mitglied der größten Fraktion im Europaparlament, der CDU/CSU-dominierten Europäischen Volkspartei (EVP) rund um Ursula von der Leyen. Von dieser Truppe ist kein »radikaler Realismus« in der EU- und Weltpolitik zu erwarten, sondern die altbekannte transatlantische Agenda.
Es wird nun viel davon abhängen, ob es dem »nationalen Block« Orbáns gelingen wird, den nationalbewußten Tisza- Wählern zu vermitteln, daß die auch von ihnen affirmierte ungarische Selbstbehauptung unter der real existierenden EVP-EU-Hegemonie nicht zu haben ist. Dort warten Subordination unter westliche große Erzählungen und Konfrontationen mit den engen ungarischen Handelspartnern Rußland und China. Orbáns kleine Weltreise zum Auftakt der EU-Ratspräsidentschaft muß daher explizit auch in einem innerungarischen Kontext betrachtet werden: Die nächsten eineinhalb Jahren werden für Orbáns Lager der ultimative Streßtest.