Weihnachten – jetzt empfiehlt Lehnert!

Lesen - Italien hatte im Ersten Weltkrieg rechtzeitig die Seiten gewechselt, weil die Alliierten dafür territoriale Zugewinne in Aussicht gestellt hatten. Die Beute entsprach allerdings nicht den überspannten Erwartungen, gerade auf Fiume (heute das kroatische Rijeka) hatte man es abgesehen.

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Um die dro­hen­de Inter­na­tio­na­li­sie­rung abzu­wen­den, besetz­te Gabrie­le D’Annunzio, ein Dich­ter und Lebens­künst­ler, mit ein paar tau­send Mann die Stadt. Damit begann etwas, das Ernst Nol­te die „ein­drucks­volls­te und zukunfts­reichs­te Komö­die” der Welt­ge­schich­te genannt hat.

In zeit­ge­nös­si­schen Berich­ten wird das Gan­ze als eine wil­de Mischung aus Mas­sen­be­geis­te­rung, Orgie, Gewalt und dem Ver­such, einen futu­ris­ti­schen Staat zu schaf­fen, beschrie­ben. Nach einem Jahr war die Par­ty vor­bei, die bis heu­te im Ver­dacht steht, Mus­so­li­ni wich­ti­ge Anre­gun­gen gege­ben zu haben. Der Radio­mo­de­ra­tor und Schrift­stel­ler Dirk Ster­mann hat dar­aus einen Roman gemacht, in dem die­ser irren Geschich­te die nahe­lie­gen­den Prot­ago­nis­ten an die Sei­te gestellt wer­den: über­wie­gend harm­lo­se Irre, die aus den Anstal­ten Ita­li­ens nach Fiume gebracht wer­den, um dort Minis­ter zu werden.

Die Haupt­per­son ist ein Pfle­ger, der einen der (weni­ger harm­lo­sen) Irren beglei­tet und in Fiume nicht nur Zeu­ge der chao­ti­schen Umstän­de wird, son­dern auch mit D‘Annunzio und vor allem dem legen­dä­ren Baron Kel­ler Bekannt­schaft schließt, der sich in Yoga und Frei­kör­per­kul­tur übt. Amü­sant zu lesen; und im Hin­blick auf die eigen­tüm­li­che Ver­bin­dung von Psy­cho­lo­gie der Mas­sen und Eso­te­rik erhellend.

Dirk Ster­mann: Die Repu­blik der Irren. Roman, Ham­burg: Rowohlt 2025, 302 Sei­ten, 25 Euro – hier bestel­len.

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Ler­nen – Es ist bemer­kens­wert, daß sich jemand die Behaup­tung von Walt­her Rathen­au zu eigen macht, daß es drei­hun­dert Män­ner sei­en, die über die Geschi­cke der Wirt­schaft Euro­pas (und damit ja deut­lich mehr) bestim­men wür­den und die sich alle unter­ein­an­der ken­nen. Bemer­kens­wert des­halb, weil so eine Macht­bal­lung ja für gewöhn­lich als ein untrüg­li­ches Zei­chen vor­de­mo­kra­ti­scher Zei­ten gese­hen wird.

Wer so etwas für die Gegen­wart behaup­tet, hat schnell den Ruf eines Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kers weg. Kon­stan­tin Rich­ter, Buch­au­tor, macht in die­ser Hin­sicht aber kei­nen gro­ßen Unter­schied zwi­schen den Zei­ten und rich­tet sei­nen Blick bis nah an die Gegen­wart, in der der Ein­fluß Weni­ger, man den­ke nur Musk, offen­sicht­lich ist.

Rich­ter geht es aber um die Deutsch­land AG, die in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts ent­stand, und nach dem Grün­der­krach von 1873 eine enge Bin­dung mit dem preu­ßisch-deut­schen Staat ein­ging, lan­ge zum Segen aller Betei­lig­ten. Das Gan­ze beginnt mit Sie­mens und Krupp, als tech­ni­sche Inno­va­ti­on und Unter­neh­mer­tum eine enge Bin­dung ein­gin­gen, und endet in den 1990er Jah­ren, als die meis­ten deut­schen Kon­zer­ne in aus­län­di­sche Hän­de gelang­ten. Damit, das schwingt zumin­dest impli­zit mit, ist auch die Mög­lich­keit abhan­den gekom­men, natio­na­le Inter­es­sen mit der deut­schen Wirt­schaft zu verfolgen.

Rich­ter erzählt das alles im Stil von Flo­ri­an Illies, als eine Abfol­ge von Ein­zel­be­ob­ach­tun­gen, die zusam­men wie­der­um ein Mosa­ik erge­ben, die wie­der­rum das gewünsch­te Bild erzeu­gen. Das erspart dem Autor man­che umfang­rei­che Her­lei­tung; er setzt auf den Leser. Als deut­sche Wirt­schafts­ge­schich­te bie­tet das Buch für Lai­en einen luzi­den Über­blick über das Jahr­hun­dert der Deutschen.

Kon­stan­tin Rich­ter: Drei­hun­dert Män­ner. Auf­stieg und Fall der Deutsch­land AG, Ber­lin: Suhr­kamp 2025, 543 Sei­ten, 30 Euro – hier bestel­len.

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Schau­en – Hin­ter dem etwas bemüht anspie­lungs­rei­chen Titel ver­birgt sich kei­ne Genea­lo­gie der Gruf­tis, son­dern ein Aus­stel­lungs­ka­ta­log, ein ech­ter Augen­öff­ner. Es geht um die Wie­der­ent­de­ckung der mit­tel­al­ter­li­chen Kunst durch die Moder­ne im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert. Die Namen Munch, Beck­mann und Koll­witz ste­hen dabei nur stell­ver­tre­tend für eine gan­ze Rei­he ande­rer, zum Teil weni­ger bekann­ter, aber nicht weni­ger her­vor­ra­gen­der Künstler.

Mich jeden­falls hat die Aus­stel­lung in Wien so beein­druckt, daß ich mir den Kata­log gleich gekauft habe, was ich sonst nur sel­ten tue. Das hat vor allem mit eini­gen mir unbe­kann­ten Bil­dern, vor allem aber mit den Gegen­über­stel­lun­gen von Vor­bild und moder­nem Abbild zu tun. Die­se Anver­wand­lung der Gotik fand vor allem in den deutsch­spra­chi­gen und nor­di­schen Län­dern statt.

Im Gegen­satz zum His­to­ris­mus ging es nicht um Nach­ah­mung, son­dern um die eigent­li­che ästhe­ti­sche Qua­li­tät der mit­tel­al­ter­li­chen Kunst, die als Anre­gung genutzt wur­de, um den Gefühls­la­gen des moder­nen Men­schen einen eige­nen Aus­druck zu ver­lei­hen, die sich grund­sätz­lich nicht von denen des Mit­tel­al­ters unter­schie­den: Es geht um Lie­be, Tod, Schmerz und Glück. Selbst bei so enga­gier­ten Künst­lern wie Koll­witz, deren Elends­ge­stal­ten nicht jedem gefal­len, wird deut­lich, wie stark, beson­ders bei den bekann­ten Zyklen, die Gotik mit ihren reli­giö­sen The­men nach­ge­wirkt hat.

Die fin­ni­sche Kunst ist mit zahl­rei­chen Stü­cken ver­tre­ten, die mitt­ler­wei­le als Iko­nen des Sym­bo­lis­mus gel­ten dür­fen. So stark das ästhe­ti­sche Erleb­nis die­ses Ban­des ist, so tap­fer muß man bei den Tex­ten sein. Nicht weil sie schlecht wären, son­dern weil sie kon­se­quent das gene­ri­sche Mas­ku­li­num zuguns­ten zeit­geis­ti­ger Kon­struk­tio­nen ver­mei­den. Den Bil­dern kann das glück­li­cher­wei­se nichts anhaben.

Ralph Gleis (Hrsg.): Gothic modern. Munch, Beck­mann, Koll­witz, Mün­chen: Hirm­er 2025, 292 Sei­ten, 49,90 Euro – hier bestel­len.

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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Kommentare (3)

Laurenz

10. Dezember 2025 11:01

Die Republik der Irren ... die haben ihren Laden jetzt bei uns aufgemacht. Ihre Buchvorschläge gefallen mir bisher am besten, Herr Dr. Lehnert.

FraAimerich

10. Dezember 2025 11:42

"Will man die morsche Welt von gestern zerstören und eine strahlende neue erbauen, braucht es die Sprengkraft des Wahnsinns." (Stermann Klappentext) 
Klingt nach einem Heidenspaß für Eingeweihte! Danke für den Tipp.

Le Chasseur

10. Dezember 2025 12:08

"Amüsant zu lesen; und im Hinblick auf die eigentümliche Verbindung von Psychologie der Massen und Esoterik erhellend."
Hier die passende musikalische Untermalung dazu:
Di nuovo in armi
Muri d’Assenzio