Gerade der irreale Zug dieses Programms erinnert an das Ramon Carrascos, der Hauptfigur in D. H. Lawrence’ Die gefiederte Schlange, der den Kult des altmexikanischen Gottes Quetzalcoatl restaurieren wollte, um die Indios aus ihrer Lethargie zu reißen und das Imperium der Azteken zu erneuern. Die Berührung mit dem Ursprung sollte ihre kollektive Kraft wiederbeleben. Aber der messianische Carrasco ging noch weiter, denn er glaubte, alle Völker seien von ihren Wurzeln abgeschnitten: „Wenn die Mexikaner den Namen Quetzalcoatl lernen sollen, sollen sie nur mit der Zunge ihres eigenen Blutes sprechen. Ich möchte, daß die germanische Welt wieder im Geiste des Thor, des Wodan und der Weltesche Yggdrasill dächte, daß die druidischen Länder begriffen, daß ihr Geheimnis in der Mistel liegt, sie selbst die Tuatha de Danaan sind, die immer noch leben, wenn sie auch versanken. Die Mittelmeervölker sollten ihren Hermes wieder haben und Tunis seinen Ashtaroth, in Persien sollte Mithras, in Indien Brahma und in China der älteste aller Drachen neu erstehen.“ Lawrence ließ Carrasco dieses Bild weiter ausmalen im Sinn einer neuen organischen Weltordnung, deren Kulturen gegeneinander abgeschlossen werden sollten, um die Identität der Völker vor Schaden zu bewahren; nur die Eliten würden miteinander verkehren.
Daß dieses Projekt phantastisch war, hat Lawrence gewußt, und heute liest man das ganze noch aus anderen Gründen mit anderen Augen als 1926, dem Zeitpunkt, an dem die Gefiederte Schlange veröffentlicht wurde, aber die Vorstellung von authentischen Kulturen, die ein Bewußtsein ihrer Anfänge haben und aus diesem Bewußtsein leben, hat ihre Faszination nie ganz verloren: Neuschöpfung durch Bezug auf das Uralte, Bruch mit der Gegenwart und Rückgriff auf die „Vorzeit“, mehr noch: Gleichzeitigkeit von Gegenwart und „Vorzeit“.
Als „Vorzeit“ kann jede zurückliegende Epoche verstanden werden, die weit genug von der Gegenwart entfernt ist, um ihr fremd zu sein, die aber nicht außerhalb des Verstehenshorizontes liegt. „Vorzeit“ muß nichts zu tun haben mit der Prähistorie im wissenschaftlichen Sinn, es genügt, daß sie in bezug auf das Heute als fern, rein, unverfälscht, stabil und damit als normativ gelten kann. Die Vorzeit eignet sich wegen der Distanz als Sehnsuchtsbild, es dürfen ihr dunkle und barbarische Züge eingetragen sein, aber es muß auch irgendein Moment der Kontinuität geben, das sie mit dem Heute verbindet. Wenn die Kontinuität als periodisch unterbrochen oder nur insgeheim fortbestehend gilt, schädigt das die legitimierende Kraft der Vorzeit nicht, unter Umständen zieht sie ihre Bedeutung gerade aus der Gefährdung oder dem Arkanum, das sie umgibt.
Der Ursprungsbezug gehört zu den Grundformen aller Identitätsbildung, ob beim Individuum oder beim Kollektiv. Jedes Kind begreift sich durch seine Eltern, die es hervorgebracht haben, das Interesse an den Vorfahren hat im Zeitalter des Internet zum Entstehen eines Dienstleistungssektors geführt, der EDV-gestützte Stammbäume und Ahnentafeln anbietet, Hilfe beim Auffinden aller möglichen Quellen für Familienforschung leistet oder entsprechendes Material – Auszüge aus Taufbüchern ebenso wie Stammrollen von Regimentern – für den Gebrauch am Computer zur Verfügung stellt. In der Vergangenheit hat „gute Herkunft“ bestimmt, wer jemand war, welchem Kodex er sich zu unterwerfen hatte, welche Pflichten von ihm erfüllt werden mußten. Identität entstand durch Kenntnis des Anfangs, dessen Glanz die Gegenwart erhellt. Der in allen Aristokratien verbreitete Ahnenstolz, die kultische Verehrung der „Alten“ oder die Berufung auf einen Gott als Vorfahren waren aber nur besonders sprechende Beispiele für ein allgemeines Muster menschlichen Selbstverständnisses.
Es ist deshalb auch nicht überraschend, wenn man Parallelen zu Verhaltensweisen des Einzelnen bei Gruppen wiederfindet. Oft wurde zwischen dem einen und dem anderen eine direkte Beziehung hergestellt, etwa durch Annahme der Abstammung eines Volkes von einer Familie oder einem Erzvater. Das berühmteste Beispiel dürfte das Selbstverständnis der Juden als „Samen Abrahams“ sein, ein Gedanke, der schon ausgedrückt war in dem Bekenntnis Deuteronomium 26, einer verdichteten Erinnerungsformel, die bei dem „umherirrenden Aramäer“, also Abraham, begann und dann die wichtigsten Stationen von der Volkwerdung über die Versklavung bis zur Befreiung und Landnahme aufführte.
Im Abendland hat zwar das „Heilsgeschichtliche Credo“ (Gerhard von Rad) der Bibel eine erhebliche Wirkung entfaltet, aber die Übernahme der jüdischen Erinnerungsformel war ausgeschlossen. Nur die Engländer glaubten, Nachfahren der verlorenen Stämme und damit das wahrhaft auserwählte Volk zu sein. Ansonsten bezog das „neue Israel“ der Christenheit zwar das Handeln Gottes seit den Zeiten des „alten Israel“ auf sich, aber die europäischen Nationen tradierten außerdem davon unabhängige Ursprungsmythen. Im Mittelalter war vor allem die „Trojanersage“ verbreitet, die erlaubte, die Franken, später die Deutschen als legitime Erben des Imperiums anzusehen, weil sie mit den Römern dieselbe Herkunft aus dem untergegangenen Ilion teilten.
Die Mischung aus historischen Fakten, gewagter Etymologie, populärer Überlieferung und höfischer Dichtung, die zur Begründung dieser und ähnlicher Vorstellungen herhalten mußte, hat die Überzeugungskraft der Herkunftserzählungen kaum gemindert. Allerdings waren sie für den Anspruch einer Dynastie oder einer Nation nur von begrenzter Bedeutung, solange die christliche Lehre bestimmend blieb. Das änderte sich mit Renaissance und Reformation, die dazu führten, daß das von der Kirche entworfene Geschichtsdenken in Frage gestellt wurde und eine sukzessive Alphabetisierung der europäischen Gesellschaften in Gang kam, die nicht nur zur Verbreitung von Kenntnissen führte, sondern auch Rechtfertigungsalternativen für neue politische Ordnungen entstehen ließ.
Während die katholischen Völker ihre Identität bis ins 20. Jahrhundert wesentlich aus der ungebrochenen lateinischen Überlieferung bezogen und Spanien, Portugal, Frankreich sowie die italienischen Staaten eine Kontinuität von der Antike bis in die eigene Gegenwart behaupten konnten, waren es die Länder Mittel- und Nordeuropas, in denen mit der evangelischen Lehre ein neues Selbstbewußtsein entstand, das aus der Idee der Erbfeindschaft Roms gespeist wurde. Schon Luther setzte seinen Kampf gegen die Kirche des Papstes mit dem des Arminius – Hermann gegen die Legionen des Augustus gleich.
Als Vorzeit erschien hier jene germanische Frühe, in der die eigene Identität noch nicht durch das Römisch-romanisch-Welsche entfremdet war, und gerade die Gefahr, in der die Überlieferung gestanden hatte, löste den Enthusiasmus bei Wiederentdeckung der eigenen Wurzeln aus. Der Rückgriff auf die germanische Vergangenheit wurde entscheidend für die Entwicklung der nationalen Identität der Deutschen, der Engländer, der Nordamerikaner und der skandinavischen Völker. Schweden ist dafür ein besonders interessantes Beispiel, weil das Land erst relativ spät eine stabile politische Organisation erhielt, nur kurz Bedeutung im Konzert der Mächte erlangte und die weitgehende Isolation den Fortbestand vieler Überreste sicherte, an denen sich die historische Phantasie entzünden konnte. Schon Gustav Adolf glaubte, die Schweden seien das älteste Volk der Erde, sah seine Krieger in direkter Nachfolge der alten „Goten“, ernannte einen „Reichsantiquar“ und ließ Runensteine, Megalithen oder Grabanlagen unter Schutz stellen. Sie galten aber nicht nur als Zeugnisse früherer Größe, sondern auch als ein Erbe, zu dem man sich in Beziehung setzen sollte. Ein General Karls XII. befahl Ende des 17. Jahrhunderts, verstorbene Offiziere in einer Schiffssteinsetzung zu begraben, damit sie bei den Helden der Vergangenheit ruhten.
Hatte sich die Vorstellung vom besonderen Rang des germanischen Altertums zu diesem Zeitpunkt in Schweden durchgesetzt, so war das auch den nationalpädagogischen Bemühungen von Historikern zu verdanken, unter denen man Olav Rudbeck als den bekanntesten – aber auch den umstrittensten – betrachten darf. Rudbeck veröffentlichte zwischen 1675 und 1698 eine dreibändige Darstellung der schwedischen Geschichte, die unter dem Titel Atlantica erschien und seine Heimat nicht nur mit dem Paradies Vorstellung von der Ausbreitung des kulturellen Fortschritts umkehrte. Rudbeck behauptete, alle Errungenschaften des Menschengeschlechts seien im Norden entstanden und dann nach Süden weitergegeben worden. Zwar suchte er noch den Ausgleich mit der biblischen Überlieferung, ersetzte aber das Postulat eines barbarischen Anfangs, den erst die Berührung mit der Mittelmeerwelt zu höheren Gesittungsformen führte, durch die Idee einer autochthonen Zivilisation, die durch fremde Einflüsse nur verlieren, nie gewinnen konnte.
Diese Vorstellung ist für jede Verknüpfung kollektiver Identität mit der Vorzeit entscheidend: das Eigene ist seinem Wesen nur am Beginn der Geschichte nahe, der Kontakt mit dem Anderen ist zumindest problematisch, wenn nicht überhaupt geeignet, das Wesen des Eigenen zu zerstören. Das kann den Gedanken fördern, man müsse die lebende, aber korrumpierte Überlieferung beseitigen und direkt an archaische Bräuche anknüpfen, die dem Wesen gemäßer, authentischer, „natürlicher“ seien; der 1811 in Schweden gegründete „Gotische Bund“ verwendete altnordische Namen für seine Mitglieder, benutzte bei gemeinsamen Festen Hörner, aus denen Met getrunken wurde und brachte in Erik Gustav Geijer einen wichtigen Führer des schwedischen Liberalismus, in Esaias Tegnér einen einflußreichen Dichter und in Per Henrik Ling jenen Mann hervor, der eine spezifische, schwedische Art des Turnens erfand, um nicht nur die körperliche Kraft, sondern auch den Geist der freien Bauern der alten Zeit wiederzubeleben.
Selbstverständlich hat die Entwicklung des schwedischen Nationalbewußtseins bis ins 19. Jahrhundert unter dem Eindruck einer eher poetischen als präzisen Vorstellung von der Vergangenheit gestanden. Das war zuletzt noch an der Begeisterung der Gebildeten für die gefälschten Ossian-Lieder zu erkennen; der im schwedischen Königshaus verbreitete Vorname „Oscar“ geht auf den zurück, den der Sohn des fiktiven gälischen Sängers trug. Erst die wissenschaftliche Archäologie und die systematische Erforschung der Bodendenkmäler machten eine genauere Darstellung der fernen Vergangenheit möglich. Aber noch die schwedische „Nationalromantik“ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lebte von der eklektischen Aufnahme einzelner Elemente der Vorzeit, die zu einem Idealbild verschmolzen wurden. Kennzeichnend für diese eigentlich schon „überholte“ Auffassung waren nicht nur die Gebäude im nationalromantischen Stil – etwa das Stadthaus von Stockholm oder die Vasa- und die Masthuggskirche in Göteborg –, sondern auch ein Teil der Wandbilder, die Carl Larsson für verschiedene öffentliche Gebäude anfertigte.
Als Larsson den Auftrag erhielt, das Nationalmuseum in Stockholm auszugestalten, war er ohne Zweifel der bekannteste schwedische Maler. Viele Bilder, die er seit 1896 für das Museumsgebäude gemalt hatte, behandelten die Geschichte der Kunst, aber für das letzte, erst 1915 vollendete, wählte er ein völlig anderes Thema. Unter dem Titel „Midvinterblot“ – „Mittwinteropfer“ schuf er eine monumentale Darstellung, die sich auf eine Stelle aus der Edda bezog, nämlich die Erzählung Snurri Sturlusons vom Opfer des Königs Domalde, der vor dem Tempel in Altuppsala – dem Zentralheiligtum des alten, heidnischen Schweden – getötet wurde, um durch die Hingabe seines Lebens eine Zeit der Mißernte und des Hungers zu beenden.
Larsson zeigte den erstickenden König, der sich in einer letzten Anstrengung auf die Zehenspitzen erhebt und den Riemen von seinem Hals zu lösen sucht, nicht im Zentrum, sondern etwas nach rechts verschoben. Die Blicke des Betrachters werden zuerst auf einen Priester in der Mitte gelenkt, der, weiß gekleidet, mit dämonischem Blick einen Thorshammer hebt, ohne daß ganz deutlich würde, ob es sich um eine Segensgeste oder Drohung handelt. Mit dem Rücken zum Betrachter steht ein rotgewandeter Scharfrichter, einen Dolch in der Hand, der dem Sterbenden den Todesstoß geben wird. Die ganze Szene spielt sich vor der Fassade des Tempels ab, zu den Seiten von König und Priester finden sich schwer bewaffnete Krieger, ekstatisch tanzende Frauen und Lurenbläser. Das Bild ist in leuchtenden Farben gemalt, mit einer erheblichen Menge Gold, die Linienführung erinnert an Einflüsse des Jugendstils.
Larsson selbst nannte „Midvinterblot“ sein wichtigstes Werk. Das war insofern konsequent, als ihn die Imagination der Vorzeit, die es kennzeichnet, seit langem beschäftigt hatte und auch für seine ehrgeizigste Idee bestimmend gewesen war. 1908 war von ihm die Errichtung eines „schwedischen Pantheons“ vorgeschlagen worden. Auf dem Grundriß des Tempels von Altuppsala sollte ein monumentales Gebäude errichtet werden, im Zentrum eine Darstellung des gekreuzigten Christus, aber umgeben von Figuren Odins, Thors und Baldurs, während eine Krypta der Aufnahme der Gebeine der schwedischen Helden dienen würde. Durch Fresken und Inschriften sollte dem Betrachter die Größe der Schweden vor Augen geführt werden, des „ältesten Volkes im Norden“.
Der Plan konnte niemals realisiert werden, wahrscheinlich auch, weil man ihn zu diesem Zeitpunkt schon als anachronistisch empfand. Sogar die Fertigstellung von „Midvinterblot“ war mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Seit dem Bekanntwerden von Larssons Konzept, 1911, hatte es scharfe Proteste gegeben. Einige Kritiker störten sich daran, daß Domalde nur eine mythische Figur sei, und eine Reihe von Vorgeschichtsforschern beklagte, daß Larsson jede historische Zuordnung der von ihm als Muster genommenen archäologischen Funde ignoriert habe. So spielte die Szene selbst in der Wikingerzeit und der war auch der Schlitten zuzuordnen, auf dem der König stand und der ganz deutlich dem Osebergfund entsprach, während die Bewaffnung der Krieger auf das 6. Jahrhundert zurückwies, die Lurenbläser in die Bronzezeit gehörten und die Architektur des Tempels, wenn überhaupt, dann den Stabkirchen des Hochmittelalters zugerechnet werden mußte, die Kleidung erinnerte an zeitgenössische Volkstrachten und die Löwen zu Seiten des Eingangstors an asiatische Skulpturen. Es haben diese Vorbehalte entscheidend dazu beigetragen, daß „Midvinterblot“ nach dem Tod Larssons, 1919, aus dem Nationalmuseum entfernt wurde und erst 1997 an seinen Bestimmungsort zurückkehren konnte. Der Grund für die Ablehnung war vor allem ein gewandelter Zeitgeist, der der Faszination durch die Anfänge zu mißtrauen begann.
Ein Bruch in der Art, die eigene Vorzeit aufzufassen, läßt sich bei allen europäischen Nationen des 20. Jahrhunderts feststellen. Die große Begeisterung Frankreichs und Irlands für die Kelten oder der russischen Narodniki für die frühe slawische Kultur hat darunter ebenso gelitten wie der Enthusiasmus von Deutschen, Skandinaviern und Engländern für die Germanen. Diese Distanzierung von einem wesentlichen Teil der eigenen Identität ging zurück auf die Zunahme und Verbreitung historischer Kenntnisse im Zusammenspiel mit einer dramatischen Veränderung der Lebenswelten. Wegen der heute üblichen Rede von der „Erfindung“ der Nationen wird oft ignoriert, daß diese bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg durchaus deutlich gegeneinander abgegrenzt werden konnten. Entscheidend dafür war die Statik der bäuerlichen Lebenswelt, die wiederum die Kontinuität der Substanz eines Volkes über sehr lange Zeit verbürgt hatte.
„Völkische“ Bewegungen entstanden um die Jahrhundertwende in den Städten und reagierten auf einen Modernisierungsprozeß, von dem zu recht vermutet wurde, daß er mit dem Bauerntum die nationale Identität prinzipiell infragestellte. Zum Kern aller völkischen Ideologien gehörte die Behauptung, daß die bäuerliche Kultur wichtige Elemente aus der Frühzeit tradiere und der bäuerliche Menschenschlag bestimmte nationale – dann auch: rassische – Eigenschaften in besonderer Qualität verkörpere. Diese Argumente ähnelten denen der Nationalromantik, was sie unterschied, war der tiefe Pessimismus der Völkischen. Für sie war der Identitätsverlust ein apokalyptischer Vorgang und sie neigten zu radikalen Maßnahmen, um ihn aufzuhalten. Das Scheitern entsprechender Versuche, aber auch die Brutalität der angewandten Mittel haben nicht nur zu einer Diskreditierung der völkischen Ideologien, sondern der Verknüpfung von Vorzeit und Identität überhaupt beigetragen.
Seitdem schien nur der „Dritten Welt“ diese Art des Rückgriff noch gestattet, um den Prozeß der Nationenbildung zu erleichtern. Das prominenteste Beispiel für den Versuch, Identität durch den Bezug auf eine ferne Vergangenheit zu schaffen, ist sicher Israel, das schon in seiner politischen Symbolik – Davidstern und Menora – auf einen Anfang zurückweist, zu dem keine direkte Verbindung mehr besteht, und das Archäologie von Staats wegen betreiben läßt, um den Bürgern der Gegenwart die Identifizierung mit den Hebräern der Antike nahezubringen oder Gebietsansprüche gegenüber den Nachbarn zu rechtfertigen. Daß man bis vor einigen Jahren die Elitetruppen der Armee nachts am Felsen von Massada vereidigte, der Bergfestung, deren jüdische Besatzung sich im Kampf gegen die Römer der Gefangennahme durch gemeinsamen Selbstmord entzogen hatte, war ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das Geschick, mit dem man diese Art von Selbstverständnis und Selbstdarstellung nutzen kann.
Im Vergleich zu Israel haben die arabischen Nationen erhebliche Probleme mit der Strukturierung ihrer Identitätspolitik. Der Rückgriff auf die mesopotamischen Großreiche im Irak, auf die Pharaonen in Ägypten oder die Phönizier im Libanon hat niemals die notwendige Resonanz gefunden. Ähnlich dem Katholizismus im Europa des Mittelalters behindert hier der Islam alle Versuche, einer anderen als der religiösen Identität Geltung zu verschaffen. Außerdem setzt die Nationenbildung Schulbildung voraus, und der Analphabetismus der arabischen Massen muß jede Verankerung eines neuen kollektiven Selbstverständnisses erschweren. Ein Problem, das in noch viel größerem Ausmaß in Afrika besteht. So bestechend auf den ersten Blick der Versuch Zimbabwes wirkt, die Rivalität der Stämme und das Erbe der britischen Kolonie Rhodesien dadurch zu überwinden, daß man mit dem Staatsnamen und der nationalen Identität an eine sagenhafte Kultur anknüpft, von der lediglich einige Ruinen im Inneren des Landes zeugen, es bedürfte doch ganz anderer als der vorhandenen Mittel, um erfolgreich zu sein und jenseits des Deklamatorischen eine Nation zu begründen.
Ganz anders als in Afrika oder im Nahen Osten stellt sich die Situation in vielen Ländern Asiens dar, vor allem dann, wenn sie zum Einflußgebiet der chinesischen Kultur gehören. Man kann die konservative Neigung des Konfuzianismus dafür verantwortlich machen, aber eine noch wichtigere Rolle dürfte die faktische Dauer spielen. Die kommunistische Führung in Peking betrachtet nicht nur die nationale Homogenität und die Tradition der Reichseinheit als feste politische Größen, sie wertet sogar die Funde älterer Hominiden als Beweise für die Siedlungskontinuität über Jahrtausende hinweg. Wenn man in Europa den unlängst gezeigten Film „Der Kaiser und sein Attentäter“ des chinesischen Regisseurs Zhang Yimou, in der die Person des Reichsgründers Shih Huang Ti behandelt wird, wegen seines Pathos mit einer gewissen Irritation betrachtete, so darf man sich doch nicht darüber hinwegtäuschen, welche Rolle die Erinnerung an eine heroische Vorzeit – das 3. vorchristliche Jahrhundert – für eine Macht spielen kann, die sich anschickt, auf die Weltbühne zurückzukehren.
Mit Jan Assmann ließe sich die Verbindung von Vorzeitbild und Identität als „heiße Erinnerung“ bezeichnen, insofern diese Erinnerung das Eigenartige erklärt, rechtfertigt und daraus Handlungsanleitungen folgert, also zu einer „Identifizierung“ führt, im Gegensatz zu allen Formen „kalter Erinnerung“, die nur chronologisch auflisten oder antiquarisch interessiert sind. Die „heiße Erinnerung“ dient dazu, der Kultur eine Identität zu verleihen. Das kann sie leisten, weil sie aus einem System von „Merkzeichen“ besteht, die das kollektive Gedächtnis strukturieren. Mit Tradition im landläufigen Sinn hat das wenig zu tun, denn entscheidend ist eben nicht, daß etwas gemerkt wird, sondern was gemerkt wird und von wem. Was ist geeignet, in Erinnerung behalten und vergegenwärtigt zu werden, was läßt sich so in Form bringen, daß die Weitergabe der Erinnerung tatsächlich gelingt, und wer entscheidet über das eine wie das andere?
Schon in den frühen Hochkulturen war die Beantwortung dieser Fragen deutlich erschwert durch die dauernd drohende Verflüssigung von Identität. Aber es haben sich mit der Veränderung auch neue Möglichkeiten eröffnet, um die Dauerhaftigkeit des komplexer werdenden Systems zu sichern. Ein wesentlicher Grund dafür ist das, was Assmann das Zusammenspiel von „Zeittiefe“ und „Gleichzeitigkeit“ nennt: Gerade weil die Hochkultur im Vergleich zur primitiven eine umfassendere Vorstellung geschichtlicher Dimensionen hat und sich mit der Schriftlichkeit von der Gefahr des Erinnerungsverlustes lösen konnte, gewann die Vorstellung einer unmittelbaren Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, vor allem zwischen der ruhmreichen Vorzeit und der Gegenwart, Gestaltbarkeit und Überzeugungskraft.
Erst wenn die Selbstverständlichkeit des Primitiven verloren gegangen ist, erhält die Frage nach dem Selbstbild ihre Dringlichkeit und wird gleichzeitig erkennbar, wie klein die Menge denkbarer Bezüge ist. Einen der wichtigsten bildet nach Assmann die Verknüpfung von Vorzeit und Identität. Ein ausgeprägter Archaismus läßt sich schon für viele antike Staaten nachweisen, und vielleicht war Homers Dichtung vom Trojanischen Krieg mit den ritterlichen Einzelkämpfern und Bronzewaffen, zurückversetzt vor das „dunkle Zeitalter“, ein Entwurf panhellenischer Gemeinsamkeit, dessen die Griechen des 6. und 5. Jahrhunderts vor Christus bedurften. Den Erfolg dieses Musters kollektiver Selbstvergewisserung führt Assmann auch auf die Bedeutung des Unbewußten zurück. Die Reize, auf die es anspricht, wirken zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlicher Intensität, ohne daß doch die Art der Reize beliebig oder deren Wirkung vollständig manipulierbar wäre.