Am Tag, als wir Einzug hielten in das Dorf, das nun unsere Heimat ist, war feierlich geflaggt. Fahnen flatterten an alten Hausmasten und in den Gärten. Ein Pferd war darauf, und Ferrari stand darunter. Irgendwo hatte Michael Schumacher gerade ein Rennen gewonnen.
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René, der ehemalige Komilitone aus Heidelberg, hat die Weltmeere bereist und ist, wie man so sagt, auf den Flughäfen der Weltstädte zu Hause. Den alten Grenzübergang von West nach Ost hat er im Jahre Vierzehn nach der Einheit erstmals passiert. Im Gepäck hatte er unter anderem zwei Dosen Ravioli. „Ich wußte nicht, ob es hier schon alles zu kaufen gibt“, sagte er, während wir in der Landmetzgerei ein Kilo Rostbräter abholten. Als er wieder fuhr, nagelten wir ihn fest: „Naja. Es ist schon schön hier, wirklich. Aber ehrlich: Ich kann nur im Westen leben.“
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Der Umzug nach Sachsen-Anhalt sorgt noch heute für verständnisloses Kopfschütteln bei den Eltern: „Als hättet Ihr nicht alles, hier, bei uns!“. Und doch gab es da mal eine ganz andere Stimmung. 1983, da hatte die Tochter den Luftballonwettbewerb des Kleingärtnervereins gewonnen. Den Gasballon der Grundschülerin aus dem Rhein-Main-Gebiet fand ein gleichaltriger Junge aus Meiningen, die Lokalzeitung (West) berichtete groß. Eine Ost-West-Brieffreundschaft entstand. Artige Briefe wanderten bald im Wochentakt über die Grenze, bald korrespondierten auch die Eltern. 1986 dann ein sorgsam geplantes erstes Familientreffen auf einer Nebenstraße zwanzig Kilometer hinter Herleshausen: Hier der Opel aus Offenbach, da der Trabi aus Meiningen. Die beiden Zwölfjährigen sehen sich lange verlegen an, die Erwachsenen nur kurz, dann fallen sie sich in die Arme. Sogar die beiden Männer. Beide Mütter weinen, heulen Rotz und Wasser, minutenlang. Die Tochter zum Vater, beiseite: „Aber ihr kennt euch doch gar nicht!“ Der Vater, leise und mit schwimmenden Augen: „Das sind doch unsere Brüder…“
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Wir hatten ihn einfach über, den Westen. Das Glatte, das Satte, das Fertige, den sorglosen Überfluß, die Problemchen; die allüberall geteerten Wege, die Städte mit ihren Städtern, die vom borderline genesen aus Langeweile gleich in die quaterlife-crisis wechselten; die Szenen mit ihren Kulten nachlässiger Coolness; die Kindergärten mit ihren „offenen Konzepten“ und all den Unverbindlichkeiten; den Slang der Eloquenz.
Nach Wohlstand verlangte uns nicht. Den hatten wir schon. Wir suchten einen „Ort“. Am Horizont leuchtete Mitteldeutschland, wie wir es schätzten von einem Jahrzehnt Urlaubsfahrten, Wanderungen, Bekanntschaften: die unverdorbenere Substanz, vierzig Jahre weniger Bauboom und Konsumterror; Unverstelltes insgesamt, Herzlichkeit ohne Taxierung, Kindergärten, in denen ErzieherInnen noch Tanten hießen, und viel mehr blond als türkisch in den Sandkästen. Ein „Wossi“ wurde eine Zeitlang jemand genannt, der als gebürtiger Westler der Heimat den Rükken zukehrte und gen Osten zog: aus nostalgischem Sentiment, auf der Suche nach Restbeständen eines zumindest in kleinen Strukturen funktionierenden Sozialismus.
Nein, das war nicht die Sehnsucht, die uns trieb, das war kein blindes Hinwegsehen über Armut, Stumpfheit und Ressentiment, die uns auch längst begegnet waren. Erst recht nicht die Verlockung durch das florierende Nostalgie-Angebot (Trabi, Filinchen, Pittiplatsch & Co), der heile und begrenzte Lebenswelten verheißt und doch nur als Szene-Accessoire und T‑Shirt-Aufdruck taugt. Wir fanden ein Volk, das auf eine bestimmte Art deutscher geblieben ist als der Westen und das von einem plötzlichen Schicksal gezeichnet erscheint.
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Während der Westen sich über den Verlust der vierstelligen Postleitzahl ereiferte und auf den geplanten Ausbau irgendeines Autobahnteilstücks einfach ein paar Jahre länger warten mußte, blieb für manchen Kumpel aus den Braunkohlelöchern im Süden Sachsen-Anhalts kein Stein mehr auf dem anderen. Seit der Wende haben im Durchschnitt täglich 78 Menschen das junge Bundesland verlassen. Wir lernten Männer kennen, die in zehn Jahren vier Mal umschulten; die nur noch in der Phase des Rückbaus ihrer alten Fabrik für drei Jahre nach der Wende einen Arbeitsplatz besaßen; die dann Trockenbau lernten, weitergereicht wurden auf eine Schule für Altenpfleger, die dann Packer waren für eine Saison und irgendwann in eine ABM rutschten, um mit einem Spaten an irgendeiner Landstraße entlang Eichen, Ebereschen oder Oxelbeeren einzupflanzen. Aber auch das, diese Arbeit, für die man nichts gelernt haben muß, lag zum Zeitpunkt der Erzählung schon wieder zwei Jahre zurück. Und so blickte auf uns fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch das sprechende Gesicht eines Menschen, der immer noch nicht wußte, wie ihm geschah.
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Als jüngst Bundespräsident Horst Köhler einmal mehr die Ost-West-Kluft zum Thema machte, wollte man seufzen und schimpfen: Schlecht verheilte Wunden erneut aufreißen, mußte das sein? Und steht das ausgerechnet einem Wessi zu? Und doch war es die richtige Debatte: Da ist ja noch gar nichts zusammengewachsen. Wie sehr im toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung der Osten der Republik sich befindet, weiß nur, wer hier lebt – und zwar nicht in einer der wenigen ausgewiesenen Boom-Zonen in Sachsen und Thüringen, die durch Mentalität, Geschichte und Nachwendepolitik Sonderrollen einnehmen.
Gruselszenarien trifft an, wer die entmenschten Plattenbaulandschaften von Weißwasser oder Halle Neustadt aufsucht oder an Bahnhöfen aussteigt, durch deren Decken und Unterführungen das Regenwasser in die Urinpfützen der Alkoholiker tropft. Journalisten und tonangebende Literaten sind an solchen Orten des Hartz-IV-Landes nur Besucher – es wohnen keine Korrespondenten in Eisenhüttenstadt oder Braunsbedra. Gesendet oder gedruckt werden allenfalls äußere Eindrücke, die krassen Schlaglichter eben. Das finstere Herz dieses graudeutschen Alltags ist selten beschrieben.
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Da ist diese Kleinstadt, Mücheln, direkt im Herzen der alten Ostzone. Wie die umliegenden Orte und die nahen Städte Merseburg und Weißenfels ist sie rot durch und durch, und das war schon immer so. Beinahe immer: Jungsteinzeitlich stellte sie ein bedeutendes Siedlungsgebiet dar, und derzeit erregen die neuesten Funde der Archäologen großes Interesse. Das erfährt der Leser überregionaler Zeitungen durch große Artikel. Vor Ort aber interessiert es keinen Menschen. Zu DDR-Zeiten genoß die Region ein gewisses Ansehen, die Leute arbeiteten im benachbarten Leuna oder direkt vor Ort in der Schmiermittelproduktion – die Speerspitze des Industrieproletariats.
Das letzte Schmiermittelwerk aber hat vor Jahren dicht gemacht, und die Kohlegruben, die der Landschaft ein pockennarbiges Gesicht geben, werden auch dann, falls sie im nächsten Jahrzehnt mit Wasser befüllt sein sollten, nicht die touristischen Hoffnungen der wenigen erfüllen, die noch auf die Region Geiseltal setzen.
Es ist ein herber Landstrich mit derben Menschen, derber Sprache: das Butterbrot heißt Bemme, Hunger Gnast, arbeiten klejchen; ein Kind mit vollen Windeln hat eingekackt, etwas milder: eingeschustert, Adjektive werden durch urz gesteigert, und unsere Familie mit fünf Kindern hat urz viele Wänste zu ernähren.
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Greifen wir eine Alltagsszene heraus, Ort: das Müchel-Center, Erstellungsjahr 1997, inmitten genossenschaftlicher Wohnanlagen. Bereits baulich stellt der silbergraue Klotz eine groteske Fehlplanung dar, der Beton ist längst fleckig, die großen gläsernen Flächen stumpf und zerkratzt, überall sitzt Schimmel, und im Innern riecht es stockig und verbraucht. Der Komplex, ausgelegt für zehn bis zwölf Ladengeschäfte, beherbergt seit diesem Sommer nurmehr Penny, Schlecker, Getränkeladen, Pizza-Service und eine Apotheke. Wie meistens ist nur ein Dutzend der etwa hundertfünfzig Parkplätze belegt, als ein Ford Escort langsam vorfährt, langsam, weil das Pflaster an vielen Stellen hoch aufgesprungen und der Wagen tiefergelegt ist. Das Röhren des Sportluftfilters und die hämmernden Bässe vermengen sich zu einer Lärmlawine. Vor dem Schlecker läßt der Fahrer seine Gefährtin aussteigen, ein Weiblein auf Turnschuhen mit Zehn-Zentimeter-Sohle und mit der ortsüblichen Haartracht in schwarzrotgelb, hinterkopfs aufgebauscht und starr fixiert. Ist sie siebzehn, ist sie dreißig? Die solariumgegerbte Haut macht eine Einschätzung schwierig. Die Musik wird lauter gestellt, nach kleinem Einkauf wird die Fahrt fortgesetzt. Fünfzig Metern weiter entsteigt der Fahrer selbst, bei laufendem Motor, und kehrt mit zwei Sixpacks zurück. Das Gefährt rumpelt weiter, um vor dem Penny zu halten, direkt bei der Tür, wo keine Parkplätze mehr ausgewiesen sind. Das ist eine kleine Machtgebärde, gerichtet an die Handvoll Jugendlicher, die hier regelmäßig vor der Einkaufswagenreihe lungern, rauchen und hin und wieder Unverständliches pöbeln. Sie grüßt lässig, betritt den Laden; der Fordmensch aber beginnt ein Gespräch mit einem anderen, der ein Hemd mit der Aufschrift „Übermensch“ trägt. Als die Dame den Einkaufsmarkt wieder verläßt, ist der Boden zwischen den beiden Jungs mit Kippen übersät. Man gönnt sich ja sonst nichts.
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Aus Mücheln haben sich in den letzten Jahren unter anderem verabschiedet: ein Fachgeschäft für Gardinen und Kurzwaren, eines für Farben und Lacke, ein gutbürgerliches Restaurant, zwei Schuhläden, ein Schreibwarengeschäft, das Waldbad, das kleine Hallenbad, die Postfiliale, die Polizeiwache, zwei Arztpraxen, einer der drei Kindergärten. Und vor allem: die Menschen. Wer jung ist, vor allem: jung und weiblich, der geht. Während die Genossenschaftswohnblöcke aus den fünfziger Jahren zum größeren Teil noch bewohnt sind, stehen die kleinen Häuser in der schmucken Altstadt weitgehend leer und verfallen, das Wasserschlößchen verkommt mit jedem unbewohnten Winter mehr zur Ruine, im prächtigen Rathaus mit dem Festraum lassen sich nur noch selten Liebende trauen.
Was hinzugekommen ist: Zwei Sonnen-Studios, zwei weitere Supermärkte (zu den vier bereits bestehenden), ein Döner-Imbiß, ein Snack-Point, ein Asia Home-Service und ein Getränkestützpunkt, der von früh bis in die Nacht den Alkoholikern Orientierung bietet und sichtbar an Zulauf gewinnt. Der Bahnhof außerhalb des Stadtzentrums ist in einem Zustand, der westlich der alten Grenze nicht vorstellbar ist und dort Bürgerinitiativen auf den Plan rufen würde, längst bevor der Verfall wirklich greifbar wäre: sämtliche Fensterscheiben sind zerborsten, die Scherben liegen noch zwischen dem Dreck der letzten Jahre und den Lachen, die nie austrocknen. Von der Decke hängt in Lappen die abplatzende billige Dispersionsfarbe, wie auch sonst alles in Auflösung erscheint; überall bröckelt es, der Putz, die Treppen zum Bahnsteig, und selbst die Überdachung an den Gleisen wirkt, als könne sie den nächsten Sturm nicht überstehen. Wer unter den Resten einer Bahnsteigüberdachung wartet, hat ständig das Gefühl, daß hier kein Zug je halten werde.
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Das passive Hinnehmen von Mißständen ist etwas, an das sich der Zugezogene aus dem Westen schwer gewöhnen kann, selbst wenn ihm die Berufsaufbegehrer, Dauernörgler und Näselstimmen: die Besserwessis eben die heimische West-Stadtatmosphäre mit ihren Individualallüren verdorben hatten. Aber hier: Ob es der Dorfkindergarten ist, der geschlossen werden soll, ob es die schlampig verlegte Kanalisation ist, die die Kleinstadt bei jedem Niederschlag mit Fäkalgeruch überzieht oder der Schulbus, der aufgrund Fehlplanung oder Ignoranz zwei Dörfer am Nachmittag nicht mehr anfährt – man duldet es still oder nörgelt nur leise.
Dies war nicht immer so. Und die Dorffeste, die ordentlichen Fassaden und Innenhöfe, die Hausschlachtung beweisen, daß zugepackt, organisiert, geordnet, geplant wird, daß die Dinge gelingen können und daß für den Ort und den Nachbarn mitgedacht wird. Auffällig ist, daß alles, was vom Staat oder vom Westen kommt, in einer Mischung aus Resignation, tiefsitzender Enttäuschung und einem Restchen Trotz angesprochen, aber nie angegangen, geschweige denn begrüßt wird. Man nimmt hin, biegt ab, verschiebt. Dabei war der Vorschuß an Vertrauen, den jeder Mitteldeutsche den Westlern, dem neuen System entgegenbrachte, groß genug auch für einzelne Enttäuschungen. Es ist aber wohl zuviel vorgefallen, viel zu viel.
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Als 1989 die Mauer fiel, war das in den bodenseenahen Gemeinden Oberschwabens für manche Leute nicht wichtiger oder interessanter als das neue Kinoprogramm. Die ersten Trabis erreichten Ravensburg irgendwann kurz vor Weihnachten. Der Anblick der Pappautos ließ bei einem gewitzten Nichtsnutz, bei einem der wenigen Lungerer der Stadt, eine Geschäftsidee reifen. Er bestieg einen alten Mercedes, fuhr weit nach Sachsen hinein und verkaufte ihn für das Doppelte des Preises, den er selbst bezahlt hatte. Bald fuhren seine Freunde Konvoi. Klar war: Es gab keine Stammkundschaft, Orte, in denen einmal verkauft wurde, mied der Troß zukünftig. Wie viele gutgläubige Ossis nach ein paar hundert gefahrenen Kilometern vor einem kaputten Motor, einem abgefallenen Auspuff oder einem geplatzten Kühler standen, interessierte den Geschäftsmann nicht. Seine Erzählungen hatten ihren Höhepunkt eben stets dort, wo er von seinen Finten und den dummen Käufern sprach.
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Solche Eroberer mag es zu Tausenden gegeben haben in den Monaten und Jahren nach der Wende. Sie alle haben den Kredit verspielt, den die Menschen aus den neuen Ländern gewährten. Und von einer grundsätzlichen Undankbarkeit oder Erwartungshaltung kann in Mitteldeutschland keine Rede sein. Jeder sieht die neuen Straßen, die Renovierungsleistungen in alten Städten, die Gewerbegebiete längs der A4, die Bemühungen, über ABM-Stellen doch einen Prozentsatz der Arbeitslosen sinnvoll zu beschäftigen.
Was die Leute jedoch nicht kannten, war die Taxierung des Gegenübers nach seiner Kaufkraft, seinem Gehalt, seiner Nützlichkeit, selber an ihm und über ihn hinweg noch eine Mark zu verdienen. Die Einteilung der Anderen in Gruppen unterschiedlicher Konsumfähigkeit war neu, ebenso neu wie die alles dominierende Bewertung des Menschen über seine Fähigkeit, teure Trends in Kleidung, Frisur, Auto, Inneneinrichtung und Urlaub mitmachen zu können. Eine Schocktherapie brachte den Sachsen und Thüringern, den Brandenburgern, Pommern und Anhaltinern beide Lehren bei.
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Die Gläubigkeit in den Westen als dem guten Lehrmeister ist längst verschwunden. In unserem Dorf wohnt einer, der binnen weniger Jahre von einem guten, beinahe stolzen Arbeiter zu einem grauverfallenen Alkoholikern geworden ist, weil ihm außer einer Konsumbeihilfe kein Lebenssinn mehr angeboten wurde. Zurückgekehrt ist längst die dem Menschen gemäße Erkenntnis, daß nicht jeder alleine, selbständig weiterzukommen vermag. Sinnvoll zu leben auch ohne dickes Gehalt, vielleicht sogar ohne Aussicht auf regelmäßige Arbeit: Die kleinen Dörfer Mitteldeutschlands sind Experimentierküchen für solche Fragestellungen, Experimentierküchen freilich, die nichts theoretisch aufarbeiten, sondern alles praktisch angehen und dem Westen an Erfahrung meilenweit voraus sind.