von Moritz Scholtysik –
Verglichen mit den Ereignissen ihrer Zeit, war das kurze Leben der Anna Katharina Emmerick unscheinbar. Dennoch war es ein Zeichen des Widerspruchs: Die Bauerntochter, die nur vier Monate die Schule besucht hatte, verkörperte die damals bekämpfte Volksfrömmigkeit. Die historisch-kritische Jesusforschung versuchte, die Gottessohnschaft zu zerlegen, Passionsspiele und Prozessionen wurden mancherorts verboten sowie Klöster aufgehoben.
Demgegenüber stand Emmerick mit ihren anschaulichen Visionen vom Leben und Sterben Jesu, ihren Leiden und Verwundungen und ihrer Fürsorge für die Armen. Von den Besuchen bei Emmerick geprägt, sagte deshalb der spätere Regensburger Bischof Johann Michael Sailer:
Mögen Andere Jesum auf der Kanzel reden lassen, als wenn er bei Wolff in Halle oder bei Kant in Königsberg, oder bei Fichte in Jena philosophischen Kurs mitgemacht hätte: ich will Ihn vor meinem Volke reden lassen, was ihm die alten Evangelien und Apostel in den Mund legen.
Aber selbst Albert Schweitzer, der von Emmericks Visionen als »naiven Ausmalungen und Erfindungen« sprach, sah darin »etwas Ergreifendes«, das man »nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht in den Händen halten« könne und David Friedrich Strauß’ dekonstruierendes Leben Jesu »gründlich« widerlege.
Ihre spätere Bedeutung war in Emmericks Kindheit noch nicht absehbar. Sie wurde wahrscheinlich am 8. September 1774 als fünftes von neun Kindern armer Kleinbauern in der Bauerschaft Flamschen in Coesfeld im Münsterland geboren. »Annthrinken«, wie sie im Münsterländer Platt genannt wurde, war ein »echtes Kind dieses Landes«, so die Schriftstellerin Anna von Krane. Ihre katholisch und von verstreuten Höfen und kleinen Siedlungen geprägte Heimat verließ sie nie. Dort soll es angeblich häufiger Menschen gegeben haben, die »in ahnungsvollen Gesichten das Kommende voraussehen« (Krane).
Bei Emmerick begann es mit dem Vergangenen: Bereits als kleines Kind soll sie die Geschichten des Alten Testamentes vor dem inneren Auge gesehen und ihrem Vater mit topographischer und historischer Genauigkeit beschrieben haben. Früh bildeten sich bei ihr daher ein intensives religiöses Leben und eine starke Anteilnahme am Leid ihrer Nächsten aus. Mit zwölf Jahren verließ sie ihr Elternhaus, um bei einem Großbauern als Magd zu arbeiten, was sie aufgrund ihrer schwachen Konstitution nach drei Jahren aufgeben mußte. Sie ging für zwei Jahre bei einer Näherin zur Lehre und zog anschließend zu einer anderen Näherin nach Coesfeld. Mit 20 Jahren kehrte sie zu ihren Eltern zurück, um in einem kleinen Raum, den ihr Vater an den Kotten der Familie angebaut hatte, zu leben und von dort aus als Wandernäherin im Umkreis zu arbeiten.
Nach einigen Jahren entschied sie sich – gegen den Widerstand ihrer Eltern –, in ein Kloster einzutreten. Aufgrund ihrer häufigen Krankheiten und ihrer spärlichen Mitgift wurde sie zunächst von den Klöstern abgewiesen, bis sie 1802 in das Kloster Agnetenberg in Dülmen aufgenommen wurde, nachdem sie die drei vorherigen Jahre erneut als Magd gearbeitet hatte. Im Jahr darauf legte sie ihre Profeß als Augustinerchorfrau ab. Als solche lebte sie unter zunehmenden Schmerzen, Lungen‑, Magen- und Darmerkrankungen sowie weitgehender Ablehnung ihrer Mitschwestern bis 1811. Dann wurde das Kloster im Zuge der Säkularisation aufgehoben. Emmerick arbeitete fortan in Dülmen als Haushälterin des französischen Priesters Jean Martin Lambert, der aus Frankreich fliehen mußte, weil er sich geweigert hatte, den Eid auf die revolutionäre Zivilverfassung des Klerus zu leisten.
Das Haus von Lambert sollte Emmerick aber kaum mehr verlassen können. Bereits 1798 hatte sie während des Gebets in der Coesfelder Jesuitenkirche eine Vision ereilt, bei der Christus sie zwischen einem Blumenkranz und einer Dornenkrone wählen ließ. Sie wählte letzteres als Sinnbild dafür, für die Sünden der Welt mitleiden zu wollen, woraufhin sich auf ihrer Stirn und ihren Schläfen Wunden und Blutergüsse bildeten, einem Abdruck der Dornenkrone gleich. Im Laufe des Jahres 1812 traten nun Wunden an Händen, Füßen und an der Seite sowie drei Wunden in Kreuzesform auf der Brust hinzu. Das mittlere der drei Kreuze hatte die Form eines Gabelkreuzes, ganz wie das Coesfelder Kreuz aus dem 14. Jahrhundert, vor dem Emmerick häufig in der Pfarrkirche St. Lamberti gebetet hatte.
Gegen den Willen Emmericks verbreitete sich die Nachricht von ihren Stigmata über das Münsterland hinaus. Die öffentliche Kontroverse führte zu einer Reihe von Untersuchungen. Zuerst durch den Kreisarzt Franz Wilhelm Wesener, der anfänglich von Betrug ausging, diese Haltung nach seinen Behandlungen jedoch revidierte, sie für mehrere Jahre ärztlich versorgte und darüber Tagebuch führte und bezeugte, daß sie außer der Eucharistie keine feste Nahrung mehr zu sich nahm. Ebenso kam die ärztliche Untersuchungskommission des Münsteraner Generalvikars Clemens August Droste zu Vischering zu dem Ergebnis, daß die Wunden nicht künstlich herbeigeführt worden waren. Ganz anders fiel das Fazit der Ärzte aus, die sie 1819 drei Wochen lang im Auftrag der preußischen Regierung untersuchten. Diesem Bericht zufolge sollen die Stigmata vorsätzlich selbst herbeigeführt worden und daher keines übernatürlichen Ursprungs gewesen sein. Die zum Teil gewaltsamen Methoden der Ärzte wurden jedoch in einer späteren hitzigen Debatte in Zeitungen scharf kritisiert. Der Fall Emmerick nahm somit auf regionaler Ebene den späteren preußisch-katholischen Kulturkampf vorweg.
Ein einschneidendes Erlebnis im Leben Emmericks war die Begegnung mit Clemens Brentano, die Gerd-Klaus Kaltenbrunner als »kein literaturgeschichtliches, sondern ein äonisches Ereignis« beschrieb. Der Schriftsteller und Dichter besuchte Emmerick erstmals am 24. September 1818 an ihrem Krankenbett, an dem er die folgenden sechs Jahre bis zu ihrem Tod sehr häufig sitzen sollte, um ihre Visionen zu transkribieren. In diesen durchlebte Emmerick das gesamte Kirchenjahr mit seinen Festen und deren Ursprüngen in der Bibel oder im Leben der Heiligen. Auch sah sie zeitlich parallele kirchliche Ereignisse mit den Päpsten Pius VII. und Leo XII. und prophezeite die Kirchenkrise heutiger Tage. Das erste Aufeinandertreffen mit ihr hinterließ bei Brentano einen tiefen Eindruck:
Ich fand in ihrem ganzen Wesen keine Spur von Spannung und Exaltation, eine reine Fröhlichkeit und unschuldigen Mutwill. Alles, was sie sagt, ist schnell, kurz, einfach, ganz schlicht, ohne breite Selbstgefälligkeit, aber voll Tiefe, voll Liebe, voll Leben und doch ganz ländlich, wie eine kluge, feine, frische, keusche, geprüfte, recht gesunde Seele.
Brentanos Faszination schlug sich in über 12 300 Seiten nieder, von denen er ungefähr 7000 selbst beschrieben hat und den Rest mit gesammelten Materialien füllte, zum Beispiel Schnittmuster zum Nähen und Pflanzen mit heilkundlichen Angaben Emmericks. Diese schiere Menge konnte Brentano zu Lebzeiten nicht mehr vollständig bewältigen. 1833 veröffentlichte er Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi, die Visionen Emmericks über die Passion, das zu seinem erfolgreichsten Werk werden sollte und »viele freuen – viele ärgern« werde, wie er schrieb. Das Leben der heiligen Jungfrau Maria konnte er noch bearbeiten, es erschien postum 1852.
Die Lehrjahre Jesu, die Emmerick drei Jahre lang täglich in chronologischer Reihenfolge schaute, und eine Biographie über die Seherin wurden in den Folgejahren von dem Redemptoristen Carl Erhard Schmöger fertiggestellt. Bis heute wird Brentano vorgeworfen, er habe die Visionen ausgeschmückt. Jedoch soll er im Anschluß an die Transkription seine Notizen Emmerick zur Korrektur vorgelesen haben. Diese resümierte, Brentano schreibe »dies nicht so aus sich, er hat die Gnade Gottes dazu. Es kann es kein Mensch als er, es ist, als sähe er es selbst.«
Emmericks Einfluß ist groß. Schon zu Lebzeiten wurde sie unter anderem von dem späteren Kardinal Melchior Diepenbrock, dem Priester und Pädagogen Bernhard Heinrich Overberg sowie den Dichtern Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg und Luise Hensel, die Brentano erfolglos verehrte, besucht. Für viele »war sie, die so viele Stunden bei Tag und Nacht vor den Stationsbildern des Leidensweges Christi und vor den Kreuzen am Wege gebetet hatte, nun selbst wie ein Kreuz am Wege geworden«, notierte Brentano. Laut Kaltenbrunner wurde sie über den deutschen Sprachraum hinaus von den Schriftstellern Ernest Hello, Paul Claudel, Joris-Karl Huysmans und Albert Béguin rezipiert.
Léon Bloy schrieb, er schätze die Schauungen Emmericks nach der Heiligen Schrift und der Nachfolge Christi am meisten. Sogar der Göttlichen Komödie Dantes ziehe er Emmericks Betrachtungen von Hölle, Fegefeuer und Himmel vor. Joseph Görres lobte die Berichte als »gewaltiges, religiöses Weltepos« und »das wunderbarste, reichste, umfassendste, tiefsinnigste und ergreifendste Gesicht, das sich irgend je in dieser Art mystischer Auffassungsweise gebildet, vor dem anschauenden Sinn heraufführt.« In diesem Sinne kann Anna Katharina Emmerick in einer Reihe mit den großen deutschen Mystikerinnen des Mittelalters wie Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und Gertrud von Helfta genannt werden. Ihr Lebensende kündigte sich durch zunehmende Schmerzen und häufigere und längere Entrückungen an. Sie starb am 9. Februar 1824. Sie vollendete »den brünstigen und kühnen Brückenschlag zur jenseitigen Welt« (Werner Bergengruen), den sie mit ihren Leiden und Visionen begonnen hatte.