Wechselstimmung?

Was bislang nicht zu hoffen war und jetzt beinahe zu fürchten ist:

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Die Ber­li­ner Repu­blik scheint einer poli­ti­schen Wen­de unaus­weich­lich entgegenzutreiben.

Um ein­mal vom irrever­si­blen Finanz­de­sas­ter der Höchst­ver­schul­dung abzu­se­hen, eben­so wie von der Pro­gno­se, daß der Sozi­al­staat spä­tes­tens in den Drei­ßi­gern den Bun­des­haus­halt spren­gen wird, hier drei Aspek­te, die eine prin­zi­pi­el­le Ände­rung ahnen las­sen. Min­des­tens dürf­te eine evo­lu­tio­när ver­lau­fen­de Reform unwahr­schein­lich sein.

1. Ideell – Die Begrif­fe der offi­zi­el­len Sprach­re­ge­lun­gen stim­men nicht mehr; eine kla­re Seman­tik offe­ner Rede ging ver­lo­ren. Eben­so wie in der End-DDR sind genau jene Phra­sen hohl, die bis zur Pene­tranz all­ge­gen­wär­tig wie­der­holt werden:

„Tole­ranz“ und „Respekt“, per­ma­nent beschwo­ren, gel­ten abstru­ser­wei­se nur für jene, zwi­schen denen ohne­hin Kon­sens besteht, also für die „lau­ten“ Wir-sind-mehr-Demo­kra­ten, die mit dem sta­tus quo iden­ti­fi­ziert sind und vor­zugs­wei­se ihre Pri­vi­le­gi­en im auf­ge­bläh­ten öffent­li­chen Dienst oder in „NGOs“ genie­ßen, bei denen es sich eher um staat­lich ali­men­tier­te Pro­pa­gan­da-Ver­ei­ne han­delt, die sich euphe­mis­tisch zur „Zivil­ge­sell­schaft“ zählen.

Zwi­schen Block­freun­den, Über­ein­stim­mern und Beken­nern bedarf es kei­ner Tole­ranz, ihrer bedür­fen um so mehr jene Kri­ti­ker, die aller­dings nicht mehr als anre­gen­de Oppo­nen­ten, son­dern direkt als Fein­de gel­ten. „Demo­kra­tie“ selbst fun­giert ver­kürzt als Titel für kri­tik­lo­se Anpas­sung. Wer sich dar­auf nicht umstands­los zurich­ten lässt, gilt mitt­ler­wei­le schnell als Geg­ner – irrer­wei­se der Demokratie.

„Viel­falt“ indes­sen kommt in begriff­li­cher Ver­en­gung nur­mehr Rele­vanz im Sin­ne eines sexu­el­len Spek­trums zu. Geschlech­ter­fra­gen avan­cier­ten – neben Ernäh­rungs­the­men – zur Haupt­sa­che eines Rest-Dis­kur­ses, bei dem es vor allem um echauf­fier­te Bekennt­nis­se geht. Mehr als alles ande­re begrei­fe man sich als „que­er“ oder „non­bi­när“, min­des­tens als „vegan“, wenn man als „auf­ge­klärt“ oder bes­ser noch als „woke“ gel­ten will.

Jeden­falls ver­steht sich „Viel­falt“ längst nicht mehr als ein Plu­ra­lis­mus diver­ser oder gar kon­trä­rer Posi­tio­nen, auf die Men­schen kraft Erkennt­nis, Erfah­rung oder Urteils­ver­mö­gen gelang­ten; erwar­tet wird statt­des­sen das mög­lichst kon­for­mis­ti­sche Gelöb­nis, folg­sam abge­lei­tet von den Maß­ga­ben der staat­lich bestimm­ten Deutungsbehörden.

„Bekennt­nis zur Demo­kra­tie“ ver­steht sich neu­er­dings also kurz­schlüs­sig als Treue­be­kennt­nis zur Ber­li­ner Repu­blik in ihrer gegen­wär­ti­gen Ver­faßt­heit. Kri­tik, ins­be­son­de­re prin­zi­pi­el­le zu bestimm­ten Berei­chen, gilt als miß­li­e­big und macht verdächtig.

„Bil­dung“, gleich­falls ein dau­er­be­an­spruch­ter Segens­be­griff, meint gegen­wär­tig alles ande­re als das Bemü­hen um Wis­sen und Befä­hi­gung, schon gar nicht die Ver­tie­fung in ein Stu­di­um des­sen, was aus immer fer­ner lie­gen­den Quel­len unse­re euro­päi­sche Iden­ti­tät spei­sen mag, nein, „Bil­dung“ ver­steht sich redu­ziert als staat­li­ches Für­sor­ge- und Ser­vice­pro­gramm, das nicht mehr über Erkennt­nis­se, son­dern über nebu­lö­se „Kom­pe­ten­zen“ zur „Teil­ha­be“ befä­hi­gen soll, wäh­rend es einst wesent­lich um die Ent­wick­lung der Per­sön­lich­keit in Ergeb­nis von Stu­di­en und akti­vem Erle­ben ging.

Wer Bil­dung erwer­ben woll­te, wer über­haupt so weit kam, sich im Sin­ne der Idee vom eige­nen Selbst eine inne­re Berei­che­rung davon zu ver­spre­chen, der mach­te nicht zuerst „Bedar­fe“ gel­tend, son­dern streng­te sich aus eige­nen Moti­ven an und hat­te sich auf­klä­re­risch-kan­ti­a­nisch sei­nes „eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen“. Er sen­si­bi­li­sier­te sein Sen­so­ri­um, befä­hig­te sich mathe­ma­tisch und natur­wis­sen­schaft­lich und drang lesend in geis­tes­wis­sen­schaft­li­che und lite­ra­ri­sche Bestän­de vor. Das übri­gens wird gera­de in die KI „out­ges­ourct“.

Das latei­ni­sche stu­de­re bedeu­te­te ursprüng­lich, sich zu bemü­hen und anzu­stren­gen. Mit dem Ziel eben, sich dem Reich­tum wie den Fähr­nis­sen des Lebens gegen­über posi­tio­nie­ren zu kön­nen, ori­en­tiert zu sein und in Ergeb­nis auto­no­men Urteils­ver­mö­gens cou­ra­giert zu han­deln. Selbst „Cou­ra­ge“ wird jetzt wider­sin­nig als „Staats­an­ge­paßt­heit“ verstanden.

Bil­dung bedurf­te also der Neu­gier, des Enga­ge­ments, der Ver­tie­fung und Ver­in­ner­li­chung, sowie­so des Flei­ßes, der Gründ­lich­keit und Aus­dau­er; sie erschloß eine Welt­sicht jen­seits blo­ßen dümm­li­chen Mei­nens. Nicht zuletzt bedurf­te sie der Muße.

Heu­te soll „Bil­dung“ zuge­reicht wer­den. Eltern wie Schü­ler gehen davon aus, der Staat hät­te die blo­ße Anwe­sen­heit im „Ganz­tag“ und vor die poli­ti­sche Indok­tri­nie­rung in sei­nen Bil­dungs­an­stal­ten posi­tiv zu zer­ti­fi­zie­ren und immer neue För­der­pro­gram­me auf­zu­le­gen, eben weil immer weni­ger selbst­ver­ant­wort­lich zu han­deln ver­mö­gen und, schlim­mer noch, dies im Sin­ne eines ten­den­zi­ell vor­mund­schaft­li­chen Staa­tes offen­bar gar nicht mehr sol­len. Längst kommt Bekennt­nis wie­der vor Erkenntnis.

Völ­lig erle­digt hat sich der „Dis­kurs“. Lei­den­schaft­li­che Debat­ten­kul­tur, der Streit der Mei­nun­gen und Argu­men­te ist von der Demo­kra­tie­si­mu­la­ti­on eines weit­ge­hend leer­dre­hen­den par­la­men­ta­ri­schen Betrie­bes ersetzt, dem es gegen­wär­tig pri­mär um Abwehr der „Gefahr von rechts“ geht, im enge­ren Sin­ne also um den Aus­schluß der AfD von allen Ent­schei­dungs­be­fug­nis­sen. Man­dats­trä­ger der „demo­kra­ti­schen Par­tei­en“ agie­ren in der Legis­la­ti­ve so artig wie Exekutivbeamte.

Ob man sich nun als rechts ver­steht oder nicht: Kri­tik ist fast nur noch, qua­si sys­tem­be­dingt, von rechts mög­lich, inso­fern die gesam­te Staats­rä­son einem lin­ken Selbst­ver­ständ­nis folgt, was wie­der­um der – staats­tra­gen­den – Lin­ken gar nicht als ihr Pro­blem auf­fällt. Muß es auch nicht, ist sie doch längst Nutz­nie­ße­rin der Schrumpf­form des einst „bür­ger­li­chen Staates“.

2. Öko­no­mi­sche Potenz ist Geschich­te – Exem­pla­risch nur zu einem Indus­trie­zweig: Laut „Che­mie­agen­da 2045“ befin­det sich die Pro­duk­ti­on auf dem Tiefst­ni­veau seit drei­ßig Jah­ren. Die Anla­gen sind nur zu sieb­zig Pro­zent aus­ge­las­tet, arbei­ten also unter der Ren­ta­bi­li­täts­gren­ze. Zwan­zig Pro­zent der Fir­men erwä­gen eine Ver­la­ge­rung oder gar die Stil­le­gung, zehn Pro­zent die direk­te Schließung.

Die­se Stim­mung läßt sich auf ande­re Bran­chen über­tra­gen, abge­se­hen davon, daß Deutsch­land und Euro­pa im High­tech-Bereich der Computer‑, Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons- und KI-Indus­trie ledig­lich noch Kon­su­ment, kaum aber Pro­du­zent ist. Der Anschluß an Inn­no­va­ti­ons­kraft scheint in der Brei­te verloren.

Das wie­der­um kor­re­spon­diert damit, daß die „Bil­dung“ in Deutsch­land Berufs­schu­len und Lehr­be­trie­ben sowie den Hoch­schu­len immer weni­ger Absol­ven­ten über­gibt, die über aus­rei­chend Befä­hi­gung und Hal­tung ver­fü­gen.

3. Gesell­schaft­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stö­rung – Wesent­lichs­tes Anzei­chen einer gesell­schaft­li­chen Kri­se, ja einer qua­si revo­lu­tio­nä­ren Situa­ti­on ist eine immer unüber­wind­ba­rer erschei­nen­de Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stö­rung zwi­schen maß­geb­li­chen Grup­pen, die nicht mehr zu einem Kon­sens oder wenigs­tens zu einem Kom­pro­miß fin­den kön­nen, sich gegen­über ein­an­der ver­här­ten und die gefähr­li­che Pola­ri­sie­rung inner­halb der Gesell­schaft verstärken.

Von Staats wegen wird gegen­wär­tig vor allem ver­hin­dert, daß Anhän­ger der AfD gleich­be­rech­tigt in die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on ein­be­zo­gen werden.

Wider­wil­lig erträgt die Exe­ku­ti­ve sie zwar in der Legis­la­ti­ve, um der Demo­kra­tie rein de jure noch Gel­tung zu sichern, aber ansons­ten wird die Oppo­si­ti­on derb behindert:

Ver­un­glimp­fung, Kri­mi­na­li­sie­rung, Patho­lo­gi­sie­rung, min­des­tens aber Kar­rie­re­be­schä­di­gung, Berufs­ver­bot, Deban­king, weit­ge­hen­de Iso­la­ti­on – bis­her aller­dings mit dem Effekt, daß die Wider­stands­kraft gera­de im pro­pa­gan­dis­tisch for­cier­ten Gegen­wind auf­fal­lend reni­tent wächst, eine Wen­de also wahr­schein­li­cher erscheint, sogar ers­te Über­läu­fer aus­zu­ma­chen sind und der „wind of chan­ge“ spür­ba­rer wird.

Nichts jedoch regt die die Soli­da­ri­sie­rung der Aus­ge­schlos­se­nen unter­ein­an­der so an wie die Arro­ganz der sie Aus­schlie­ßen­den. Die Bor­niert­heit des poli­ti­schen Estab­lish­ments kränkt die AfD-Anhän­ger­schaft und läßt sie zusam­men­rü­cken, selbst wenn sie der pri­vi­le­gier­ter AfD-Pro­mi­nenz nicht kri­tik­los gegen­über­steht. Die hohen Zustim­mungs­ra­ten für die AfD und ihre kon­fron­ta­ti­ve Hal­tung spie­geln zuerst den Wider­wil­len gegen­über der Selbst­ge­rech­tig­keit der Regie­ren­den wider. Ein deut­lich antie­li­tä­rer Reflex.

Hin­zu kommt mal wie­der eine ost­deut­sche Beson­der­heit: Die DDRler der fünf­zi­ger, sech­zi­ger, sieb­zi­ger Geburts­jahr­gän­ge frus­trier­te nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung der Vor­trag der Bes­ser­wes­sis, sie, die Ossis, wären an sich beruf­lich nicht qua­li­fi­ziert genug. Nun hören sie, häu­fig von alt­lin­ken West­lern oder „erfah­re­nen Demo­kra­ten“, in der DDR Auf­ge­wach­se­ne wären per se poli­tisch unter­be­lich­tet bis ver­krüp­pelt und ver­stün­den die Demo­kra­tie noch immer nicht. Min­des­tens wüß­ten sie die nicht gebüh­rend zu wür­di­gen. Spül­te die ers­te Dis­kri­mi­nie­rungs­wel­le den Osten der PDS zu, so die jet­zi­ge der AfD.

Zurück zum Aus­gangs­punkt – Die Leu­te regis­trie­ren mit sen­si­bler Genau­ig­keit, daß die Phra­sen, die sie nach­spre­chen sol­len, nicht stim­men. Schon des­we­gen ver­wei­gern sie sich – zunächst in ihrem Den­ken, dann jedoch gleich­falls im Han­deln. Und han­deln kön­nen sie bis­lang spä­tes­tens im Wahl­akt. Und genau davor erstarrt gegen­wär­tig die Republik.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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Kommentare (2)

Artabanus

17. Dezember 2025 15:07

Der Anteil der mit dem System Unzufriedenen nimmt sicherlich immer weiter zu. Aber wie will man eine Wende bewerkstelligen? Eine absolute Mehrheit für die AFD bei Wahlen ist kaum erreichbar. Und wie bereits im Kommentarbereich zu Herrn Sellner gesagt, die EU und insbesondere die BRD steuert mit immer größerer Wahrscheinlich auf den Ausnahmezustand zu. Die Kriegsvorbereitungen laufen ja ganz offen vor unseren Augen ab. 

Majestyk

17. Dezember 2025 15:20

"Spülte die erste Diskriminierungswelle den Osten der PDS zu, so die jetzige der AfD."
Zum Teil sogar ein und denselben Wähler. Ob ich das so toll empfinde, weiß ich nicht.
Ich würde es mal so formulieren: Wer halbwegs in der Realität verankert ist, wählt, wenn er denn wählen geht, AfD. Ob die anderen bei zunehmendem wirtschaftlichen Druck wirklich aufhören, CDU oder SPD zu wählen, darf man zwar hoffen, darauf wetten würde ich nicht. Zumindest wäre ich beim Wetteinsatz zurückhaltend. Man darf auch nicht übersehen, etliche Millionen profitieren vom System so, wie es ist.