1. Oktober 2004
Entwurzelung – Maurice Barrès
Gastbeitrag
pdf der Druckfassung aus Sezession 7 / Oktober 2004
Maurice Barrès (1862 – 1923), obwohl als Autor heute fast vergessen, gehörte im 20. Jahrhundert zu den einflußreichsten Schriftstellern Frankreichs, von Robert Brasillach bis Simone Weil haben ihm viele Dank abgestattet. Aber das ist lange vorbei. Wenn man mit dem Namen heute noch etwas verbindet, dann die Bedeutung von Barrès als ideologischer Vordenker, äußerstenfalls als „Erzvater des Faschismus“. Der Grund dafür liegt in seinem Einfluß auf die Entstehung des modernen französischen Nationalismus, eine weltanschauliche Position, von der er ursprünglich sehr weit entfernt gewesen war.
Doch Barrès konnte Erkenntnis nicht in Gott suchen, denn für ihn gab es keine absolute Wahrheit. Vielmehr bestimmte ein Gefühl der Leere und der Sinnlosigkeit sein Leben. Dieser Nihilismus schlug sich in dem Empfinden nieder, das Barrès als „Entwurzelung“ bezeichnete und das in seinen Werken schon früh eine wichtige Rolle spielte. Wie er in Vom Blute, von der Wollust und vom Tode bemerkte, war Nihilismus ein Synonym für moralische Entwurzelung. Daneben hatte Entwurzelung auch noch einen räumlichen Aspekt: Sie gehörte zum Dasein des Kosmopoliten, als der sich Barrès lange empfand, wie zur Existenz des Vertriebenen, der er als Angehöriger einer lothringischen Familie war, die 1871 ihre Heimat hatte verlassen müssen.
In Reaktion auf die Entwurzelung entstand schließlich Barrès’ nationalistische Weltanschauung, die er nicht nur theoretisch vertrat, sondern auch in die politische Debatte einbrachte und literarisch in seinen Romanen umsetzte. Nachdem das Ich sich vollends selbst analysiert hatte, mußte es feststellen, daß seine Unabhängigkeit fiktiv war. Wie Barrès durch Hippolyte Taine wußte, wurde der Mensch von Rasse, Milieu und zeitlichen Umständen bestimmt. Sein Denken war geprägt durch die Vorfahren, die Geschichte, durch Reflexe. Diese Überlegungen führten Barrès zu dem Schluß: Il n’y a pas de liberté de penser – „Es gibt kein Freiheit des Denkens“, das heißt, die Vorstellung, es sei eine vollständige intellektuelle Emanzipation möglich, mußte Illusion bleiben.
Das waren deprimierende Eingeständnisse für jemanden, der das eigene Ich zur Vollkommenheit hatte führen wollen. Aber Barrès versuchte das Scheitern positiv zu wenden: Das Ich könne in diesem Zustand, dem nicht zu entfliehen sei, durchaus erfüllt leben, wenn es sich mit ihm abfinde. Sei dieser Schritt vollzogen, werde es sich auch einfügen in die Welt seiner Ahnen mit all ihrer Energie und ihren großen Anstrengungen und an ihr teilhaben. An einer großen Energie, die über den persönlichen Kräften stand, teilzuhaben – das hatte Barrès bereits als „Egotist“ gewünscht. Unter dem Eindruck der Lebensphilosophie sehnte er sich nach dem élan vital, der alles durchdringen und kräftigen sollte.
Damit verbunden war für Barrès eine besondere Art des Heroenkults, die Verehrung aller Männer, die – bei höchst unterschiedlichen Zielen – Großes geleistet hatten. Barrès pilgerte zu vielen Grabstätten bedeutender Persönlichkeiten. Das war der Ursprung seiner Verehrung für „die Erde und die Toten“, eigentlich „Boden und Blut“ – la terre et le sang. Erst später hat er diesen Kult auf den Boden und die Toten Frankreichs beschränkt.
Auf der Vorstellung von der heimatlichen „Erde und ihren Toten“, aus der der Mensch ähnlich einer Pflanze seine Lebenskraft ziehe, beruhte Barrès’ Vorstellung von Nationalismus als „Bejahung eines Determinismus“. Sein Nationalismus war nicht bestimmt durch ein Gefühlsmoment oder die Zugehörigkeit zu einer der älteren politischen „Denkfamilien“, sondern durch eine bewußt vollzogene Entscheidung: die eigene Vorprägung zu akzeptieren, darin endlich eine Verwurzelung zu finden und insofern „Nationalist“ zu werden. Im Nationalismus glaubte Barrès auch das zu finden, was er schon im Ich-Kultus erstrebt hatte: eine Möglichkeit, die Seele zu entwickeln, ein „Mittel der Adelung“. So glaubte er auch Kollektivismus und Individualismus zu versöhnen. Indem der Mensch seine Abhängigkeit von Herkunft, Geschichte und Vorfahren akzeptierte, gewann er Halt. Frankreich, das ewige Frankreich, sei der „Friedhof“ seiner Toten. Gemeinsame Ahnen, gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Sitten und „der Wille, dieses unteilbare Erbe fortzusetzen und geltend zu machen“ beschrieben nach der Definition von Barrès das Wesen der Nation. Dieses französische Erbe umfaßte für Barrès die Gesamtheit aller französischen Traditionen: das revolutionäre, das monarchische, das kaiserliche, das katholische, das positivistische Frankreich. Alle Traditionen stammten schließlich aus derselben Wurzel und hätten dasselbe Ziel: die Größe Frankreichs. Barrès’ Frankreich war demnach weder rechts noch links, sondern eine neue, eine politische Einheit über den Parteien.
In der Konsequenz seiner Doktrin konnte es keine absolute und abstrakte Wahrheit geben, nach der die Nation zu leiten war, nur eine „französische Wahrheit“. Um alle Traditionen Frankreichs zur Geltung zu bringen, mußte sie relativistisch im Hinblick auf die „Menschheit“ sein. Es gelte der sens du relatif, die „französische Wahrheit“ sei nur die „Gesamtheit der richtigen und wahren Beziehungen zwischen gegebenen Dingen und … dem Franzosen“. Die „französische Vernunft“ habe die Aufgabe, diese Beziehungen zu entdecken. Mit diesem Wissen suchte der neue Nationalismus „unsere Kunst, Politik und alle Tätigkeiten zu gewinnen“. Das bedeutete auch, daß der Nationalismus nicht Weltanschauung bleiben durfte. „Alles in Hinblick auf die Größe des Staates zu beurteilen“ sollte seine Maxime werden. Barrès hat mit dieser Vorstellung in einer Weise prägend auf das französische politische Denken gewirkt, die es erlaubt, seinen Einfluß bis heute zu erkennen und zwar auch außerhalb des so apostrophierten „nationalistischen“ Lagers.
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