Einverstanden, das ist mit dem Modewort Identität auch nicht gemeint. Identität nimmt hier vielmehr eine ideologische Färbung an. Nicht was man ist, sondern was man gerne sein möchte, wie man sich „sieht“ und glaubt oder fürchtet, daß andere einen sehen. Oder wie es im 19. Jahrhundert hieß: Während die anderen die Welt unter sich aufteilen, sind die lieben Deutschen damit beschäftigt, wie sie anzuschauen ist. Der Untergang des real existierenden Sozialismus war ein Born reiner Freude; doch dem Marxismus als intellektueller Strömung muß man beinahe schon nachtrauern. Denn seitdem wetteifern Linke und Rechte in einem versponnenen Idealismus. Realität ist nicht mehr gefragt; nur mehr „Bilder“ davon – Bilder vom „anderen“ und Bilder von sich selbst. Kein Wunder, wenn sich die Bilderproduzenten – alias Medienfritzen – da sehr bedeutsam vorkommen.
Dieser Modewelle liegt ein wahrer Kern zugrunde: Zwischen Wahrnehmung und Realität klafft ja tatsächlich zuweilen ein gewisser Unterschied, der sich unangenehm bemerkbar machen kann. Das ist gefährlich, aber andererseits auch wieder leicht zu kurieren, wo es um Informationsdefizite geht. Chronisch wird das Leiden, wenn es sich um Lebenslügen handelt. Ideologie ist falsches Bewußtsein, dozierte schon Marx. Freilich auch harmloser, denn derlei Lebenslügen enthalten selbst bei ernsthaften philosophischen Gemütern in der Regel ein reizendes Element der Koketterie. So wirklich handlungsleitend sind die Marketing-Images nur in den seltensten Fällen. Wenn’s hart auf hart geht, vertraut man diesen Chimären ja doch nicht, sondern verläßt sich auf die Realität, die nicht ganz so unerkannt bleibt.
Es mag schon seine philosophische Richtigkeit haben, daß die wahren Abenteuer im Kopf sind. Deshalb sind sie auch bloß für Gedankenleser nachvollziehbar. Was Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher für ein Bild von sich haben, läßt sich nicht so einfach feststellen. Die Frage ist ihnen vielleicht auch gar nicht so wichtig. Und sie ist es vermutlich tatsächlich nicht – für Demokraten freilich ein ketzerischer Gedanke. Feuilletonisten lösen das methodische Problem denn auch ganz souverän, indem sie für die vox populi einfach Zitate ihres Lieblingsschriftstellers interpolieren. Das nennt sich dann die „kulturalistische Wende“. Wohl bekomm’s.
Mit all diesen Vorbemerkungen wollen wir uns in gebotener Kürze dem Anlaßfall zuwenden. Wie halten’s die Österreicher mit ihrer Identität. Selbige läßt sich leicht beschreiben: Eine prosperierende „Duodezrepublik“ mit überwiegend deutscher Muttersprache. (Noch deutscher ist da nur Liechtenstein, weil dort nur Briefkästen einwandern dürfen.) Für die Frage hingegen, was die Österreicher denn gerne sein wollen, liefert die Vergangenheit einen reichen Fundus an Requisiten. Der Begriff Österreich kann ja sehr vieles heißen. Das ist Problem und Chance zugleich. Österreich, das waren ursprünglich bloß die beiden Herzogtümer an der Donau; als Casa d’Austria dann das erste einigermaßen globale Imperium; als Reichsoberhaupt wiederum Kristallisationspunkt für „teutschen“ Patriotismus; als Donaumonarchie ein „Völkerkerker“ und „Klein-Europa“ (gewünschtes bitte ankreuzen); dazu ein Bollwerk gegen die Türken, das de facto viel öfter gegen den Allerchristlichsten König focht. All diese Versatzstücke lassen sich bei Gelegenheit in die Debatte werfen. Sie haben gewisse weltanschaulich-parteipolitische Verortungen, die aber nicht gegen alle Anfechtungen gefeit sind. So warb Kreisky im Wahlkampf unter einem Bild Franz Josephs, und Haider dekretierte das Ende der Deutschtümelei.
Irgendwo stößt man dann auch auf den Begriff der „österreichischen Nation“, den Haider in besseren Tagen einmal als ideologische Mißgeburt bezeichnet hat. Deren Fans waren in erster Linie die Sorte von Leuten, die in der BRD von der Nation nichts mehr hören wollten, weil sie doch aus der Geschichte gelernt hatten. Ein Kollege meinte einmal, mehr oder weniger ernsthaft, und mit mehr oder weniger Anklängen an Musils Mann ohne Eigenschaften, sie sei unser Beitrag zum Weltbürgertum. Vielen wurde die Freude an ihr dann auch vergällt, als Haider „Österreich zuerst“ skandieren ließ. Seither hört man wieder öfter, daß alle Nationen doch bloß „eingebildete Gemeinschaften“ sind und hält sich an Europa, das bekanntlich von gänzlich uneingebildeten Leuten regiert wird.
Die List der Geschichte hat es freilich gefügt, daß der geschmäcklerische Sonderweg, auf den Österreich 1945 geschickt wurde, mitunter ganz bekömmliche Resultate zeitigt. Nicht mehr deutsch sein zu wollen, mochte perfid sein, aber es immunisierte bis zu einem gewissen Grad auch gegen die Exzesse der „Vergangenheitsbewältigung“. Zwar wird die Geschichte auch hierzulande immer wieder vergewaltigt, aber sie nimmt es uns nicht übel: Unser Verhältnis zu ihr ist positiver und unbefangener – und zugleich auch partieller. Es gibt kein gutes Weimar, auf das Sozialisten, Katholiken und Liberale sich alle beziehen können: Einen Bürgerkrieg brachten wir schon zustande, als die Nazis noch Gewehr bei Fuß standen. Auch das Verhältnis zur Monarchie ist zwiespältig. Ihr Image schwankt zwischen verkitscht und vertrottelt – „Selbstinfantilisierung“ hat das einmal jemand genannt – aber wehe den Ungarn oder Italienern, die sich da nicht pflichtschuldigst wohlfühlten… Jetzt pilgern sie ja doch alle wieder nach Schönbrunn. Wir waren eben auch einmal Weltmacht, und darum erteilen wir den jetzigen immer noch gern Lektionen.
Fazit: Der deutsche Kleinstaat führt sich ab und zu auf, als wäre er weder deutsch noch Kleinstaat. Das ist intellektuell befruchtend oder irritierend, je nach Laune. Aber die Aufführung ist im schauspielerischen Sinn zu verstehen. There is no business like show business. Es steht nicht zu befürchten, daß unsere Skitruppen in einem Anfall von Größenwahn in Kalifornien einmarschieren, um die Erbmonarchie der Schwarzeneggers zu proklamieren, und nur sehr weltfremde österreichische Minister fühlen sich bemüßigt, bei Vorträgen in München Englisch zu sprechen. Wie Nestroy schrieb: „S’ist alles Chimäre, aber mich unterhalt’s.“