Die Deutsche Frage wurde von Wagner auf sehr deutsche Weise gestellt: als philosophische Wesensfrage. Entsprechend grundsätzlich lautete seine Antwort: „Deutsch sein“ heiße, „die Sache die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben; wogegen das Nützlichkeitswesen, d. h. das Prinzip, nach welchem eine Sache des außerhalb liegenden persönlichen Zweckes wegen betrieben wird, sich als undeutsch herausstellte. Die hierin ausgesprochene Tugend des Deutschen fiel daher mit dem durch sie erkannten höchsten Prinzip der Ästhetik zusammen, nach welchem nur das Zwecklose schön ist, weil es, indem es sich selbst Zweck ist, seine über alles Gemeine erhöhte Natur, somit das, für dessen Anblick und Erkenntnis es sich überhaupt der Mühe verlohnt, Zwecke des Lebens zu verfolgen, enthüllt.“
Im Laufe der Rezeptionsgeschichte dieser Wesensbestimmung indessen wurde die „Sache um ihrer selbst willen“ von ihren ethischen und ästhetischen Bezügen gewaltsam isoliert und in ihr reinstes Gegenteil verkehrt, nämlich als Maxime gewissenloser Pflichterfüllung mißdeutet. Adorno etwa verfiel dem Kurzschluß, die Judenvernichtung sei um ihrer selbst willen betrieben worden. Dabei hatte Himmler doch unmißverständlich verkündet, es gebe „keine Aufgabe um ihrer selbst willen“ und darum werde kein SSMann jemals eine Sache um ihrer selbst willen tun. Das nationalsozialistische Mordprogramm, heißt das, war im Sinne Wagners zutiefst undeutsch.
Aber bereits zu seiner Zeit verspürte Wagner ein großes Unbehagen in der Kultur, die sich nur aus einem tiefen „Mißverständnis des deutschen Geistes“ heraus als eine „deutsche“ betrachten konnte. Der Eigensinn einer wahrhaft deutschen Kultur, wie sie durch die Reformation und die spätere kulturprotestantische Säkularisierung des Luthertums grundgelegt worden war, vermöchte erst ganz zu sich selbst zu finden, wenn sie ihre „Pseudomorphose“ durch die französische Zivilisation, den englischen Utilitarismus und den jüdischen Mammonismus abgeschüttelt hätte, die ihr noch das Bewußtsein ihrer Selbstentfremdung raubte. Wagners Besinnung auf Kants Ethik, Schillers Ästhetik und Schopenhauers Metaphysik zielte darauf ab, den eingekesselten deutschen Geisteskräften von innen her einen Weg ins Offene zu bahnen.
Allerdings schien ihm die deutsche Geschichte auch vor den Zeiten politischer und kultureller Fremdherrschaft noch nie ihrer Wesensbestimmung gemäß verlaufen zu sein. Bereits das Heilige Römische Reich deutscher Nation verfiel seiner Kritik als eine historische Periode, „welche dem deutschen Wesen verderblich war, nämlich die Periode der Macht der Deutschen über außerdeutsche Völker“. Dagegen habe erst „mit dem Verfall der äußeren politischen Macht die rechte Entwicklung des wahrhaften deutschen Wesens“ begonnen. Während deutsche Philosophie, Dichtung und Musik aber von allen Völkern der Welt hochgeachtet seien, könnten sich die Deutschen unter „deutscher Herrlichkeit“ noch immer nichts anderes vorstellen als die Wiederherstellung des römischen Kaiserreiches. Nicht jedoch zur Weltherrschaft im Sinne römischer Staatspolitik sei Deutschland künftig berufen, sondern zur Weltveredelung im Zeichen einer deutschen Kulturmission.
Und von diesem deutschen Weg in die Zukunft wollte Wagner „Gewalt vollständig ausgeschlossen“ wissen, denn „die Begierde, über fremde Völker zu herrschen, ist undeutsch“. Mit solchem kulturpazifistischen Antiimperialismus freilich stand Wagner widerständig quer zur auftrumpfenden Selbstherrlichkeit der Gründerzeit. Wie auch Nietzsche und Burckhardt erschien Wagner die deutsche Reichspolitik als eine schlechte Kopie des französischen Bonapartismus, dem seinerseits der römische Cäsarismus als Vorbild diente. Angesichts der unaufhaltsamen Verpreußung des deutschen Geistes, dessen humane Anlagen politischem Machtstreben und wirtschaftlichem Fortschritt geopfert wurden, bekannte Wagner, er sei „nicht auf den Rang der Tagespatrioten zu zählen, denn was einer unter den jetzigen deutschen Verhältnissen leiden kann, das leide ich, ich hänge gleichsam am Kreuze des deutschen Gedankens“.
Es war kein Wahnsinn des Eigendünkels, der Wagner dieses martyriologische Selbstbild eingegeben hätte; des langjährigen Exilanten Lebens- und Leidensgeschichte an der deutschen Misere reichte hin, ihn zur „vollständigen Verzweiflung an Deutschland“ zu treiben.
Wagners Kampf um die deutsche Kulturnation und gegen den preußischen Machtstaat ist vielfach als Bekenntnis eines Unpolitischen zu reiner Innerlichkeit mißdeutet worden. Dabei hatte Wagner bereits Mitte der sechziger Jahre in seinem an Ludwig II. adressierten „politischen Programm“, das sich an den metapolitischen Ideen des antipreußischen Publizisten Constantin Frantz orientierte, eine von großdeutschem Idealismus getragene historische Alternative zum kleindeutschen Realismus Bismarcks entworfen.
Gegen die hegemonialen Bestrebungen Preußens und Österreichs warb Wagner für ein durch die rettende Vermittlung Bayerns föderalistisch organisiertes Deutschland, dem schließlich die Rolle einer kulturellen Schirmherrschaft über einen europäischen Völkerbund zuwachsen sollte. Während ein großpreußischer Staat zentralistischen Zuschnitts nur zu einer kulturfeindlichen politischen Zwangsherrschaft führen könne, würde ein großdeutsches Reich föderalistischer Prägung die Vielfalt der nationalen und regionalen Kulturen Europas nicht unterdrücken, sondern aufblühen lassen.
Als sich Deutschland jedoch im Zuge der Reichsgründung in einen „langen Winterschlaf unter preußischer Obhut“ begab, ging auch Wagner den Weg ins innere Exil seiner Kunstreligion. Sein deutsches Reich war „nicht von dieser Welt“, sondern wollte sich als eine heilsame Gegenwelt behaupten, darin es der Kunst vorbehalten sei, den Kern der künstlich gewordenen christlichen Religion zu retten: Allein im ästhetischen Ausnahmezustand erhabener Entrückung könne der moderne Mensch sich noch aus der transzendentalen Obdachlosigkeit seiner profanen Existenz erlösen und wieder zu seinem heiligen Wesen zurückfinden. Wagners späte gnostische Weltverachtung stand indessen nicht im Dienste eines reinen l’art pour l’art, denn immer wieder sammelte er sich, um „ruhig und still den edlen Herd zu bereiten, an dem sich einst die deutsche Sonne wieder entzünden soll“. Von den Ideen Paul de Lagardes berührt, der den deutschen Geist als Leitbegriff einer völkischen Regeneration propagierte, schien auch Wagner bisweilen eine Sehnsucht nach völkischem Erwachen zu überkommen. Anders aber als Lagarde, in dessen Ohren wiederum die Wagnersche Musik undeutsch klang, richtete sich Wagners Hoffnung auf eine Wiedergeburt nicht nur des deutschen Volkes, sondern der europäischen Menschheit insgesamt. Und wenn ihm gerade der „aus dem Mysterium der wunderbarsten Musik“ wiedergeborene „deutsche Geist“ für dieses reinmenschliche Erlösungswerk auserwählt schien, so weil Wagner darin eben keinen völkischen Partikularismus, sondern einen völkerverbindenden Universalismus angelegt sah.
Wagner dachte groß genug, um die Weltgeltung des deutschen Wesens nicht in dessen nationaler Genese aufgehen zu lassen: weder in einem romantischen Volksgeist, noch im historischen Nationalcharakter, geschweige denn in biologischen Rassemerkmalen der Deutschen. Als wahrhaft deutsch ging ihm vielmehr ein reinmenschliches Ethos auf, welches an das bestimmte Volk, das es historisch hervorgebracht hat, strukturell nicht gebunden ist – und das sich daher auch nicht gegen andere Völker richtet. So läuterte Wagner das Deutsche zu einer rein philosophischen Geisteshaltung empor und geriet dabei „in eine sonderbare Skepsis, die mir das ‚Deutschsein‘ als ein reines Metaphysikum übrigläßt, als solches mir dieses aber grenzenlos interessant und jedenfalls ganz einzig in der Weltgeschichte erscheinen läßt, vielleicht mit dem einzigen Pendant des Judentums zur Seite“.