Ungarns EU-Ratspräsidentschaft

PDF der Druckausgabe aus Sezession 121/ August 2021

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Am 1. Juli 2024 über­nahm Ungarn tur­nus­mä­ßig die EU-Rats­prä­si­dent­schaft. Dies ent­spricht stär­ker einer for­mel­len Funk­ti­on als einer gestal­te­ri­schen. Doch Minis­ter­prä­si­dent Vik­tor Orbán strebt an, »mehr« dar­aus zu machen, als bei­spiels­wei­se nur Tref­fen der Fach­mi­nis­ter vor­be­rei­ten zu las­sen, bei denen die jewei­li­gen Ver­tre­ter aus den 27 EU- Mit­glieds­staa­ten mit den fach­lich zustän­di­gen EU-Kom­mis­sa­ren dinie­ren und tagen. »Mehr« – das heißt in Orbáns Kon­text, eine pro­ak­ti­ve Rol­le in der EU-Außen­po­li­tik, gera­de­zu in der Welt­po­li­tik, einzunehmen.

Nach einem unter­kühl­ten Tref­fen mit dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Wolo­dym­yr Selen­skyj reis­te Orbán Anfang Juli aus­ge­rech­net nach Ruß­land, um in Mos­kau Prä­si­dent Wla­di­mir Putin zu tref­fen. In regie­rungs­freund­li­chen Medi­en Ungarns wur­de dies als »Frie­dens­mis­si­on« titu­liert; Buda­pest könn­te die Rol­le als ehr­li­cher Mak­ler zwi­schen Kiew und Mos­kau ein­neh­men. Das sorg­te in der west­le­ri­schen Pres­se für bis­si­ge Ableh­nung, die dadurch poten­ziert wur­de, daß Orbán nach sei­ner Ruß­land­rei­se wei­ter nach Peking flog, um dort mit Chi­nas Staats- und KP-Par­tei­chef Xi Jin­ping, mit dem Ungarn enge Wirt­schafts­ko­ope­ra­tio­nen pflegt, zu kon­fe­rie­ren. Orbán spitz­te die Lage wei­ter zu, indem er abschlie­ßend den vor­ma­li­gen US-Prä­si­den­ten Donald Trump aufsuchte.

Man kann die­se Rei­se­po­li­tik des unga­ri­schen Staats­man­nes, wie Leit­me­di­en hier­zu­lan­de, als Des­po­ten­nä­he denun­zie­ren, der es an (west­li­chen) »Wer­ten« feh­le. Man kann sie aber auch sach­lich in jenem grö­ße­ren Bezugs­rah­men ver­or­ten, den der Kon­flikt­for­scher Wolf­gang ­Spor­rer (Her­tie School Ber­lin) kürz­lich im sozia­lis­ti­schen Jaco­bin-Maga­zin (Nr. 15) auf­spann­te: als frie­dens- und inter­es­sen­ge­lei­te­te Außen­po­li­tik, die ratio­na­le Aus­gleichs­mo­ti­ve prä­fe­riert. ­Vik­tor Orbán ver­wirft dem­zu­fol­ge die unrea­lis­ti­sche Erwar­tung eines »Sieg­frie­dens« in die eine oder ande­re Rich­tung und nutzt die im Juli neu­ver­lie­he­ne sym­bol­po­li­ti­sche Macht eines EU-Rats­prä­si­den­ten. Sein Kon­zept der Außen­po­li­tik ist – mit Spor­rer gedacht – nicht »pazi­fis­tisch« umman­telt. Viel­mehr ist dar­in eine »radi­kal-rea­lis­ti­sche Posi­ti­on« ein­ge­schrie­ben, bei der nicht Moral­po­li­tik, son­dern »Frie­dens­er­hal­tung und ‑wie­der­her­stel­lung das Leit­mo­tiv darstellen«.

Die­ser radi­ka­le Rea­lis­mus Orbáns ruft Gegen­re­ak­tio­nen her­vor. Nicht nur die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on gab kund, daß Ungarns Spit­ze nicht für die EU spre­che; ins­be­son­de­re auch aus Deutsch­lands poli­ti­scher Eli­te kam schar­fe Kri­tik, die ihre Fol­gen zei­tig­te: Am 15. und 16. Juli mel­de­ten regie­rungs­na­he Instan­zen, dar­un­ter die Tages­schau, daß EU- Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en mit einer »Boy­kott-Ent­schei­dung« auf Orbáns »Allein­gän­ge« reagiere:

Die deut­sche Spit­zen­po­li­ti­ke­rin ließ ankün­di­gen, daß an künf­ti­gen infor­mel­len Minis­ter­tref­fen unter der Lei­tung der der­zei­ti­gen EU-Rats­prä­si­dent­schaft in Ungarn kei­ne Kom­mis­sa­rin­nen oder Kom­mis­sa­re, son­dern nur rang­ho­he Beam­te teil­neh­men wer­den. Zudem ver­zich­tet die EU-Kom­mis­si­on auf den tra­di­tio­nel­len Antritts­be­such bei der unga­ri­schen Präsidentschaft.

Gewiß: Damit kann Orbáns Regie­rung leben; sie zehrt inner­halb der eige­nen Lan­des­gren­zen von ihrer per­p­etu­ier­ten Kon­fron­ta­ti­ons­si­tua­ti­on mit der Brüs­se­ler Nomen­kla­tu­ra. Etwas ande­res sorgt aber für eine neue Situa­ti­on: das Auf­kom­men einer inne­ren Oppo­si­ti­on zu ­Fidesz, die eben­so für sich bean­sprucht, natio­na­le und inter­es­sen­ge­lei­te­te Poli­tik betrei­ben zu wol­len, nur weni­ger kon­flikt­be­la­den mit den Ver­ant­wor­tungs­trä­gern in Brüs­sel und Straßburg.

Das ist neu, denn wir erin­nern uns: Die unga­ri­sche Oppo­si­ti­on, geför­dert von EU-Appa­ra­ten, Sor­os- Netz­wer­ken und links­li­be­ra­len NGOs aus aller Welt, hat es über vie­le Jah­re eben nicht ver­stan­den, dem natio­na­len Block an der Macht Ris­se bei­zu­fü­gen, weil sie nicht als »unga­risch« inter­pre­tiert wur­de, son­dern als »glo­ba­lis­tisch« oder zumin­dest »EU-west­le­risch«. Nicht ein­mal die Ein­ge­mein­dung der einst natio­na­lis­ti­schen Par­tei Job­bik in die Rei­hen der Anti-Orbán-Front von Post­kom­mu­nis­ten bis zu Markt­li­be­ra­len hat aus­ge­reicht, um Fidesz’ Stel­lung ernst­lich zu gefähr­den. Zahl­lo­se Ver­su­che zwi­schen 2010 und 2024 ver­puff­ten oder blie­ben auf die tra­di­tio­nell libe­ra­le­re und lin­ke­re Haupt­stadt Buda­pest limitiert.

Nun dräut aber die grö­ße­re Gefahr: die­je­ni­ge aus dem »eige­nen Lager«; inne­re Wider­sprü­che haben das Zeug zur Block­spal­tung und des­we­gen set­zen Orbáns Geg­ner fort­an auf eben­sol­che. Anlaß bie­ten Orbáns Füh­rungs­zir­kel selbst: Seit April 2023 wer­den die­se immer wie­der von Ver­hal­tens- und Ver­ant­wor­tungs­kri­sen erfaßt, als Staats­prä­si­den­tin Kata­lin Novák den »Kin­der­heim­skan­dal« aus­lös­te. Die fak­ti­sche Num­mer zwei hin­ter Orbán begna­dig­te einen ehe­ma­li­gen stell­ver­tre­ten­den Direk­tor eines Kin­der­hei­mes, der sexu­el­len Miß­brauch durch sei­nen Vor­ge­setz­ten ver­tuscht hat­te. Die dama­li­ge Jus­tiz­mi­nis­te­rin Judit Var­ga bil­lig­te es. Als dies der Öffent­lich­keit bekannt wur­de, demons­trier­ten Zehn­tau­sen­de gegen die Regie­rung. Ende Febru­ar 2024 trat Staats­prä­si­den­tin Novák zurück, Var­ga ver­zich­te­te auf die Spit­zen­kan­di­da­tur zur EU-Wahl im Juni 2024.

Par­al­lel brach ein inne­rer Wider­spruch auf, und zwar in Gestalt von Var­gas ehe­ma­li­gem Ehe­mann, Péter Magyar. Der bis dato Orbán- loya­le Behör­den­lei­ter insze­nier­te sich als Insi­der, der aus­packt. Sein Video »Weni­gen Fami­li­en gehört das hal­be Land« erziel­te mehr als 2,5 Mil­lio­nen You­Tube-Auf­ru­fe – bei knapp zehn Mil­lio­nen Ein­woh­nern Ungarns. Im Anschluß surf­te er auf der Wel­le der Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie und wur­de zum Social-Media-Star: Bei Face­book über­hol­te er an Reich­wei­te Orbán hims­elf. Es ist kei­ne Über­trei­bung, wenn das öster­rei­chi­sche Maga­zin Pro­fil (Nr. 14/2024) im stu­dier­ten Juris­ten Péter Magyar jenen Mann sieht, »der Orbán gefähr­lich wird« (eine Rede­wen­dung, die hier­zu­lan­de prompt vom Spie­gel und dem ZDF kopiert wurde).

Im ers­ten gro­ßen Por­trät des Fidesz-Rene­ga­ten über­haupt ver­wei­sen Gre­gor May­er und Fran­zis­ka Tschin­der­le auf Magyars Image als »Sau­ber­ma­cher«, der gegen Vet­tern­wirt­schaft agi­tiert, als jeman­den, der »ein­mal Teil des Sys­tems war, das er jetzt bekämp­fen möch­te«, und dafür aus dem Stand zwei­stel­li­ge Wer­te in Wahl­um­fra­gen erzie­len konn­te. Das lag nicht nur am »Begna­di­gungs­skan­dal«, son­dern auch an diver­sen Leaks aus Fidesz-Spit­zen­krei­sen. Beson­ders kon­ser­va­tiv ein­ge­stell­te Men­schen in Klein­städ­ten und auf dem Land – die Kern­kli­en­tel von Orbán – reagier­ten teils ange­wi­dert auf publi­zier­te Dia­lo­ge zwi­schen Fidesz-Akteu­ren über gelenk­te Staats­an­wäl­te und Ver­tu­schun­gen »von oben«. Das erin­ner­te an ähn­li­che Aus­sa­gen unga­ri­scher Alt­lin­ker, die dafür elek­to­ral ver­nich­tend abge­straft wurden.

Auch auf die­ser neu­er­li­chen Empö­rungs­wel­le surf­te Magyar vir­tu­os und konn­te mas­sen­me­di­al bril­lie­ren: als jener, der mit dem Sumpf Schluß machen will, ohne aber alle poli­ti­schen Ver­hält­nis­se umkeh­ren zu wol­len: als Fidesz 2.0 ohne kor­rup­te Mecha­nis­men. So droht er damit, Ent­täusch­te unter ihnen und Nicht­wäh­ler zu mobi­li­sie­ren. Ins­be­son­de­re für die­se Kli­en­tel grün­de­te Magyar Ende April 2024 sei­ne Par­tei: Respekt und Frei­heit – Tis­za. Die Unter­schrif­ten für die EU-Wahl hat­te Tis­za nach weni­gen Tagen zusam­men, indem man eine Dop­pel­stra­te­gie fuhr: ideo­lo­gisch so patrio­tisch wie Orbán, aber stra­te­gisch ver­söhn­li­che Töne gen Brüs­sel anschlagend.

Es schien von Anfang an zu funk­tio­nie­ren; die Wahl im Juni 2024 wur­de daher als har­te Bewäh­rungs­pro­be für den »natio­na­len Block« Vik­tor Orbáns ver­stan­den, der erneut aus der Wahl­al­li­anz zwi­schen Fidesz und den kon­ser­va­ti­ven Christ­de­mo­kra­ten bestand. Zwar konn­te man 44,8 Pro­zent erzie­len – doch Tis­za ist aus dem Stand auf 29,6 Pro­zent gesprun­gen; eine Macht­de­mons­tra­ti­on, die von Tis­za-Chef Péter Magyar so erhofft wor­den war.

Anläß­lich der Über­nah­me der EU-Rats­prä­si­dent­schaft durch Ungarn zum 1. Juli ver­kün­de­te er mit der Ver­ve eines Shoo­ting­stars, sei­ne Par­tei arbei­te an einer »grund­le­gen­den Erneue­rung Ungarns« und wer­de bei den Par­la­ments­wah­len 2026 gewin­nen. Die Par­tei, raun­te er, habe kei­ne aus­län­di­schen Gel­der ange­nom­men und blei­be strikt unab­hän­gig. Das ent­spricht kaum der Rea­li­tät: Denn Tis­za wur­de nach der EU-Wahl Mit­glied der größ­ten Frak­ti­on im Euro­pa­par­la­ment, der CDU/C­SU-domi­nier­ten Euro­päi­schen Volks­par­tei (EVP) rund um Ursu­la von der Ley­en. Von die­ser Trup­pe ist kein »radi­ka­ler Rea­lis­mus« in der EU- und Welt­po­li­tik zu erwar­ten, son­dern die alt­be­kann­te trans­at­lan­ti­sche Agenda.

Es wird nun viel davon abhän­gen, ob es dem »natio­na­len Block« Orbáns gelin­gen wird, den natio­nal­be­wuß­ten Tis­za- Wäh­lern zu ver­mit­teln, daß die auch von ihnen affir­mier­te unga­ri­sche Selbst­be­haup­tung unter der real exis­tie­ren­den EVP-EU-Hege­mo­nie nicht zu haben ist. Dort war­ten Sub­or­di­na­ti­on unter west­li­che gro­ße Erzäh­lun­gen und Kon­fron­ta­tio­nen mit den engen unga­ri­schen Han­dels­part­nern Ruß­land und Chi­na. Orbáns klei­ne Welt­rei­se zum Auf­takt der EU-Rats­prä­si­dent­schaft muß daher expli­zit auch in einem inner­unga­ri­schen Kon­text betrach­tet wer­den: Die nächs­ten ein­ein­halb Jah­ren wer­den für Orbáns Lager der ulti­ma­ti­ve Streßtest.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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