wieder, in die sie wegen eines seltsamen Mangels an Widerstandskraft geraten sind, obwohl ihnen zu jedem Zeitpunkt des Weges klar war, daß sie sich einem Abgrund nähern. Das Handeln ist von Ergebenheit in ihr Schicksal bestimmt. Dieses Schicksal wird als zugewiesen aufgefaßt, im Gegensatz zum amor fati jedoch passiv erduldet, nicht als Auftrag angenommen oder als Rolle ausgestaltet. Die Frage nach der Freiheit des Willens stellt sich von der Perspektive der Fliege aus, die im Spinnennetz hängt. Themen sind: das Leiden, das Hinein- und Hinabgezogenwerden, die Verstrickung, die Ausweglosigkeit und die Lähmung. Wenn Glaube hinzutritt, stellt sich die Frage nach der eigenen Schuld, die ihren Teil zum individuellen und allgemeinmenschlichen Versinken beigetragen hat. Dies ist die depressive Seite einer Theosophie, die alles von Gott, von einem Göttlichen herleitet und von der Fliege zumindest die Einsicht verlangt, daß der Faden, an dem sie klebt, nicht zufällig dort verlaufe. Heraklit hat diese Perspektive in ein anthropologisch illusionsloses Bild gekleidet: „Alles, was da kreucht, wird mit der Geißel zur Weide getrieben.“ Diese kraftvolle Übersetzung stammt von Horst Lange, der sich „geboren in einer verlorenen Zeit und in einem verlorenen Land“ sah und gegen das Verlorensein großartige Erzählungen und Romane setzte.
Horst Lange wurde 1904 in Liegnitz / Niederschlesien geboren. Sein Vater Ernst war Regimentsschreiber und Vizefeldwebel, seine Mutter Amalia Sophia eine gelernte Putzmacherin aus der Provinz Posen. Mit Blick auf die preußisch-protestantische Atmosphäre des Elternhauses und deren Abmilderung durch schlesische und – mütterlicherseits – katholische Einflüsse, spricht die neueste Literatur über Lange wieder von einem traditionellen Gegensatz zwischen westlicher und östlicher Kultur. Das ist viel, weil es die in der Wissenschaft so intensiv betriebene Emanzipation des Individuums von Herkunft und Landschaft abtropfen läßt. Östliche Duldungsfähigkeit und Passivität werden westlichem, vor allem preußischem Organisationswillen und Aktivismus gegenübergestellt. Solche Kategorien wirken – einmal für Lange geltend gemacht – über ihn hinaus, weil sie an sich und zu Recht dem Einfluß von Kultur, Elternhaus, Landschaft, Sprache eine größere Bedeutung zurückgeben.
Die Lyrikerin Oda Schaefer, Langes spätere Frau, schreibt in einem Lebensbild über ihren Mann: „Wie ein Zwang war es, das niederzuschreiben und festzuhalten, was ihn aus Quellen, Sümpfen und Flüssen der niederschlesischen Landschaft insgeheim gespeist hatte.“ Und Lange selbst sagt in einem Brief an Alfred Kubin: „Ich konnte wieder einmal sehr klar erkennen, wie das eigentliche Urerlebnis, aus dem alles herkommt, was ich bisher gemacht habe, in einem einzigen und gar nicht einmal sehr weiträumigen Landschaftsbezirk wurzelt. Es war eine wäßrige und morastige Bruchgegend, in der ich meine Jugend verbrachte.“ Von solchen Aussagen her kann Oda Schaefer ganz undramatisch mitteilen, daß „Wasser eines seiner Elemente, das andere die Erde“ gewesen sei.
Die Landschaft spielt in Langes Werken die wichtige Rolle eines spiegelnden Hintergrunds. Den Ton der Bücher bestimmen – als regionale Siegel wahrgenommene – die niederschlesische Melancholie, die Erdschwere des Gemüts, die Vergeblichkeit der klaren Formgebung angesichts der amorphen Wasserlandschaft. Dies alles begünstigt die Willenlosigkeit, Trunksucht und Selbstaufgabe der Figuren Langes, jedoch läuft alles bewußt und in der ausgefeilten Selbstreflexion modern ab, theoretisch sozusagen auf der Höhe der Zeit: Lange schrieb seine Landschaftsromane in Berlin, gebrochen, aus der Sicht eines Wahlstädters, keinesfalls nostalgisch oder romantisierend.
In einem Text über Landschaftliche Dichtung, der in der Zeitschrift Der weiße Rabe, Jahrgang 1933, erschien, äußert sich Lange poetologisch und erhellt den Ton seiner eigenen Arbeiten: Er stellt dem rationalistischen Fortschrittsglauben, der gerade in der Weltwirtschaftskrise erneut und schwer erschüttert wurde, das gegenüber, was er vor dem Hintergrund auseinanderfallender Ordnungen in Politik und Gesellschaft als das einzig Beständige bezeichnet: Natur und Landschaft, zyklisch, ahistorisch, gleichgültig gegen die Dimensionen und Handlungszeiträume des Menschen, eben nicht linear und fortschrittlich und damit eben nicht der Gefahr eines Abrisses oder Zusammenbruchs ausgesetzt. Darin liegt Zuverlässigkeit. In der Gleichgültigkeit der Natur liegt aber auch das Fremde, nicht zu Bannende, das den Menschen zusetzt, über sie hinweggeht. Langes Natur ist nicht die bestellte Kulturlandschaft der Heimat- und Bauernromane. Seine Landschaften sind beinahe immer Wasserlandschaften, amorph, nicht auf Dauer zu bezwingen. Darin: Aufweichende Rinnsale und geschwächte Menschen; der Fluß und seine Verzweigungen; Moder, Sumpf, Schwüle; Sickerungen, ein An- und Abschwellen, die Unaufhaltsamkeit des Elements, das alles ausspült, überschwemmt, abträgt und nichts in seiner scharfen, entschiedenen Form bestehen läßt.
Horst Lange floh noch als Schüler nach Weimar zu seinem Onkel Emil, der Architekt am Bauhaus war und dort auch die Finanzen verwaltete. Er hoffte auf eine Ausbildung zum Künstler, gab seinen Plan jedoch auf, nachdem er reichlich Kritik von Walter Gropius erhalten hatte, der ihm von der Malerei abriet. Zurück in Liegnitz machte Lange das Abitur. Ab 1925 studierte er in Berlin Kunstgeschichte, Literaturgeschichte und Theaterwissenschaften und veröffentlichte erste Gedichte und Kurzprosa in der Kolonne, im Fischzug und später in Der weiße Rabe. 1927 erfolgte der Wechsel an die Universität Breslau, jedoch beendete Lange sein Studium nie, und seine Doktorarbeit wurde nicht angenommen.
Im Herbst 1930 lernte Lange in Liegnitz Oda Schaefer kennen, die nach ihrer gescheiterten ersten Ehe Erholung bei ihrer Mutter suchte. Gemeinsam mit Oda Schaefer und ihrem Sohn verließ Lange die als bedrückend empfundene Kleinstadt wieder, um sich erneut in Berlin anzusiedeln. Es folgten Jahre intensiver Arbeit an verschiedenen literarischen Projekten. Der Durchbruch gelang 1937 mit dem Roman Schwarze Weide, der das Verhängnis zweier Ortschaften und ihrer Einwohner in dichter Verknüpfung mit der sumpfigen Landschaft schildert. Lange veröffentlichte von da an als gefragter Autor in allen wichtigen Feuilletons der Hauptstadt und arbeitete auch für den Rundfunk. Ab 1938 entstand der zweite große Roman, die Ulanenpatrouille. Sie erschien 1940, nachdem Lange bereits zur Wehrmacht eingezogen worden war.
Anfang September 1941 beteiligte sich Horst Lange – inzwischen Gefreiter und auf dem Weg zur Ostfront – in Siedlce / Polen an einer Schlägerei, in die er angetrunken geriet. Im Zorn richtete er eine Pistole auf die Gegner. Zweimal drückte er ab, doch löste sich aufgrund einer Ladehemmung kein Schuß. Lange wurde verhaftet und in die Bahnhofswache gesperrt. Er durchbrach die Holzwand der Baracke und versteckte sich in einem Zug, der weiter zur Front rollen sollte. Man spürte ihn noch vor der Abfahrt auf und stellte ihn für ein rasches Urteil einigen Hauptleuten zum Verhör vor. Kriegsgericht schien unausweichlich. Jedoch kannte einer der Offiziere die Ulanenpatrouille, die 1940 als Langes zweiter Roman erschienen war. Das Kriegsgericht wurde abgebogen, Lange in die Strafkompanie des Spandauer Pionier-Bataillons 23 und damit an die Front versetzt.
Die Anekdote aus Siedlce veranschaulicht das Wechselspiel zwischen Leben und Werk Horst Langes mit kaum zu übertreffender Deutlichkeit. Lange ist eine jener seltsam schwachen Figuren, die wissentlich in ungünstige Situationen hineingezogen werden, die keine Kraft finden, sich auf gebahnten Wegen zu halten. Seine Bücher sind voll von Scheiternden, Versinkenden, Hinweggeschwemmten – und sind als vollendete Werke gleichzeitig das Gegenteil: komplexe Ordnung, kunstvolle Form, Beweise einer bis an den Rand des Ertragbaren gehenden Kraftanstrengung. So schildert der Roman Ulanenpatrouille zwar die schleichende Auflösung soldatischer Disziplin, die ein junger Leutnant bei vollem Bewußtsein und unter ständiger Selbstreflexion an sich erfährt: Am Ende hat er für eine Liebesnacht seine Soldaten verlassen und erwacht in einen nüchternen Morgen hinein, als der Angriff des Gegners bereits über ihn hinwegrollt. Der Roman selbst aber ist in seiner kunstvollen Komposition und seiner bis ans Manieristische gehenden Sprache gerade das Gegenteil einer Auflösung. Zwar stirbt der Leutnant schlußendlich bei dem Versuch, seine Disziplinlosigkeit durch einen gewagten Akt ins Gute zu wenden, der Autor aber hat mit seinem Werk auf jeden Fall die Ordnung geschaffen, aus der sein Held geglitten ist. Hier: Selbstzerstörung, Suff, Haltlosigkeit, ein Hineintrudeln in beinahe ausweglose Situationen, dort das Werk, die Form, das Durchgefeilte, der Willensakt, die gewaltige Leistung, in der Rettung liegt.
„In meiner Ahnung wird immer nur das Kommende als Folge eines Schlimmen im voraus begriffen, niemals das Schlimme selbst, bevor es direkt eintritt. Die Ahnung trügt. Man darf sich nur auf das Wirkliche und seine Kausalität verlassen. Wie oft ist mir hinterher klargeworden, daß die Wendung zum Bösen eigentlich nur von einem winzigen Gegengewicht abhängt, das die Ordnung stört und gänzlich verrückt, wenn es übermächtig wird. Ich sehne mich nach einer klaren und eindeutigen Ordnung und bin bis jetzt nicht imstande gewesen, sie zu schaffen oder sie, wenn ich sie mir vorübergehend gewonnen hatte, zu bewahren. Wenn mich die Konsequenzen dieses Erlebnisses dazu zwingen, sie mir mit Gewalt zu erringen und zu vervollkommnen, werde ich dankbar dafür sein, auch dann, wenn dieses Ziel nur unter Schwierigkeiten und über große Hindernisse hinweg erreichbar ist. Ich bin in den letzten Jahren, auch im Hinblick auf mein Privatleben, allen Entscheidungen aus dem Weg gegangen. Ich habe mich selbst immer davor gedrückt, für meine Schwächen geradezustehen. Auswege waren mir lieb und Verstrickungen angenehm.“
Der Tagebucheintrag „Waldlager, 1. X. 41“ ist eine Schlüsselstelle. Lange war am Vormittag zur Prügelei in Siedlce verhört worden. Danach legte er vor sich selbst Rechenschaft ab über die Triebfedern seines Verhaltens, das in Siedlce nur krasser ausgefallen war als die Male zuvor, strukturell jedoch ihr Abbild blieb. Selbstanalyse am Rand des Abgrunds, mit großer innerer Dringlichkeit und einer stets im Hintergrund schwebenden Bitte um eine letzte Chance. Auf die gerade zitierte längere Passage folgt: „Das Verschleierte und Verschwommene, das bis in meine Denkungsart und in meine Darstellungsweise reichte, schien mein eigentliches Element zu sein.“ Und: „Sehr gerne ließ ich mich von Vorzeichen bestimmen, die mir meine Richtung zu weisen schienen. Die Ursache war kein Hang zur Bequemlichkeit, sondern eher eine Wesensverwandtschaft mit dem Dunklen und Dämmrigen.“ Die Vergangenheitsform, in der Lange die Analyse zusammenfaßt, zeigt, daß er davon ausgeht, von einer überwundenen Krankheit zu sprechen.
Zum Kern des Schriftstellers Lange führt die Tatsache, daß er sich seines Wegs und seiner mangelnden Widerstandskraft gegen Verlockungen jeder Art von Anfang an voll bewußt war und daß er darunter litt. Dieses volle Bewußtsein bekommt etwas Krankes, etwas ekelhaft Intellektuelles, weil es der tatsächlichen Handlung so ganz und gar einflußlos gegenübersteht. Auf jedes Versagen folgt eine Erklärung. Erst vor dieser selbstanalytischen Klarheit und der Schere, die zwischen Denken und Tun sich öffnet, wird die Schwäche unerträglich. Zum Vergleich: Ein volles Bewußtsein über den Gang am Abgrund hat auch derjenige, der nicht die Ordnung sucht, sondern ihre Spannungslosigkeit durch das Aufsuchen des Abwegs verlassen möchte. Stark an solchen Figuren ist, daß sie den eigenen Untergang mit auf der Rechnung haben. Eine Variante ist der décadent, der den Zerfall der Ordnung besingt und dabei weiß, daß er nie wirklich in Gefahr ist, sondern im Gegensatz zu manchen Lesern und Kollegen auch über dem Abgrund den Überblick behält und die Gefahr kalkuliert aufsucht.
Zu der ärgerlichen Verantwortungslosigkeit, die hinter einer dekadenten Lebensweise liegt, wäre Horst Lange nicht in der Lage gewesen. Für solche Spiele war ihm die Bedrängung zu ernst. Er suchte den Abweg nicht, er geriet auf ihn und kokettierte vielleicht für einen Augenblick mit dem Gedanken, einer von denen zu sein, die dem großen Nichts, der Auflösung, ein großes Ich entgegenstellen können. Jedoch kam immer eine Schwäche zum Vorschein, die es ihm bei aller Verlockung letztendlich nicht erlaubte, tatsächlich abzuspringen, die ihn vielmehr dazu brachte, sich umzudrehen und den Halt in einer großen Ordnung existentiell zu suchen.
Im „Waldlager, 1. X. 41“ begriff er den Sinn der Ladehemmung. Und suchte die Lektüre therapeutisch aus: „Ich lese von Goethe ‚Kampagne‘, ein großes Buch, ein wunderbarer Hang zur Ordnung. Und jetzt beginnt ein neues Kapitel. Ich bin ganz froh, heiter und entlastet.“ Und am 4. X.: „Dort, wo er von der Wendung spricht, die jedes Mannes Leben durchmacht, wenn die Sehnsucht und der Traum als beherrschende Prinzipien aufgegeben werden, zugunsten eines Bewußten und Geplanten, ergriff’s mich besonders.“ Die Stelle, auf die Lange hinweist, lautet bei Goethe (Kampagne in Frankreich): „Das Sehnsüchtige, das in mir lag, das ich in früheren Jahren sicherlich zu sehr gehegt und bei fortschreitendem Leben kräftig zu bekämpfen trachtete, wollte dem Manne nicht mehr ziemen, nicht mehr genügen, und er suchte deshalb die volle, endliche Befriedigung.”
In seiner Haltlosigkeit und Verwirrtheit war Horst Lange ein besonders stark ausgeformter Vertreter der sogenannten „Jungen Generation“, die den Ersten Weltkrieg als extreme Erschütterung erfahren hatte, wobei ihr – im Unterschied zur Frontgeneration – aufgrund des Alters ein tatkräftiges Gegenhalten nicht möglich gewesen war. Der Zusammenbruch der alten Ordnung konnte bloß erduldet werden. Die Grundkoordinaten für einen bedeutenden Teil dieser Generation waren neben einem unterschwelligen Sicherheitsbedürfnis vor allem Utopielosigkeit und – in zwei Stoßrichtungen auseinanderlaufend – extremer Pragmatismus oder Kulturpessimismus. Im Bereich der Literatur entsprechen diesen Haltungen die Gebrauchskunst auf der einen und tendenzfreie Arbeiten auf der anderen Seite.
Der Germanist und Herausgeber der Lange-Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, Hans Dieter Schäfer, schreibt: „Vor allem die junge Generation distanzierte sich von politischen und künstlerischen Freiräumen und hoffte auf gebündelte Energien, die sie zumeist nicht in der Herausarbeitung von Eigenverantwortung und Offenheit suchte, sondern im Schutz der Gruppe oder Sache.“ Diese Grundierung verdeutlicht, warum Lange und viele Vertreter seiner Generation den abermaligen Machtwechsel innerhalb der Weimarer Republik Anfang 1933 nicht als revolutionäre Zäsur wahrnahmen. Die künstlerischen Projekte liefen kontinuierlich über ein Datum hinweg, das sich erst nach und nach als entscheidende Wegmarke darstellte. Von hier führt eine direkte Entwicklungslinie in klassizistische, eine formale Strenge und Ordnung betonende Formen, wie sie in ganz Europa und vor allem auch in Deutschland gegen die Auflösungskunst der Avantgarde Ende der zwanziger Jahre entwickelt wurde. Das „Statische“ als positiv empfundene Ruhe und Haltbarkeit ist über Gottfried Benns Gedichte zu einem Bestimmungsmerkmal dieses Ansatzes geworden.
Mit der Schwarzen Weide erschien 1937 ein Roman, der begeisterte Besprechungen erfuhr und Lange aus der Sicht vieler Rezensenten zu einem „Dichter europäischen Ranges“ (Sebastian Haffner) machte. Die Schwarze Weide wird damit zum Focus, durch den die Kulturpolitik des Dritten Reiches sich als differenziertes Gebilde zeigt. Die Auffassung, daß nur in der Emigration deutsche Kunst überdauern konnte, während im Reich selbst eine Eiszeit jede Entwicklung zum Erliegen brachte, stimmt nicht. Die spezifische Herrschaftssicherung Hitlers ist als „kalkuliertes Chaos“ (Karl-Dietrich Abel) beschrieben, jedoch in seinen konkreten Auswirkungen zugunsten der Konzeption einer „Stunde Null“ ins Abseits gestellt worden.
Der literarische Werdegang vieler Nachkriegsschriftsteller zeigt aber, daß sie während des Dritten Reiches teilweise in verblüffender Politikferne an ihrem künstlerischen Projekt arbeiteten und eine Vielzahl von Veröffentlichungsmöglichkeiten nutzten. Dies war möglich eben durch das „kalkulierte Chaos“, in dem bis in die höchste Ebene hinein politische Machthaber ihren Bereich absteckten, mit Gleichrangigen konkurrierten und ihrem Machtbereich ein eigenes Gepräge aus Duldung und Verbot, Förderung und Experiment gaben. Dafür, daß im Staat bis zum Vorabend des Kriegs durch die friedlichen außenpolitischen Erfolge und den wirtschaftlichen Aufschwung eine beinahe weltläufige Stimmung herrschte, belegen Tagebucheinträge und Briefe aus dieser Zeit. Wiederum Hans Dieter Schäfer hat sie in seinem Essay Das gespaltene Bewußtsein zusammengetragen und neben den beispielsweise bis 1939 offen gepflegten Amerikanismus der großen Illustrierten gestellt.
Daß Langes Werk schlußendlich doch als kränkelnd bewertet wurde, verwundert nicht. Über die Verweigerung von Papierkontingenten wurden Schwarze Weide und Ulanenpatrouille indirekt verboten. Aber auch hier wieder Differenzierung: 1944 erschienen die Leuchtkugeln, drei Erzählungen aus dem Rußlandfeldzug, den Lange bis zu seiner Verwundung am 9. Dezember 1941 als Pionier mitgemacht hatte. Lange hat die drei Erzählungen 1943 im Lazarett niedergeschrieben, Carl Zuckmayer bezeichnete die Titelgeschichte als die „beste deutsche Prosadichtung aus dem letzten Krieg“.
In den Leuchtkugeln ist die Sprache und Sichtweise Langes die nach dem Waldlager: Dem Verfall, der Ausweglosigkeit und dem Verhängnis wird nicht mehr kalligraphisch nachgespürt. Die Suche nach dem schönsten Satz ist einer exakten und nicht in jedem Beiwort bedeutungsschwangeren Beschreibung der Vorgänge und Bilder im stockenden Vormarsch auf Moskau zu gewichen. Der einzelne Soldat kämpft gegen die Gleichgültigkeit und Unabsehbarkeit der russischen Landschaft, jedoch protokolliert er nicht in aufgefächerten Sätzen seinen Untergang, sondern wirft sich auf das, was hält: Auftrag, Kameradschaft, gute Geschichten während langer Nachtwachen, ein paar Schuß Munition gegen die Partisanen in einem Wäldchen irgendwo vor Moskau. Zwar hat die Hauptfigur, der Soldat Hermes, eine Vorgeschichte, etwas Ungelöstes aus seinem zivilen Leben vor dem Krieg, aber das dominiert nicht jeden Schritt. Mehr: Es wird in der kameradschaftlichen Frontatmosphäre auf untergeordnete Stelle verwiesen. Das Jetzt, das bestanden werden soll, überlagert alles.
Lange hat in Tagebucheinträgen und Briefen diese Atmosphäre als gesund und heilsam bezeichnet. Die literarische Qualität der Leuchtkugeln ist herausragend, ihr Ton auch 1944 tragbar. Hans Dieter Schäfer kommt auch angesichts dieses Beispiels zu der These, daß ein „gemäßigter Pluralismus als konstitutives Element der nationalsozialistischen Kulturpolitik“ bis zuletzt erhalten blieb.
Lange war kein Widerständler. Seine Thematik einer sozusagen theosophischen Ordnungssuche ist in tiefem Sinn unhistorisch. Zudem verhindert die eigene Unsicherheit absolute Wertungen, die notwendig wären, um über eine eindeutige Stellungnahme schließlich zum ausformulierten Widerstand zu gelangen. Aber das war auch nicht Langes Projekt. Seine Spur: Das ist die Moderne Klassik, die religiös unterfütterte Statik, der Lebensversuch über die Kunst. Moderne muß nicht zwingend Auflösungskunst sein, das ist eine Erkenntnis Langes: „Mit äußerstem, immer noch wachsendem Widerstreben den Band Kafka zu Ende gelesen. Eine Erzählung wie ‚In der Strafkolonie‘ ist das exkrementäre Produkt einer kranken Phantasie. Sadismus, der zur Metaphysik wird“ (Tagebücher, 16. II. 45).
Horst Lange, der bis zu seinem Tod an seiner schweren Verwundung litt, hat nach dem Krieg gemeinsam mit Oda Schaefer bei München gelebt. Er starb am 6. Juli 1971. Im Gegensatz zu vielen Kollegen seiner Generation legte er keinen Wert auf den Anschluß an eine Gruppe 47 oder andere Projekte.