Vor 200 Jahren starb Anna Katharina Emmerick

PDF der Druckausgabe aus Sezession 121/ August 2024

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von Moritz Scholtysik –

Ver­gli­chen mit den Ereig­nis­sen ihrer Zeit, war das kur­ze Leben der Anna Katha­ri­na Emme­rick unschein­bar. Den­noch war es ein Zei­chen des Wider­spruchs: Die Bau­ern­toch­ter, die nur vier Mona­te die Schu­le besucht hat­te, ver­kör­per­te die damals bekämpf­te Volks­fröm­mig­keit. Die his­to­risch-kri­ti­sche Jesus­for­schung ver­such­te, die Got­tes­sohn­schaft zu zer­le­gen, Pas­si­ons­spie­le und Pro­zes­sio­nen wur­den man­cher­orts ver­bo­ten sowie Klös­ter aufgehoben.

Dem­ge­gen­über stand Emme­rick mit ihren anschau­li­chen Visio­nen vom Leben und Ster­ben Jesu, ihren Lei­den und Ver­wun­dun­gen und ihrer Für­sor­ge für die Armen. Von den Besu­chen bei Emme­rick geprägt, sag­te des­halb der spä­te­re Regens­bur­ger Bischof ­Johann Micha­el Sailer:

Mögen Ande­re Jesum auf der Kan­zel reden las­sen, als wenn er bei Wolff in Hal­le oder bei Kant in Königs­berg, oder bei Fich­te in Jena phi­lo­so­phi­schen Kurs mit­ge­macht hät­te: ich will Ihn vor mei­nem Vol­ke reden las­sen, was ihm die alten Evan­ge­li­en und Apos­tel in den Mund legen.

Aber selbst Albert Schweit­zer, der von Emme­ricks Visio­nen als »nai­ven Aus­ma­lun­gen und Erfin­dun­gen« sprach, sah dar­in »etwas Ergrei­fen­des«, das man »nicht ohne eine gewis­se Ehr­furcht in den Hän­den hal­ten« kön­ne und David Fried­rich Strauß’ dekon­stru­ie­ren­des Leben Jesu »gründ­lich« widerlege.

Ihre spä­te­re Bedeu­tung war in Emme­ricks Kind­heit noch nicht abseh­bar. Sie wur­de wahr­schein­lich am 8. Sep­tem­ber 1774 als fünf­tes von neun Kin­dern armer Klein­bau­ern in der Bau­er­schaft Flam­schen in Coes­feld im Müns­ter­land gebo­ren. »Ann­th­rin­ken«, wie sie im Müns­ter­län­der Platt genannt wur­de, war ein »ech­tes Kind die­ses Lan­des«, so die Schrift­stel­le­rin Anna von Kra­ne. Ihre katho­lisch und von ver­streu­ten Höfen und klei­nen Sied­lun­gen gepräg­te Hei­mat ver­ließ sie nie. Dort soll es angeb­lich häu­fi­ger Men­schen gege­ben haben, die »in ahnungs­vol­len Gesich­ten das Kom­men­de vor­aus­se­hen« (Kra­ne).

Bei Emme­rick begann es mit dem Ver­gan­ge­nen: Bereits als klei­nes Kind soll sie die Geschich­ten des Alten Tes­ta­men­tes vor dem inne­ren Auge gese­hen und ihrem Vater mit topo­gra­phi­scher und his­to­ri­scher Genau­ig­keit beschrie­ben haben. Früh bil­de­ten sich bei ihr daher ein inten­si­ves reli­giö­ses Leben und eine star­ke Anteil­nah­me am Leid ihrer Nächs­ten aus. Mit zwölf Jah­ren ver­ließ sie ihr Eltern­haus, um bei einem Groß­bau­ern als Magd zu arbei­ten, was sie auf­grund ihrer schwa­chen Kon­sti­tu­ti­on nach drei Jah­ren auf­ge­ben muß­te. Sie ging für zwei Jah­re bei einer Nähe­rin zur Leh­re und zog anschlie­ßend zu einer ande­ren Nähe­rin nach Coes­feld. Mit 20 Jah­ren kehr­te sie zu ihren Eltern zurück, um in einem klei­nen Raum, den ihr Vater an den Kot­ten der Fami­lie ange­baut hat­te, zu leben und von dort aus als Wan­der­nä­he­rin im Umkreis zu arbeiten.

Nach eini­gen Jah­ren ent­schied sie sich – gegen den Wider­stand ihrer Eltern –, in ein Klos­ter ein­zu­tre­ten. Auf­grund ihrer häu­fi­gen Krank­hei­ten und ihrer spär­li­chen Mit­gift wur­de sie zunächst von den Klös­tern abge­wie­sen, bis sie 1802 in das Klos­ter Agne­ten­berg in Dül­men auf­ge­nom­men wur­de, nach­dem sie die drei vor­he­ri­gen Jah­re erneut als Magd gear­bei­tet hat­te. Im Jahr dar­auf leg­te sie ihre Pro­feß als Augus­ti­ner­chor­frau ab. Als sol­che leb­te sie unter zuneh­men­den Schmer­zen, Lungen‑, Magen- und Darm­er­kran­kun­gen sowie weit­ge­hen­der Ableh­nung ihrer Mit­schwes­tern bis 1811. Dann wur­de das Klos­ter im Zuge der Säku­la­ri­sa­ti­on auf­ge­ho­ben. Emme­rick arbei­te­te fort­an in Dül­men als Haus­häl­te­rin des fran­zö­si­schen Pries­ters Jean Mar­tin Lam­bert, der aus Frank­reich flie­hen muß­te, weil er sich gewei­gert hat­te, den Eid auf die revo­lu­tio­nä­re Zivil­ver­fas­sung des Kle­rus zu leisten.

Das Haus von Lam­bert soll­te Emme­rick aber kaum mehr ver­las­sen kön­nen. Bereits 1798 hat­te sie wäh­rend des Gebets in der Coes­fel­der Jesui­ten­kir­che eine Visi­on ereilt, bei der Chris­tus sie zwi­schen einem Blu­men­kranz und einer Dor­nen­kro­ne wäh­len ließ. Sie wähl­te letz­te­res als Sinn­bild dafür, für die Sün­den der Welt mit­lei­den zu wol­len, wor­auf­hin sich auf ihrer Stirn und ihren Schlä­fen Wun­den und Blut­ergüs­se bil­de­ten, einem Abdruck der Dor­nen­kro­ne gleich. Im Lau­fe des Jah­res 1812 tra­ten nun Wun­den an Hän­den, Füßen und an der Sei­te sowie drei Wun­den in Kreu­zes­form auf der Brust hin­zu. Das mitt­le­re der drei Kreu­ze hat­te die Form eines Gabel­kreu­zes, ganz wie das Coes­fel­der Kreuz aus dem 14. Jahr­hun­dert, vor dem Emme­rick häu­fig in der Pfarr­kir­che St. Lam­ber­ti gebe­tet hatte.

Gegen den Wil­len Emme­ricks ver­brei­te­te sich die Nach­richt von ihren Stig­ma­ta über das Müns­ter­land hin­aus. Die öffent­li­che Kon­tro­ver­se führ­te zu einer Rei­he von Unter­su­chun­gen. Zuerst durch den Kreis­arzt Franz Wil­helm Wese­ner, der anfäng­lich von Betrug aus­ging, die­se Hal­tung nach sei­nen Behand­lun­gen jedoch revi­dier­te, sie für meh­re­re Jah­re ärzt­lich ver­sorg­te und dar­über Tage­buch führ­te und bezeug­te, daß sie außer der Eucha­ris­tie kei­ne fes­te Nah­rung mehr zu sich nahm. Eben­so kam die ärzt­li­che Unter­su­chungs­kom­mis­si­on des Müns­te­ra­ner Gene­ral­vi­kars Cle­mens August Dros­te zu Vische­ring zu dem Ergeb­nis, daß die Wun­den nicht künst­lich her­bei­ge­führt wor­den waren. Ganz anders fiel das Fazit der Ärz­te aus, die sie 1819 drei Wochen lang im Auf­trag der preu­ßi­schen Regie­rung unter­such­ten. Die­sem Bericht zufol­ge sol­len die Stig­ma­ta vor­sätz­lich selbst her­bei­ge­führt wor­den und daher kei­nes über­na­tür­li­chen Ursprungs gewe­sen sein. Die zum Teil gewalt­sa­men Metho­den der Ärz­te wur­den jedoch in einer spä­te­ren hit­zi­gen Debat­te in Zei­tun­gen scharf kri­ti­siert. Der Fall Emme­rick nahm somit auf regio­na­ler Ebe­ne den spä­te­ren preu­ßisch-katho­li­schen Kul­tur­kampf vorweg.

Ein ein­schnei­den­des Erleb­nis im Leben ­Emme­ricks war die Begeg­nung mit Cle­mens Bren­ta­no, die Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ner als »kein lite­ra­tur­ge­schicht­li­ches, son­dern ein äoni­sches Ereig­nis« beschrieb. Der Schrift­stel­ler und Dich­ter besuch­te Emme­rick erst­mals am 24. Sep­tem­ber 1818 an ihrem Kran­ken­bett, an dem er die fol­gen­den sechs Jah­re bis zu ihrem Tod sehr häu­fig sit­zen soll­te, um ihre Visio­nen zu tran­skri­bie­ren. In die­sen durch­leb­te Emme­rick das gesam­te Kir­chen­jahr mit sei­nen Fes­ten und deren Ursprün­gen in der Bibel oder im Leben der Hei­li­gen. Auch sah sie zeit­lich par­al­le­le kirch­li­che Ereig­nis­se mit den Päps­ten Pius VII. und Leo XII. und pro­phe­zei­te die Kir­chen­kri­se heu­ti­ger Tage. Das ers­te Auf­ein­an­der­tref­fen mit ihr hin­ter­ließ bei Bren­ta­no einen tie­fen Eindruck:

Ich fand in ihrem gan­zen Wesen kei­ne Spur von Span­nung und Exal­ta­ti­on, eine rei­ne Fröh­lich­keit und unschul­di­gen Mut­will. Alles, was sie sagt, ist schnell, kurz, ein­fach, ganz schlicht, ohne brei­te Selbst­ge­fäl­lig­keit, aber voll Tie­fe, voll Lie­be, voll Leben und doch ganz länd­lich, wie eine klu­ge, fei­ne, fri­sche, keu­sche, geprüf­te, recht gesun­de Seele.

Bren­ta­nos Fas­zi­na­ti­on schlug sich in über 12 300 Sei­ten nie­der, von denen er unge­fähr 7000 selbst beschrie­ben hat und den Rest mit gesam­mel­ten Mate­ria­li­en füll­te, zum Bei­spiel Schnitt­mus­ter zum Nähen und Pflan­zen mit heil­kund­li­chen Anga­ben ­Emme­ricks. Die­se schie­re Men­ge konn­te Bren­ta­no zu Leb­zei­ten nicht mehr voll­stän­dig bewäl­ti­gen. 1833 ver­öf­fent­lich­te er Das bit­te­re Lei­den unsers Herrn Jesu Chris­ti, die Visio­nen Emme­ricks über die Pas­si­on, das zu sei­nem erfolg­reichs­ten Werk wer­den soll­te und »vie­le freu­en – vie­le ärgern« wer­de, wie er schrieb. Das Leben der hei­li­gen Jung­frau Maria konn­te er noch bear­bei­ten, es erschien pos­tum 1852.

Die Lehr­jah­re Jesu, die Emme­rick drei Jah­re lang täg­lich in chro­no­lo­gi­scher Rei­hen­fol­ge schau­te, und eine Bio­gra­phie über die Sehe­rin wur­den in den Fol­ge­jah­ren von dem Redemp­to­ris­ten Carl ­Erhard Schmö­ger fer­tig­ge­stellt. Bis heu­te wird Bren­ta­no vor­ge­wor­fen, er habe die Visio­nen aus­ge­schmückt. Jedoch soll er im Anschluß an die Tran­skrip­ti­on sei­ne Noti­zen Emme­rick zur Kor­rek­tur vor­ge­le­sen haben. Die­se resü­mier­te, Bren­ta­no schrei­be »dies nicht so aus sich, er hat die Gna­de Got­tes dazu. Es kann es kein Mensch als er, es ist, als sähe er es selbst.«

Emme­ricks Ein­fluß ist groß. Schon zu Leb­zei­ten wur­de sie unter ande­rem von dem spä­te­ren Kar­di­nal Mel­chi­or Diepen­b­rock, dem Pries­ter und Päd­ago­gen Bern­hard Hein­rich Over­berg sowie den Dich­tern Fried­rich Leo­pold zu Stol­berg-Stol­berg und Lui­se Hen­sel, die Bren­ta­no erfolg­los ver­ehr­te, besucht. Für vie­le »war sie, die so vie­le Stun­den bei Tag und Nacht vor den Sta­ti­ons­bil­dern des Lei­dens­we­ges Chris­ti und vor den Kreu­zen am Wege gebe­tet hat­te, nun selbst wie ein Kreuz am Wege gewor­den«, notier­te Bren­ta­no. Laut Kal­ten­brun­ner wur­de sie über den deut­schen Sprach­raum hin­aus von den Schrift­stel­lern Ernest Hel­lo, Paul Clau­del, Jor­is-Karl Huys­mans und Albert Bégu­in rezipiert.

Léon Bloy schrieb, er schät­ze die Schau­un­gen Emme­ricks nach der Hei­li­gen Schrift und der Nach­fol­ge Chris­ti am meis­ten. Sogar der Gött­li­chen Komö­die Dan­tes zie­he er Emme­ricks Betrach­tun­gen von Höl­le, Fege­feu­er und Him­mel vor. Joseph Gör­res lob­te die Berich­te als »gewal­ti­ges, reli­giö­ses Wel­t­epos« und »das wun­der­bars­te, reichs­te, umfas­sends­te, tief­sin­nigs­te und ergrei­fends­te Gesicht, das sich irgend je in die­ser Art mys­ti­scher Auf­fas­sungs­wei­se gebil­det, vor dem anschau­en­den Sinn her­auf­führt.« In die­sem Sin­ne kann Anna Katha­ri­na Emme­rick in einer Rei­he mit den gro­ßen deut­schen Mys­ti­ke­rin­nen des Mit­tel­al­ters wie Hil­de­gard von Bin­gen, Mecht­hild von Mag­de­burg und Ger­trud von Helfta genannt wer­den. Ihr Lebens­en­de kün­dig­te sich durch zuneh­men­de Schmer­zen und häu­fi­ge­re und län­ge­re Ent­rü­ckun­gen an. Sie starb am 9. Febru­ar 1824. Sie voll­ende­te »den brüns­ti­gen und küh­nen Brü­cken­schlag zur jen­sei­ti­gen Welt« (Wer­ner Ber­gen­gruen), den sie mit ihren Lei­den und Visio­nen begon­nen hatte.

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