Autorenportrait Horst Lange

pdf der Druckfassung aus Sezession 7 / Oktober 2004

Es gibt Menschen, die gelebt werden. Sie finden sich in Situationen...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

wie­der, in die sie wegen eines selt­sa­men Man­gels an Wider­stands­kraft gera­ten sind, obwohl ihnen zu jedem Zeit­punkt des Weges klar war, daß sie sich einem Abgrund nähern. Das Han­deln ist von Erge­ben­heit in ihr Schick­sal bestimmt. Die­ses Schick­sal wird als zuge­wie­sen auf­ge­faßt, im Gegen­satz zum amor fati jedoch pas­siv erdul­det, nicht als Auf­trag ange­nom­men oder als Rol­le aus­ge­stal­tet. Die Fra­ge nach der Frei­heit des Wil­lens stellt sich von der Per­spek­ti­ve der Flie­ge aus, die im Spin­nen­netz hängt. The­men sind: das Lei­den, das Hin­ein- und Hin­ab­ge­zo­gen­wer­den, die Ver­stri­ckung, die Aus­weg­lo­sig­keit und die Läh­mung. Wenn Glau­be hin­zu­tritt, stellt sich die Fra­ge nach der eige­nen Schuld, die ihren Teil zum indi­vi­du­el­len und all­ge­mein­mensch­li­chen Ver­sin­ken bei­getra­gen hat. Dies ist die depres­si­ve Sei­te einer Theo­so­phie, die alles von Gott, von einem Gött­li­chen her­lei­tet und von der Flie­ge zumin­dest die Ein­sicht ver­langt, daß der Faden, an dem sie klebt, nicht zufäl­lig dort ver­lau­fe. Hera­klit hat die­se Per­spek­ti­ve in ein anthro­po­lo­gisch illu­si­ons­lo­ses Bild geklei­det: „Alles, was da kreucht, wird mit der Gei­ßel zur Wei­de getrie­ben.“ Die­se kraft­vol­le Über­set­zung stammt von Horst Lan­ge, der sich „gebo­ren in einer ver­lo­re­nen Zeit und in einem ver­lo­re­nen Land“ sah und gegen das Ver­lo­ren­sein groß­ar­ti­ge Erzäh­lun­gen und Roma­ne setzte.

Horst Lan­ge wur­de 1904 in Lie­gnitz / Nie­der­schle­si­en gebo­ren. Sein Vater Ernst war Regi­ments­schrei­ber und Vize­feld­we­bel, sei­ne Mut­ter Ama­lia Sophia eine gelern­te Putz­ma­che­rin aus der Pro­vinz Posen. Mit Blick auf die preu­ßisch-pro­tes­tan­ti­sche Atmo­sphä­re des Eltern­hau­ses und deren Abmil­de­rung durch schle­si­sche und – müt­ter­li­cher­seits – katho­li­sche Ein­flüs­se, spricht die neu­es­te Lite­ra­tur über Lan­ge wie­der von einem tra­di­tio­nel­len Gegen­satz zwi­schen west­li­cher und öst­li­cher Kul­tur. Das ist viel, weil es die in der Wis­sen­schaft so inten­siv betrie­be­ne Eman­zi­pa­ti­on des Indi­vi­du­ums von Her­kunft und Land­schaft abtrop­fen läßt. Öst­li­che Dul­dungs­fä­hig­keit und Pas­si­vi­tät wer­den west­li­chem, vor allem preu­ßi­schem Orga­ni­sa­ti­ons­wil­len und Akti­vis­mus gegen­über­ge­stellt. Sol­che Kate­go­rien wir­ken – ein­mal für Lan­ge gel­tend gemacht – über ihn hin­aus, weil sie an sich und zu Recht dem Ein­fluß von Kul­tur, Eltern­haus, Land­schaft, Spra­che eine grö­ße­re Bedeu­tung zurückgeben.
Die Lyri­ke­rin Oda Schae­fer, Lan­ges spä­te­re Frau, schreibt in einem Lebens­bild über ihren Mann: „Wie ein Zwang war es, das nie­der­zu­schrei­ben und fest­zu­hal­ten, was ihn aus Quel­len, Sümp­fen und Flüs­sen der nie­der­schle­si­schen Land­schaft ins­ge­heim gespeist hat­te.“ Und Lan­ge selbst sagt in einem Brief an Alfred Kubin: „Ich konn­te wie­der ein­mal sehr klar erken­nen, wie das eigent­li­che Urer­leb­nis, aus dem alles her­kommt, was ich bis­her gemacht habe, in einem ein­zi­gen und gar nicht ein­mal sehr weit­räu­mi­gen Land­schafts­be­zirk wur­zelt. Es war eine wäß­ri­ge und moras­ti­ge Bruch­ge­gend, in der ich mei­ne Jugend ver­brach­te.“ Von sol­chen Aus­sa­gen her kann Oda Schae­fer ganz undra­ma­tisch mit­tei­len, daß „Was­ser eines sei­ner Ele­men­te, das ande­re die Erde“ gewe­sen sei.
Die Land­schaft spielt in Lan­ges Wer­ken die wich­ti­ge Rol­le eines spie­geln­den Hin­ter­grunds. Den Ton der Bücher bestim­men – als regio­na­le Sie­gel wahr­ge­nom­me­ne – die nie­der­schle­si­sche Melan­cho­lie, die Erd­schwe­re des Gemüts, die Ver­geb­lich­keit der kla­ren Form­ge­bung ange­sichts der amor­phen Was­ser­land­schaft. Dies alles begüns­tigt die Wil­len­lo­sig­keit, Trunk­sucht und Selbst­auf­ga­be der Figu­ren Lan­ges, jedoch läuft alles bewußt und in der aus­ge­feil­ten Selbst­re­fle­xi­on modern ab, theo­re­tisch sozu­sa­gen auf der Höhe der Zeit: Lan­ge schrieb sei­ne Land­schafts­ro­ma­ne in Ber­lin, gebro­chen, aus der Sicht eines Wahl­städ­ters, kei­nes­falls nost­al­gisch oder romantisierend.

In einem Text über Land­schaft­li­che Dich­tung, der in der Zeit­schrift Der wei­ße Rabe, Jahr­gang 1933, erschien, äußert sich Lan­ge poe­to­lo­gisch und erhellt den Ton sei­ner eige­nen Arbei­ten: Er stellt dem ratio­na­lis­ti­schen Fort­schritts­glau­ben, der gera­de in der Welt­wirt­schafts­kri­se erneut und schwer erschüt­tert wur­de, das gegen­über, was er vor dem Hin­ter­grund aus­ein­an­der­fal­len­der Ord­nun­gen in Poli­tik und Gesell­schaft als das ein­zig Bestän­di­ge bezeich­net: Natur und Land­schaft, zyklisch, ahis­to­risch, gleich­gül­tig gegen die Dimen­sio­nen und Hand­lungs­zeit­räu­me des Men­schen, eben nicht line­ar und fort­schritt­lich und damit eben nicht der Gefahr eines Abris­ses oder Zusam­men­bruchs aus­ge­setzt. Dar­in liegt Zuver­läs­sig­keit. In der Gleich­gül­tig­keit der Natur liegt aber auch das Frem­de, nicht zu Ban­nen­de, das den Men­schen zusetzt, über sie hin­weg­geht. Lan­ges Natur ist nicht die bestell­te Kul­tur­land­schaft der Hei­mat- und Bau­ern­ro­ma­ne. Sei­ne Land­schaf­ten sind bei­na­he immer Was­ser­land­schaf­ten, amorph, nicht auf Dau­er zu bezwin­gen. Dar­in: Auf­wei­chen­de Rinn­sa­le und geschwäch­te Men­schen; der Fluß und sei­ne Ver­zwei­gun­gen; Moder, Sumpf, Schwü­le; Sicke­run­gen, ein An- und Abschwel­len, die Unauf­halt­sam­keit des Ele­ments, das alles aus­spült, über­schwemmt, abträgt und nichts in sei­ner schar­fen, ent­schie­de­nen Form bestehen läßt.
Horst Lan­ge floh noch als Schü­ler nach Wei­mar zu sei­nem Onkel Emil, der Archi­tekt am Bau­haus war und dort auch die Finan­zen ver­wal­te­te. Er hoff­te auf eine Aus­bil­dung zum Künst­ler, gab sei­nen Plan jedoch auf, nach­dem er reich­lich Kri­tik von Wal­ter Gro­pi­us erhal­ten hat­te, der ihm von der Male­rei abriet. Zurück in Lie­gnitz mach­te Lan­ge das Abitur. Ab 1925 stu­dier­te er in Ber­lin Kunst­ge­schich­te, Lite­ra­tur­ge­schich­te und Thea­ter­wis­sen­schaf­ten und ver­öf­fent­lich­te ers­te Gedich­te und Kurz­pro­sa in der Kolon­ne, im Fisch­zug und spä­ter in Der wei­ße Rabe. 1927 erfolg­te der Wech­sel an die Uni­ver­si­tät Bres­lau, jedoch been­de­te Lan­ge sein Stu­di­um nie, und sei­ne Dok­tor­ar­beit wur­de nicht angenommen.
Im Herbst 1930 lern­te Lan­ge in Lie­gnitz Oda Schae­fer ken­nen, die nach ihrer geschei­ter­ten ers­ten Ehe Erho­lung bei ihrer Mut­ter such­te. Gemein­sam mit Oda Schae­fer und ihrem Sohn ver­ließ Lan­ge die als bedrü­ckend emp­fun­de­ne Klein­stadt wie­der, um sich erneut in Ber­lin anzu­sie­deln. Es folg­ten Jah­re inten­si­ver Arbeit an ver­schie­de­nen lite­ra­ri­schen Pro­jek­ten. Der Durch­bruch gelang 1937 mit dem Roman Schwar­ze Wei­de, der das Ver­häng­nis zwei­er Ort­schaf­ten und ihrer Ein­woh­ner in dich­ter Ver­knüp­fung mit der sump­fi­gen Land­schaft schil­dert. Lan­ge ver­öf­fent­lich­te von da an als gefrag­ter Autor in allen wich­ti­gen Feuil­le­tons der Haupt­stadt und arbei­te­te auch für den Rund­funk. Ab 1938 ent­stand der zwei­te gro­ße Roman, die Ula­nen­pa­trouil­le. Sie erschien 1940, nach­dem Lan­ge bereits zur Wehr­macht ein­ge­zo­gen wor­den war.
Anfang Sep­tem­ber 1941 betei­lig­te sich Horst Lan­ge – inzwi­schen Gefrei­ter und auf dem Weg zur Ost­front – in Siedl­ce / Polen an einer Schlä­ge­rei, in die er ange­trun­ken geriet. Im Zorn rich­te­te er eine Pis­to­le auf die Geg­ner. Zwei­mal drück­te er ab, doch lös­te sich auf­grund einer Lade­hem­mung kein Schuß. Lan­ge wur­de ver­haf­tet und in die Bahn­hofs­wa­che gesperrt. Er durch­brach die Holz­wand der Bara­cke und ver­steck­te sich in einem Zug, der wei­ter zur Front rol­len soll­te. Man spür­te ihn noch vor der Abfahrt auf und stell­te ihn für ein rasches Urteil eini­gen Haupt­leu­ten zum Ver­hör vor. Kriegs­ge­richt schien unaus­weich­lich. Jedoch kann­te einer der Offi­zie­re die Ula­nen­pa­trouil­le, die 1940 als Lan­ges zwei­ter Roman erschie­nen war. Das Kriegs­ge­richt wur­de abge­bo­gen, Lan­ge in die Straf­kom­pa­nie des Span­dau­er Pio­nier-Batail­lons 23 und damit an die Front versetzt.

Die Anek­do­te aus Siedl­ce ver­an­schau­licht das Wech­sel­spiel zwi­schen Leben und Werk Horst Lan­ges mit kaum zu über­tref­fen­der Deut­lich­keit. Lan­ge ist eine jener selt­sam schwa­chen Figu­ren, die wis­sent­lich in ungüns­ti­ge Situa­tio­nen hin­ein­ge­zo­gen wer­den, die kei­ne Kraft fin­den, sich auf gebahn­ten Wegen zu hal­ten. Sei­ne Bücher sind voll von Schei­tern­den, Ver­sin­ken­den, Hin­weg­ge­schwemm­ten – und sind als voll­ende­te Wer­ke gleich­zei­tig das Gegen­teil: kom­ple­xe Ord­nung, kunst­vol­le Form, Bewei­se einer bis an den Rand des Ertrag­ba­ren gehen­den Kraft­an­stren­gung. So schil­dert der Roman Ula­nen­pa­trouil­le zwar die schlei­chen­de Auf­lö­sung sol­da­ti­scher Dis­zi­plin, die ein jun­ger Leut­nant bei vol­lem Bewußt­sein und unter stän­di­ger Selbst­re­fle­xi­on an sich erfährt: Am Ende hat er für eine Lie­bes­nacht sei­ne Sol­da­ten ver­las­sen und erwacht in einen nüch­ter­nen Mor­gen hin­ein, als der Angriff des Geg­ners bereits über ihn hin­weg­rollt. Der Roman selbst aber ist in sei­ner kunst­vol­len Kom­po­si­ti­on und sei­ner bis ans Manie­ris­ti­sche gehen­den Spra­che gera­de das Gegen­teil einer Auf­lö­sung. Zwar stirbt der Leut­nant schlu­ßend­lich bei dem Ver­such, sei­ne Dis­zi­plin­lo­sig­keit durch einen gewag­ten Akt ins Gute zu wen­den, der Autor aber hat mit sei­nem Werk auf jeden Fall die Ord­nung geschaf­fen, aus der sein Held geglit­ten ist. Hier: Selbst­zer­stö­rung, Suff, Halt­lo­sig­keit, ein Hin­ein­tru­deln in bei­na­he aus­weg­lo­se Situa­tio­nen, dort das Werk, die Form, das Durch­ge­feil­te, der Wil­lens­akt, die gewal­ti­ge Leis­tung, in der Ret­tung liegt.
„In mei­ner Ahnung wird immer nur das Kom­men­de als Fol­ge eines Schlim­men im vor­aus begrif­fen, nie­mals das Schlim­me selbst, bevor es direkt ein­tritt. Die Ahnung trügt. Man darf sich nur auf das Wirk­li­che und sei­ne Kau­sa­li­tät ver­las­sen. Wie oft ist mir hin­ter­her klar­ge­wor­den, daß die Wen­dung zum Bösen eigent­lich nur von einem win­zi­gen Gegen­ge­wicht abhängt, das die Ord­nung stört und gänz­lich ver­rückt, wenn es über­mäch­tig wird. Ich seh­ne mich nach einer kla­ren und ein­deu­ti­gen Ord­nung und bin bis jetzt nicht imstan­de gewe­sen, sie zu schaf­fen oder sie, wenn ich sie mir vor­über­ge­hend gewon­nen hat­te, zu bewah­ren. Wenn mich die Kon­se­quen­zen die­ses Erleb­nis­ses dazu zwin­gen, sie mir mit Gewalt zu errin­gen und zu ver­voll­komm­nen, wer­de ich dank­bar dafür sein, auch dann, wenn die­ses Ziel nur unter Schwie­rig­kei­ten und über gro­ße Hin­der­nis­se hin­weg erreich­bar ist. Ich bin in den letz­ten Jah­ren, auch im Hin­blick auf mein Pri­vat­le­ben, allen Ent­schei­dun­gen aus dem Weg gegan­gen. Ich habe mich selbst immer davor gedrückt, für mei­ne Schwä­chen gera­de­zu­ste­hen. Aus­we­ge waren mir lieb und Ver­stri­ckun­gen angenehm.“
Der Tage­buch­ein­trag „Wald­la­ger, 1. X. 41“ ist eine Schlüs­sel­stel­le. Lan­ge war am Vor­mit­tag zur Prü­ge­lei in Siedl­ce ver­hört wor­den. Danach leg­te er vor sich selbst Rechen­schaft ab über die Trieb­fe­dern sei­nes Ver­hal­tens, das in Siedl­ce nur kras­ser aus­ge­fal­len war als die Male zuvor, struk­tu­rell jedoch ihr Abbild blieb. Selbst­ana­ly­se am Rand des Abgrunds, mit gro­ßer inne­rer Dring­lich­keit und einer stets im Hin­ter­grund schwe­ben­den Bit­te um eine letz­te Chan­ce. Auf die gera­de zitier­te län­ge­re Pas­sa­ge folgt: „Das Ver­schlei­er­te und Ver­schwom­me­ne, das bis in mei­ne Den­kungs­art und in mei­ne Dar­stel­lungs­wei­se reich­te, schien mein eigent­li­ches Ele­ment zu sein.“ Und: „Sehr ger­ne ließ ich mich von Vor­zei­chen bestim­men, die mir mei­ne Rich­tung zu wei­sen schie­nen. Die Ursa­che war kein Hang zur Bequem­lich­keit, son­dern eher eine Wesens­ver­wandt­schaft mit dem Dunk­len und Dämm­ri­gen.“ Die Ver­gan­gen­heits­form, in der Lan­ge die Ana­ly­se zusam­men­faßt, zeigt, daß er davon aus­geht, von einer über­wun­de­nen Krank­heit zu sprechen.

Zum Kern des Schrift­stel­lers Lan­ge führt die Tat­sa­che, daß er sich sei­nes Wegs und sei­ner man­geln­den Wider­stands­kraft gegen Ver­lo­ckun­gen jeder Art von Anfang an voll bewußt war und daß er dar­un­ter litt. Die­ses vol­le Bewußt­sein bekommt etwas Kran­kes, etwas ekel­haft Intel­lek­tu­el­les, weil es der tat­säch­li­chen Hand­lung so ganz und gar ein­fluß­los gegen­über­steht. Auf jedes Ver­sa­gen folgt eine Erklä­rung. Erst vor die­ser selbst­ana­ly­ti­schen Klar­heit und der Sche­re, die zwi­schen Den­ken und Tun sich öff­net, wird die Schwä­che uner­träg­lich. Zum Ver­gleich: Ein vol­les Bewußt­sein über den Gang am Abgrund hat auch der­je­ni­ge, der nicht die Ord­nung sucht, son­dern ihre Span­nungs­lo­sig­keit durch das Auf­su­chen des Abwegs ver­las­sen möch­te. Stark an sol­chen Figu­ren ist, daß sie den eige­nen Unter­gang mit auf der Rech­nung haben. Eine Vari­an­te ist der déca­dent, der den Zer­fall der Ord­nung besingt und dabei weiß, daß er nie wirk­lich in Gefahr ist, son­dern im Gegen­satz zu man­chen Lesern und Kol­le­gen auch über dem Abgrund den Über­blick behält und die Gefahr kal­ku­liert aufsucht.

Zu der ärger­li­chen Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit, die hin­ter einer deka­den­ten Lebens­wei­se liegt, wäre Horst Lan­ge nicht in der Lage gewe­sen. Für sol­che Spie­le war ihm die Bedrän­gung zu ernst. Er such­te den Abweg nicht, er geriet auf ihn und koket­tier­te viel­leicht für einen Augen­blick mit dem Gedan­ken, einer von denen zu sein, die dem gro­ßen Nichts, der Auf­lö­sung, ein gro­ßes Ich ent­ge­gen­stel­len kön­nen. Jedoch kam immer eine Schwä­che zum Vor­schein, die es ihm bei aller Ver­lo­ckung letzt­end­lich nicht erlaub­te, tat­säch­lich abzu­sprin­gen, die ihn viel­mehr dazu brach­te, sich umzu­dre­hen und den Halt in einer gro­ßen Ord­nung exis­ten­ti­ell zu suchen.
Im „Wald­la­ger, 1. X. 41“ begriff er den Sinn der Lade­hem­mung. Und such­te die Lek­tü­re the­ra­peu­tisch aus: „Ich lese von Goe­the ‚Kam­pa­gne‘, ein gro­ßes Buch, ein wun­der­ba­rer Hang zur Ord­nung. Und jetzt beginnt ein neu­es Kapi­tel. Ich bin ganz froh, hei­ter und ent­las­tet.“ Und am 4. X.: „Dort, wo er von der Wen­dung spricht, die jedes Man­nes Leben durch­macht, wenn die Sehn­sucht und der Traum als beherr­schen­de Prin­zi­pi­en auf­ge­ge­ben wer­den, zuguns­ten eines Bewuß­ten und Geplan­ten, ergriff’s mich beson­ders.“ Die Stel­le, auf die Lan­ge hin­weist, lau­tet bei Goe­the (Kam­pa­gne in Frank­reich): „Das Sehn­süch­ti­ge, das in mir lag, das ich in frü­he­ren Jah­ren sicher­lich zu sehr gehegt und bei fort­schrei­ten­dem Leben kräf­tig zu bekämp­fen trach­te­te, woll­te dem Man­ne nicht mehr zie­men, nicht mehr genü­gen, und er such­te des­halb die vol­le, end­li­che Befriedigung.”
In sei­ner Halt­lo­sig­keit und Ver­wirrt­heit war Horst Lan­ge ein beson­ders stark aus­ge­form­ter Ver­tre­ter der soge­nann­ten „Jun­gen Gene­ra­ti­on“, die den Ers­ten Welt­krieg als extre­me Erschüt­te­rung erfah­ren hat­te, wobei ihr – im Unter­schied zur Front­ge­ne­ra­ti­on – auf­grund des Alters ein tat­kräf­ti­ges Gegen­hal­ten nicht mög­lich gewe­sen war. Der Zusam­men­bruch der alten Ord­nung konn­te bloß erdul­det wer­den. Die Grund­ko­or­di­na­ten für einen bedeu­ten­den Teil die­ser Gene­ra­ti­on waren neben einem unter­schwel­li­gen Sicher­heits­be­dürf­nis vor allem Uto­pie­lo­sig­keit und – in zwei Stoß­rich­tun­gen aus­ein­an­der­lau­fend – extre­mer Prag­ma­tis­mus oder Kul­tur­pes­si­mis­mus. Im Bereich der Lite­ra­tur ent­spre­chen die­sen Hal­tun­gen die Gebrauchs­kunst auf der einen und ten­denz­freie Arbei­ten auf der ande­ren Seite.

Der Ger­ma­nist und Her­aus­ge­ber der Lan­ge-Tage­bü­cher aus dem Zwei­ten Welt­krieg, Hans Die­ter Schä­fer, schreibt: „Vor allem die jun­ge Gene­ra­ti­on distan­zier­te sich von poli­ti­schen und künst­le­ri­schen Frei­räu­men und hoff­te auf gebün­del­te Ener­gien, die sie zumeist nicht in der Her­aus­ar­bei­tung von Eigen­ver­ant­wor­tung und Offen­heit such­te, son­dern im Schutz der Grup­pe oder Sache.“ Die­se Grun­die­rung ver­deut­licht, war­um Lan­ge und vie­le Ver­tre­ter sei­ner Gene­ra­ti­on den aber­ma­li­gen Macht­wech­sel inner­halb der Wei­ma­rer Repu­blik Anfang 1933 nicht als revo­lu­tio­nä­re Zäsur wahr­nah­men. Die künst­le­ri­schen Pro­jek­te lie­fen kon­ti­nu­ier­lich über ein Datum hin­weg, das sich erst nach und nach als ent­schei­den­de Weg­mar­ke dar­stell­te. Von hier führt eine direk­te Ent­wick­lungs­li­nie in klas­si­zis­ti­sche, eine for­ma­le Stren­ge und Ord­nung beto­nen­de For­men, wie sie in ganz Euro­pa und vor allem auch in Deutsch­land gegen die Auf­lö­sungs­kunst der Avant­gar­de Ende der zwan­zi­ger Jah­re ent­wi­ckelt wur­de. Das „Sta­ti­sche“ als posi­tiv emp­fun­de­ne Ruhe und Halt­bar­keit ist über Gott­fried Ben­ns Gedich­te zu einem Bestim­mungs­merk­mal die­ses Ansat­zes geworden.

Mit der Schwar­zen Wei­de erschien 1937 ein Roman, der begeis­ter­te Bespre­chun­gen erfuhr und Lan­ge aus der Sicht vie­ler Rezen­sen­ten zu einem „Dich­ter euro­päi­schen Ran­ges“ (Sebas­ti­an Haff­ner) mach­te. Die Schwar­ze Wei­de wird damit zum Focus, durch den die Kul­tur­po­li­tik des Drit­ten Rei­ches sich als dif­fe­ren­zier­tes Gebil­de zeigt. Die Auf­fas­sung, daß nur in der Emi­gra­ti­on deut­sche Kunst über­dau­ern konn­te, wäh­rend im Reich selbst eine Eis­zeit jede Ent­wick­lung zum Erlie­gen brach­te, stimmt nicht. Die spe­zi­fi­sche Herr­schafts­si­che­rung Hit­lers ist als „kal­ku­lier­tes Cha­os“ (Karl-Diet­rich Abel) beschrie­ben, jedoch in sei­nen kon­kre­ten Aus­wir­kun­gen zuguns­ten der Kon­zep­ti­on einer „Stun­de Null“ ins Abseits gestellt worden.

Der lite­ra­ri­sche Wer­de­gang vie­ler Nach­kriegs­schrift­stel­ler zeigt aber, daß sie wäh­rend des Drit­ten Rei­ches teil­wei­se in ver­blüf­fen­der Poli­tik­fer­ne an ihrem künst­le­ri­schen Pro­jekt arbei­te­ten und eine Viel­zahl von Ver­öf­fent­li­chungs­mög­lich­kei­ten nutz­ten. Dies war mög­lich eben durch das „kal­ku­lier­te Cha­os“, in dem bis in die höchs­te Ebe­ne hin­ein poli­ti­sche Macht­ha­ber ihren Bereich absteck­ten, mit Gleich­ran­gi­gen kon­kur­rier­ten und ihrem Macht­be­reich ein eige­nes Geprä­ge aus Dul­dung und Ver­bot, För­de­rung und Expe­ri­ment gaben. Dafür, daß im Staat bis zum Vor­abend des Kriegs durch die fried­li­chen außen­po­li­ti­schen Erfol­ge und den wirt­schaft­li­chen Auf­schwung eine bei­na­he welt­läu­fi­ge Stim­mung herrsch­te, bele­gen Tage­buch­ein­trä­ge und Brie­fe aus die­ser Zeit. Wie­der­um Hans Die­ter Schä­fer hat sie in sei­nem Essay Das gespal­te­ne Bewußt­sein zusam­men­ge­tra­gen und neben den bei­spiels­wei­se bis 1939 offen gepfleg­ten Ame­ri­ka­nis­mus der gro­ßen Illus­trier­ten gestellt.
Daß Lan­ges Werk schlu­ßend­lich doch als krän­kelnd bewer­tet wur­de, ver­wun­dert nicht. Über die Ver­wei­ge­rung von Papier­kon­tin­gen­ten wur­den Schwar­ze Wei­de und Ula­nen­pa­trouil­le indi­rekt ver­bo­ten. Aber auch hier wie­der Dif­fe­ren­zie­rung: 1944 erschie­nen die Leucht­ku­geln, drei Erzäh­lun­gen aus dem Ruß­land­feld­zug, den Lan­ge bis zu sei­ner Ver­wun­dung am 9. Dezem­ber 1941 als Pio­nier mit­ge­macht hat­te. Lan­ge hat die drei Erzäh­lun­gen 1943 im Laza­rett nie­der­ge­schrie­ben, Carl Zuck­may­er bezeich­ne­te die Titel­ge­schich­te als die „bes­te deut­sche Pro­sa­dich­tung aus dem letz­ten Krieg“.

In den Leucht­ku­geln ist die Spra­che und Sicht­wei­se Lan­ges die nach dem Wald­la­ger: Dem Ver­fall, der Aus­weg­lo­sig­keit und dem Ver­häng­nis wird nicht mehr kal­li­gra­phisch nach­ge­spürt. Die Suche nach dem schöns­ten Satz ist einer exak­ten und nicht in jedem Bei­wort bedeu­tungs­schwan­ge­ren Beschrei­bung der Vor­gän­ge und Bil­der im sto­cken­den Vor­marsch auf Mos­kau zu gewi­chen. Der ein­zel­ne Sol­dat kämpft gegen die Gleich­gül­tig­keit und Unab­seh­bar­keit der rus­si­schen Land­schaft, jedoch pro­to­kol­liert er nicht in auf­ge­fä­cher­ten Sät­zen sei­nen Unter­gang, son­dern wirft sich auf das, was hält: Auf­trag, Kame­rad­schaft, gute Geschich­ten wäh­rend lan­ger Nacht­wa­chen, ein paar Schuß Muni­ti­on gegen die Par­ti­sa­nen in einem Wäld­chen irgend­wo vor Mos­kau. Zwar hat die Haupt­fi­gur, der Sol­dat Her­mes, eine Vor­ge­schich­te, etwas Unge­lös­tes aus sei­nem zivi­len Leben vor dem Krieg, aber das domi­niert nicht jeden Schritt. Mehr: Es wird in der kame­rad­schaft­li­chen Fron­tat­mo­sphä­re auf unter­ge­ord­ne­te Stel­le ver­wie­sen. Das Jetzt, das bestan­den wer­den soll, über­la­gert alles.
Lan­ge hat in Tage­buch­ein­trä­gen und Brie­fen die­se Atmo­sphä­re als gesund und heil­sam bezeich­net. Die lite­ra­ri­sche Qua­li­tät der Leucht­ku­geln ist her­aus­ra­gend, ihr Ton auch 1944 trag­bar. Hans Die­ter Schä­fer kommt auch ange­sichts die­ses Bei­spiels zu der The­se, daß ein „gemä­ßig­ter Plu­ra­lis­mus als kon­sti­tu­ti­ves Ele­ment der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kul­tur­po­li­tik“ bis zuletzt erhal­ten blieb.

Lan­ge war kein Wider­ständ­ler. Sei­ne The­ma­tik einer sozu­sa­gen theo­so­phi­schen Ord­nungs­su­che ist in tie­fem Sinn unhis­to­risch. Zudem ver­hin­dert die eige­ne Unsi­cher­heit abso­lu­te Wer­tun­gen, die not­wen­dig wären, um über eine ein­deu­ti­ge Stel­lung­nah­me schließ­lich zum aus­for­mu­lier­ten Wider­stand zu gelan­gen. Aber das war auch nicht Lan­ges Pro­jekt. Sei­ne Spur: Das ist die Moder­ne Klas­sik, die reli­gi­ös unter­füt­ter­te Sta­tik, der Lebens­ver­such über die Kunst. Moder­ne muß nicht zwin­gend Auf­lö­sungs­kunst sein, das ist eine Erkennt­nis Lan­ges: „Mit äußers­tem, immer noch wach­sen­dem Wider­stre­ben den Band Kaf­ka zu Ende gele­sen. Eine Erzäh­lung wie ‚In der Straf­ko­lo­nie‘ ist das exkre­men­tä­re Pro­dukt einer kran­ken Phan­ta­sie. Sadis­mus, der zur Meta­phy­sik wird“ (Tage­bü­cher, 16. II. 45).

Horst Lan­ge, der bis zu sei­nem Tod an sei­ner schwe­ren Ver­wun­dung litt, hat nach dem Krieg gemein­sam mit Oda Schae­fer bei Mün­chen gelebt. Er starb am 6. Juli 1971. Im Gegen­satz zu vie­len Kol­le­gen sei­ner Gene­ra­ti­on leg­te er kei­nen Wert auf den Anschluß an eine Grup­pe 47 oder ande­re Projekte.

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