Man kann mit dem Auto in eine Tiefgarage fahren, sitzt ab und gelangt durch Drehtüren in eine geheizte Kleinstadt, in der Rolltreppen Etagen erschließen. Vom höchstpreisigen Konsum bis zum Supermarkt ist alles vorhanden, und zwischen den Geschäften stehen Stände mit Snacks, Süßkram und Tinnef, aufgebockte Luxuskarossen aus China, Tresen von Vertragsjägern, und – durch alle Gebäudeebenen aufgerichtet – plätschern Fische durch ein riesiges Röhrenaquarium.
Man weiß sowieso, daß der Kapitalismus eine Hure ist, eine spiegelnde Oberfläche, die dem, der schaut, auf die jeweils gefällige Weise zuzwinkert. So ist es auch dort. Denn zwar gibt es Sanktionen, und natürlich spielen die großen Konzerne und Marken in Deutschland und der „westlichen Welt“ auf der Moralflöte das Lied vom bösen Rußland.
Aber Hugo Boss und Karl Lagerfeld sind in der Moskauer Passage ebenso vertreten wie Apple („re:store“) und Starbucks („starscoffee“) – importiert über China oder Kasachstan oder woher auch immer, und in keinem dieser Läden hängt irgendeine Regenbogenfahne oder eine aus der Ukraine, und keine Ladenfläche steht leer, weil da jemand das Geschäft mit „dem Feind“ nicht mehr machen wollte.
Ich kaufte etwas Schokolade und ein paar Nüsse für die Rückreise, denn nach dem Gang durch diesen überdachten Tempel gings zum Flughafen und über Belgrad zurück. Aber dieses Abschlendern von Geschäften, Fülle, Embargo-Umgehung, globaler Normalität bestätigte mir noch einmal, worin ich mit den interessierten Gesprächspartnern in Moskau (auch in Moskau!) einer Meinung war – und bin:
Es geht weltweit nicht mehr um Systemalternativen, nicht einmal in China, und in Rußland schon gar nicht. Insofern sind wir nach 1990 durchaus in eine Art Ende der Geschichte eingemündet, haben eine Art „Delta“ erreicht (um eine Vokabel Sloterdijks anzubringen). Es geht, egal wohin wir blicken, darum, Massengesellschaft (und das bedeutet immer: Massenkonsum samt Vorspiegelung und Ermöglichung von „Individualismus“) zu organisieren. Das hat Arnold Gehlen schon vor Jahrzehnten prognostiziert, als er sinngemäß sagte, die Zweckbeschreibung für das moderne Gemeinwesen laute, für immer mehr Menschen immer mehr Konsum zu gewährleisten.
So ist es, und es gelingt funktionaler hier, es mißlingt dysfunktionaler dort, mal sieht es parlamentarisch-demokratisch aus, mal illiberal, autoritär-demokratisch, technokratisch – und überall ist eine wachsende post-demokratischer Ungeduld zu spüren: Wahlen stören, Akklamation könnte doch reichen, und Moral, Beschränkung, Prinzipien und Askese sind Maßstäbe, deren Anwendung wie ein antiquiertes Spiel wirkt.
Es gab in der Diskussion, die sich an einen vor kleinerem Kreis gehaltenen, politischen Vortrag anschloß, keinen Widerspruch gegen diese Grundannahme. Man verwies auf strategische Statements aus dem Waldai-Klub, der erst Anfang Oktober seine Jahrestagung absolviert hat.
Man geht dort von nationalen Ordnungsversuchen in einer chaotischen Welt aus, in der revolutionäre Vorhaben unkalkulierbar geworden seien und keinerlei Strahlkraft mehr entwickeln könnten. Das Risiko einer chaotischen gesellschaftlichen Umbruchphase sei zu hoch, der Wettbewerbsnachteil wäre so immens, daß alles, was den Grundprinzipen globalen Wirtschaftens ans Leder wolle, in den Bereich politischer Romantik abgedrängt werde und ans Verschrobene grenze.
Mit anderen Worten: Es geht um Ressourcensicherung, um die Moderation innergesellschaftlicher Spannungen, um eine Art nationaler Fitneß im Wettbewerb mit der Konkurrenz. Ich nannte es die „Verbesserung der erreichten Normalität“ – und verwies auf den Sonderfall Deutschland, in dem es um die zunächst grundsätzliche Wiederherstellung einer solchen Normalität überhaupt gehe.
Diese entschiedene Scheidung von unzeitgemäßer theoretischer Systemkritik und drängender praktischer Systemreparatur war für die Zuhörer und Gesprächspartner wichtig. Ihnen ging es um die realistische Einschätzung jener Aufgabe, der sich eine regierende AfD annehmen würde. Man stimmte darin überein, daß diese Wiedergewinnung der Normalität für Deutschland bereits eine Art revolutionärer Akt sei und daß die Widerstände dagegen unter anderem aufgrund der verbalen Interventionen der USA bröckelten.
Das war für die Russen ein resignativer Moment: Man machte sich keinerlei Illusionen darüber, daß diese Unterstützung der Opposition durch Aussagen wie die von Vizepräsident Vance im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz die AfD eng an die USA binden könnte und daß eine deutsche Äquidistanz zwischen West und Ost, eine Mittellage und Mittlerposition, damit noch schwieriger würde.
Man hat in Moskau die Auseinandersetzung zwischen Weidel und Chrupalla natürlich wahrgenommen und schätzt den Westkurs, den Kurs eines „gesünderen US-Vasallen“, als den naheliegenden ein. Themen wie NATO- oder EU-Austritt spielten überhaupt keine Rolle in den Gesprächen (sie spielen ja auch für uns keine), und auch das war und ist ein Zeichen für radikal realpolitisches Denken: Niemand schwelgte in großen Würfen und unrealistischen geopolitischen Bildern – es ging letztlich darum, Möglichkeiten zu erörtern, wie ein weiteres Auseinanderdriftens von Deutschland und Rußland verhindert werden könnte.
In den Gesprächen spielte auch der Zwang der Lage eine große Rolle: Konnte eine Macht wie Rußland weiterhin zusehen, wie in der Ukraine nicht nur ein Regime Change durchgeführt worden war, sondern eine Positionierung gegen Moskau erfolgte? Konnte man den ungeteilten westliche Zugriff auf die Ressourcen zulassen? Und was sollte mit den Russen in den ostwärtigen Oblasten geschehen?
Schon der Politikwissenschaftler Hauke Ritz hat in seinem Buch Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas auf den seltsamen Umstand hingewiesen, daß man jeden Handtaschenräuber zum Opfer der Verhältnisse zu erklären bereit sei, während man Putin so etwas wie eine Möglichkeit zur freien Entscheidung über Krieg oder Nicht-Krieg zuspreche. Dabei sei es gerade umgekehrt: Der Räuber könne entscheiden, die nächste Handtasche nicht zu stehlen, aber der Präsident einer Großmacht habe nach den Gesetzen und Notwendigkeiten einer Großmacht zu agieren – und die us-geführten Angriffskriege der letzten Jahrzehnte seien dafür nur eines von vielen historischen und aktuellen Beispielen.
Auffallend war, daß kein einziger meiner Gesprächspartner in Moskau sich an den USA abarbeitete oder mit nationaler Begeisterung über den Krieg in der Ukraine sprach. Einige äußerten, man hätte dieses Unternehmen deutlich begrenzt angehen müssen, Kiew Kiew sein lassen, aber die vier Oblaste rasch besetzen sollen. Alle waren der Meinung, daß die Erfahrungen im digitalen Gefechtsfeld verheerende Erkenntnisse für den Faktor Mensch im modernen Krieg erbracht hätten und daß der Kampf unter der unausgesetzten, surrenden Gegenwart von Drohne, Kamera, Bewegungsbild und insektenhafter Präzision ein Grauen neuer Qualität erzeugt habe.
Mein Gastgeber Filipp Fomitschow wies mich auf etwas hin, das in Moskau doch an die Front erinnerte: Aufrufe, sich freiwillig zu melden, wechselten auf riesigen Werbebildschirmen mit Werbungen für Autos, Baumärkte und Lieferdienste. Und diese Freiwilligenmeldung, die den Bedarf noch immer deckt und harte Rekrutierung verhindert, ist finanziell so lukrativ, daß dies eine mögliche nationale Motivation mindestens überlagert.
So schätzte das Fomitschow ein, und er fügte hinzu, daß man deshalb von einem totalen Krieg und von Heimatfront und Kriegswirtschaft ehrlicherweise nicht sprechen könne. Das, was in der Ukraine geschehe, sei eine Operation mit kalkulierbarer Ressource, und eine Ausweitung würde zu Konsequenzen im Innern führen, an denen niemand ein Interesse habe.
Aber sei es nicht für späteren politischen Einfluß sinnvoll und Voraussetzung, dem Vaterland im Kriege gedient und sich nicht außen vor gehalten zu haben? Ein Lächeln, und der Hinweis, ich hätte doch gerade erst von der bestenfalls ungestört vor sich hintuckernden Massengesellschaft gesprochen. Dieser Krieg sei eine vom modernen Moskauer Leben abgekoppelte Sache, wie zurecht beobachtet: im Alltag nicht spürbar, nur an den Rändern, nur dort, wo einer gefallen sei, den man kannte, und wenn man mit Leuten zu tun hätte, die lebend aus der Todeszone des Drohnenkriegs herausfanden und seither ein wenig seltsam seien.
Das alles, das war Konsens unter allen, mit denen ich sprach, müsse so rasch wie möglich ein Ende haben. Die Notwendigkeit einer Westorientierung Rußlands sei so offenkundig, daß die ganze eurasische Theorie nichts weiter sei als ein wiederum romantischer Gedanke an riesige Räume und Potentiale. Die engste Verzahnung von Wissen, Produktion, Organisation entstehe nicht aus Steppen, sondern nach europäischen Vorzeichen und Gesetzen, siehe Moskau, und wer Sankt Petersburg europäisch und Moskau halbasiatisch nenne, habe von Rußland nichts begriffen.
(So sagte es einer, mit dem ich nach dem internen Vortrag lange sprach und den ich durch Straßenzüge begleitete. Und während er es sagte, hielt er sein Gesicht in die Kamera an der Kasse eines Tante-Emma-Ladens, um mit Face Pay zu bezahlen und sich sozusagen durch die Haut gleich noch die Bonuspunkte und die nächsten Rabatte notieren zu lassen.)
Zu berichten bleibt zuletzt noch von der Antwort auf die Frage, ob der deutsche Verteidigungsminister Pistorius es ernst meine, wenn er sage, man müsse davon ausgehen, daß Rußland 2029 die Nato angreifen könne. Der Gesprächspartner, ein Experte für Außenpolitik, stellte diese Frage mit einem Lächeln und signalisierte damit, daß er eine Erörterung dieses Themas für etwas halte, das unter unserem Niveau sei. Bloß abhaken wollte er es offensichtlich – und eine viel interessantere Frage hinterherschieben: ob solche Drohszenarien als Großerzählung etwas austragen könnten hinsichtlich Aufrüstung und Wehrbereitschaft.
Das ist ein interessanter Punkt: Bedrohungserzählungen dienen nicht nur dazu, Wachsamkeit zu schärfen und Vorsorge zu legitimieren. Sie können auch zum Schulterschluß derer führen, die sich bedroht sehen sollen. Jedoch muß diese Erzählung auf erfahrbarer Grundlage stehen, und diese Grundlage fehlt meines Erachtens nach. Denn das brutale Szenario aus dem Donbass kann nicht auf eine mögliche Front in Litauen oder Polen und schon gar nicht in Deutschland übertragen werden. Denn diese Intensität, die dennoch nicht zu einem Durchbruch führte, kann auch eine Großmacht wie Rußland nicht wieder und wieder darstellen.
Es entspann sich ein längeres Gespräch über diese Aspekte, in das sich erste Bewertungen des 28-Punkte-Friedensplans mischten. Dieses Gespräch ist bis heute nicht abgerissen, und damit ist ein Zweck der Reise nach Moskau erfüllt: Es gibt nun Gesprächsfäden, die nicht unter der erstbesten Belastung reißen werden. Das ist denkbar wenig und zugleich sehr viel. Wie nämlich soll es sonst gehen?



