Um die drohende Internationalisierung abzuwenden, besetzte Gabriele D’Annunzio, ein Dichter und Lebenskünstler, mit ein paar tausend Mann die Stadt. Damit begann etwas, das Ernst Nolte die „eindrucksvollste und zukunftsreichste Komödie” der Weltgeschichte genannt hat.
In zeitgenössischen Berichten wird das Ganze als eine wilde Mischung aus Massenbegeisterung, Orgie, Gewalt und dem Versuch, einen futuristischen Staat zu schaffen, beschrieben. Nach einem Jahr war die Party vorbei, die bis heute im Verdacht steht, Mussolini wichtige Anregungen gegeben zu haben. Der Radiomoderator und Schriftsteller Dirk Stermann hat daraus einen Roman gemacht, in dem dieser irren Geschichte die naheliegenden Protagonisten an die Seite gestellt werden: überwiegend harmlose Irre, die aus den Anstalten Italiens nach Fiume gebracht werden, um dort Minister zu werden.
Die Hauptperson ist ein Pfleger, der einen der (weniger harmlosen) Irren begleitet und in Fiume nicht nur Zeuge der chaotischen Umstände wird, sondern auch mit D‘Annunzio und vor allem dem legendären Baron Keller Bekanntschaft schließt, der sich in Yoga und Freikörperkultur übt. Amüsant zu lesen; und im Hinblick auf die eigentümliche Verbindung von Psychologie der Massen und Esoterik erhellend.
Dirk Stermann: Die Republik der Irren. Roman, Hamburg: Rowohlt 2025, 302 Seiten, 25 Euro – hier bestellen.
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Lernen – Es ist bemerkenswert, daß sich jemand die Behauptung von Walther Rathenau zu eigen macht, daß es dreihundert Männer seien, die über die Geschicke der Wirtschaft Europas (und damit ja deutlich mehr) bestimmen würden und die sich alle untereinander kennen. Bemerkenswert deshalb, weil so eine Machtballung ja für gewöhnlich als ein untrügliches Zeichen vordemokratischer Zeiten gesehen wird.

Richter geht es aber um die Deutschland AG, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, und nach dem Gründerkrach von 1873 eine enge Bindung mit dem preußisch-deutschen Staat einging, lange zum Segen aller Beteiligten. Das Ganze beginnt mit Siemens und Krupp, als technische Innovation und Unternehmertum eine enge Bindung eingingen, und endet in den 1990er Jahren, als die meisten deutschen Konzerne in ausländische Hände gelangten. Damit, das schwingt zumindest implizit mit, ist auch die Möglichkeit abhanden gekommen, nationale Interessen mit der deutschen Wirtschaft zu verfolgen.
Richter erzählt das alles im Stil von Florian Illies, als eine Abfolge von Einzelbeobachtungen, die zusammen wiederum ein Mosaik ergeben, die wiederrum das gewünschte Bild erzeugen. Das erspart dem Autor manche umfangreiche Herleitung; er setzt auf den Leser. Als deutsche Wirtschaftsgeschichte bietet das Buch für Laien einen luziden Überblick über das Jahrhundert der Deutschen.
Konstantin Richter: Dreihundert Männer. Aufstieg und Fall der Deutschland AG, Berlin: Suhrkamp 2025, 543 Seiten, 30 Euro – hier bestellen.
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Schauen – Hinter dem etwas bemüht anspielungsreichen Titel verbirgt sich keine Genealogie der Gruftis, sondern ein Ausstellungskatalog, ein echter Augenöffner. Es geht um die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Kunst durch die Moderne im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Namen Munch, Beckmann und Kollwitz stehen dabei nur stellvertretend für eine ganze Reihe anderer, zum Teil weniger bekannter, aber nicht weniger hervorragender Künstler.

Im Gegensatz zum Historismus ging es nicht um Nachahmung, sondern um die eigentliche ästhetische Qualität der mittelalterlichen Kunst, die als Anregung genutzt wurde, um den Gefühlslagen des modernen Menschen einen eigenen Ausdruck zu verleihen, die sich grundsätzlich nicht von denen des Mittelalters unterschieden: Es geht um Liebe, Tod, Schmerz und Glück. Selbst bei so engagierten Künstlern wie Kollwitz, deren Elendsgestalten nicht jedem gefallen, wird deutlich, wie stark, besonders bei den bekannten Zyklen, die Gotik mit ihren religiösen Themen nachgewirkt hat.
Die finnische Kunst ist mit zahlreichen Stücken vertreten, die mittlerweile als Ikonen des Symbolismus gelten dürfen. So stark das ästhetische Erlebnis dieses Bandes ist, so tapfer muß man bei den Texten sein. Nicht weil sie schlecht wären, sondern weil sie konsequent das generische Maskulinum zugunsten zeitgeistiger Konstruktionen vermeiden. Den Bildern kann das glücklicherweise nichts anhaben.
Ralph Gleis (Hrsg.): Gothic modern. Munch, Beckmann, Kollwitz, München: Hirmer 2025, 292 Seiten, 49,90 Euro – hier bestellen.

Laurenz
Die Republik der Irren ... die haben ihren Laden jetzt bei uns aufgemacht. Ihre Buchvorschläge gefallen mir bisher am besten, Herr Dr. Lehnert.