Entwurzelung – Maurice Barrès

pdf der Druckfassung aus Sezession 7 / Oktober 2004

sez_nr_7von Martina Hartmann

Maurice Barrès (1862 – 1923), obwohl als Autor heute fast vergessen, gehörte im 20. Jahrhundert zu den einflußreichsten Schriftstellern Frankreichs, von Robert Brasillach bis Simone Weil haben ihm viele Dank abgestattet. Aber das ist lange vorbei. Wenn man mit dem Namen heute noch etwas verbindet, dann die Bedeutung von Barrès als ideologischer Vordenker, äußerstenfalls als „Erzvater des Faschismus“. Der Grund dafür liegt in seinem Einfluß auf die Entstehung des modernen französischen Nationalismus, eine weltanschauliche Position, von der er ursprünglich sehr weit entfernt gewesen war.

Denn der Schrift­stel­ler und Dan­dy Bar­rès begann sei­ne intel­lek­tu­el­le Lauf­bahn im Zei­chen des égo­tis­me. Zur Zeit der Jahr­hun­dert­wen­de, in der die moder­nen Wis­sen­schaf­ten alles dem Men­schen Selbst­ver­ständ­li­che frag­wür­dig wer­den lie­ßen, konn­te sich das Ich ein­zig auf sich selbst ver­las­sen. Denn nur das, was selbst erlebt und emp­fun­den war, erschien noch wirk­lich. Die Auf­ga­be des Intel­lek­tu­el­len bestand des­halb nach Bar­rès’ dar­in, „soviel wie mög­lich zu füh­len, indem man soviel wie mög­lich ana­ly­siert“. Um die­ses Ziel zu errei­chen, streb­te er eine Ver­voll­komm­nung des Ichs an, die deut­li­che reli­giö­se Züge trug. In sei­nem Roman­zy­klus Le Cul­te du Moi ließ er die Prot­ago­nis­ten nach einem mönchs­ähn­li­chen Tages­ab­lauf leben, der die per­sön­li­che Ent­wick­lung för­dern soll­te. Das war kein Zufall, denn Bar­rès, obwohl per­sön­lich glau­bens­los, rich­te­te sein Inter­es­se auf die Leh­ren der katho­li­schen Mys­ti­ker, vor allem die des Igna­ti­us von Loyo­la. Wie die­se soll­te auch der Ich-Kul­tus der Aske­se und damit der Erkennt­nis dienen.
Doch Bar­rès konn­te Erkennt­nis nicht in Gott suchen, denn für ihn gab es kei­ne abso­lu­te Wahr­heit. Viel­mehr bestimm­te ein Gefühl der Lee­re und der Sinn­lo­sig­keit sein Leben. Die­ser Nihi­lis­mus schlug sich in dem Emp­fin­den nie­der, das Bar­rès als „Ent­wur­ze­lung“ bezeich­ne­te und das in sei­nen Wer­ken schon früh eine wich­ti­ge Rol­le spiel­te. Wie er in Vom Blu­te, von der Wol­lust und vom Tode bemerk­te, war Nihi­lis­mus ein Syn­onym für mora­li­sche Ent­wur­ze­lung. Dane­ben hat­te Ent­wur­ze­lung auch noch einen räum­li­chen Aspekt: Sie gehör­te zum Dasein des Kos­mo­po­li­ten, als der sich Bar­rès lan­ge emp­fand, wie zur Exis­tenz des Ver­trie­be­nen, der er als Ange­hö­ri­ger einer loth­rin­gi­schen Fami­lie war, die 1871 ihre Hei­mat hat­te ver­las­sen müssen.
In Reak­ti­on auf die Ent­wur­ze­lung ent­stand schließ­lich Bar­rès’ natio­na­lis­ti­sche Welt­an­schau­ung, die er nicht nur theo­re­tisch ver­trat, son­dern auch in die poli­ti­sche Debat­te ein­brach­te und lite­ra­risch in sei­nen Roma­nen umsetz­te. Nach­dem das Ich sich voll­ends selbst ana­ly­siert hat­te, muß­te es fest­stel­len, daß sei­ne Unab­hän­gig­keit fik­tiv war. Wie Bar­rès durch Hip­po­ly­te Taine wuß­te, wur­de der Mensch von Ras­se, Milieu und zeit­li­chen Umstän­den bestimmt. Sein Den­ken war geprägt durch die Vor­fah­ren, die Geschich­te, durch Refle­xe. Die­se Über­le­gun­gen führ­ten Bar­rès zu dem Schluß: Il n’y a pas de liber­té de pen­ser – „Es gibt kein Frei­heit des Den­kens“, das heißt, die Vor­stel­lung, es sei eine voll­stän­di­ge intel­lek­tu­el­le Eman­zi­pa­ti­on mög­lich, muß­te Illu­si­on bleiben.
Das waren depri­mie­ren­de Ein­ge­ständ­nis­se für jeman­den, der das eige­ne Ich zur Voll­kom­men­heit hat­te füh­ren wol­len. Aber Bar­rès ver­such­te das Schei­tern posi­tiv zu wen­den: Das Ich kön­ne in die­sem Zustand, dem nicht zu ent­flie­hen sei, durch­aus erfüllt leben, wenn es sich mit ihm abfin­de. Sei die­ser Schritt voll­zo­gen, wer­de es sich auch ein­fü­gen in die Welt sei­ner Ahnen mit all ihrer Ener­gie und ihren gro­ßen Anstren­gun­gen und an ihr teil­ha­ben. An einer gro­ßen Ener­gie, die über den per­sön­li­chen Kräf­ten stand, teil­zu­ha­ben – das hat­te Bar­rès bereits als „Ego­tist“ gewünscht. Unter dem Ein­druck der Lebens­phi­lo­so­phie sehn­te er sich nach dem élan vital, der alles durch­drin­gen und kräf­ti­gen sollte.

Damit ver­bun­den war für Bar­rès eine beson­de­re Art des Heroen­kults, die Ver­eh­rung aller Män­ner, die – bei höchst unter­schied­li­chen Zie­len – Gro­ßes geleis­tet hat­ten. Bar­rès pil­ger­te zu vie­len Grab­stät­ten bedeu­ten­der Per­sön­lich­kei­ten. Das war der Ursprung sei­ner Ver­eh­rung für „die Erde und die Toten“, eigent­lich „Boden und Blut“ – la terre et le sang. Erst spä­ter hat er die­sen Kult auf den Boden und die Toten Frank­reichs beschränkt.
Auf der Vor­stel­lung von der hei­mat­li­chen „Erde und ihren Toten“, aus der der Mensch ähn­lich einer Pflan­ze sei­ne Lebens­kraft zie­he, beruh­te Bar­rès’ Vor­stel­lung von Natio­na­lis­mus als „Beja­hung eines Deter­mi­nis­mus“. Sein Natio­na­lis­mus war nicht bestimmt durch ein Gefühls­mo­ment oder die Zuge­hö­rig­keit zu einer der älte­ren poli­ti­schen „Denk­fa­mi­li­en“, son­dern durch eine bewußt voll­zo­ge­ne Ent­schei­dung: die eige­ne Vor­prä­gung zu akzep­tie­ren, dar­in end­lich eine Ver­wur­ze­lung zu fin­den und inso­fern „Natio­na­list“ zu wer­den. Im Natio­na­lis­mus glaub­te Bar­rès auch das zu fin­den, was er schon im Ich-Kul­tus erstrebt hat­te: eine Mög­lich­keit, die See­le zu ent­wi­ckeln, ein „Mit­tel der Ade­lung“. So glaub­te er auch Kol­lek­ti­vis­mus und Indi­vi­dua­lis­mus zu ver­söh­nen. Indem der Mensch sei­ne Abhän­gig­keit von Her­kunft, Geschich­te und Vor­fah­ren akzep­tier­te, gewann er Halt. Frank­reich, das ewi­ge Frank­reich, sei der „Fried­hof“ sei­ner Toten. Gemein­sa­me Ahnen, gemein­sa­me Erin­ne­run­gen, gemein­sa­me Sit­ten und „der Wil­le, die­ses unteil­ba­re Erbe fort­zu­set­zen und gel­tend zu machen“ beschrie­ben nach der Defi­ni­ti­on von Bar­rès das Wesen der Nati­on. Die­ses fran­zö­si­sche Erbe umfaß­te für Bar­rès die Gesamt­heit aller fran­zö­si­schen Tra­di­tio­nen: das revo­lu­tio­nä­re, das mon­ar­chi­sche, das kai­ser­li­che, das katho­li­sche, das posi­ti­vis­ti­sche Frank­reich. Alle Tra­di­tio­nen stamm­ten schließ­lich aus der­sel­ben Wur­zel und hät­ten das­sel­be Ziel: die Grö­ße Frank­reichs. Bar­rès’ Frank­reich war dem­nach weder rechts noch links, son­dern eine neue, eine poli­ti­sche Ein­heit über den Parteien.
In der Kon­se­quenz sei­ner Dok­trin konn­te es kei­ne abso­lu­te und abs­trak­te Wahr­heit geben, nach der die Nati­on zu lei­ten war, nur eine „fran­zö­si­sche Wahr­heit“. Um alle Tra­di­tio­nen Frank­reichs zur Gel­tung zu brin­gen, muß­te sie rela­ti­vis­tisch im Hin­blick auf die „Mensch­heit“ sein. Es gel­te der sens du rela­tif, die „fran­zö­si­sche Wahr­heit“ sei nur die „Gesamt­heit der rich­ti­gen und wah­ren Bezie­hun­gen zwi­schen gege­be­nen Din­gen und … dem Fran­zo­sen“. Die „fran­zö­si­sche Ver­nunft“ habe die Auf­ga­be, die­se Bezie­hun­gen zu ent­de­cken. Mit die­sem Wis­sen such­te der neue Natio­na­lis­mus „unse­re Kunst, Poli­tik und alle Tätig­kei­ten zu gewin­nen“. Das bedeu­te­te auch, daß der Natio­na­lis­mus nicht Welt­an­schau­ung blei­ben durf­te. „Alles in Hin­blick auf die Grö­ße des Staa­tes zu beur­tei­len“ soll­te sei­ne Maxi­me wer­den. Bar­rès hat mit die­ser Vor­stel­lung in einer Wei­se prä­gend auf das fran­zö­si­sche poli­ti­sche Den­ken gewirkt, die es erlaubt, sei­nen Ein­fluß bis heu­te zu erken­nen und zwar auch außer­halb des so apo­stro­phier­ten „natio­na­lis­ti­schen“ Lagers.

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