Im Sommer 1934 schrieb der Dichter Rudolf Borchardt aus dem italienischen Exil: »Deutscher sein wird nach dem Schreckensende eine graue und grässliche Sache werden …«. Das war prophetisch gesprochen, auch wenn nicht alle finsteren Erwartungen Borchardts sofort in Erfüllung gingen.
Das »Schreckensende« hielt Borchardt für unvermeidlich nach den Ereignissen vom 30. Juni jenes Jahres, als man fünf seiner Freunde ermordet hatte, »darunter meinen armen lieben Edgar Jung«. Die Verbindung zwischen beiden datierte vom Januar 1930, nachdem Jung an Borchardt die zweite Fassung seines Buches Die Herrschaft der Minderwertigen geschickt hatte, worauf Borchardt wohlwollend, wenn auch nicht unkritisch reagierte.
Beide zählten zu derselben Denkfamilie der rechten Intelligenz – den Jungkonservativen –, aber es gab durchaus Differenzen. Dazu gehörte Borchardts Treue zum Haus Hohenzollern und zur protestantischen Überlieferung gegen Jungs Begeisterung für die Reichsidee und eine Erneuerung der una sancta, außerdem ging es um die Einschätzung der Person Stefan Georges, den Jung ebenso verehrte, wie ihn Borchardt haßte, und sicher spielte eine Rolle, daß Borchardt durch seine Herkunft aus dem deutsch-jüdischen Großbürgertum zur alten Elite gehörte und seinen Konservatismus mit einer gewissen Lässigkeit vertrat, während Jung aus dem Volk kam und zu einer Generation zählte, deren Konservatismus willentlich angeeignet war und deshalb ein neues dynamisches Moment enthielt.
Edgar Julius Jung wurde am 6. März 1894 in Ludwigshafen geboren. Seine Vorfahren entstammten dem evangelischen Bauerntum der Pfalz, der Vater hatte als Gymnasialprofessor einen gewissen sozialen Aufstieg erreicht. Jedenfalls konnte Jung nach dem Abitur 1912 ein Jura-Studium in Lausanne aufnehmen, kehrte aber bei Kriegsbeginn nach Deutschland zurück.
Er meldete sich freiwillig, kam an der Westfront zum Einsatz, zuletzt in der Luftwaffe, und wurde nach dem Zusammenbruch als Leutnant entlassen. Er schloß bis 1922 sein Studium an den Universitäten Würzburg und Heidelberg mit der Promotion ab, beteiligte sich aber gleichzeitig aktiv an den Kämpfen des Nachkriegs.
Er trat dem Freikorps Epp bei, das mithalf, die Münchener Räteherrschaft niederzuwerfen, und nach der Besetzung der heimatlichen Pfalz durch französische Truppen bildete er eine Geheimorganisation, den »Rheinisch-Pfälzischen Kampfbund«, der im Januar 1924 das Attentat auf den Präsidenten der separatistischen »Pfälzischen Republik«, Heinz Orbis, ausführte.
Jung mußte wegen seiner Beteiligung an dem Anschlag nach Bayern fliehen, wo allerdings keine Strafverfolgung eingeleitet wurde, da die Behörden Heinz Orbis des Hochverrates angeklagt hatten und seine Erschießung als »Akt der Staatsnotwehr« betrachteten.
Jung ließ sich in München nieder, übte den Beruf als Rechtsanwalt aber nur zum Zweck des Broterwerbs aus. Eine parteipolitische Heimat hatte er in der DVP gefunden, deren pfälzischer Landesverband zu den Trägern des Widerstands gegen die französische Okkupation gehörte.
Nach dem Abschluß des Vertrags von Locarno wuchs Jungs Distanz zu den Nationalliberalen, und allmählich verlor er völlig das Interesse an der Parteiarbeit. Er sah seinen eigenen Platz dort, wo man »die geistigen Vorbedingungen einer deutschen Wiedergeburt zu schaffen« begann und ging auf die Seite der Jungkonservativen.
Nach dem Tod Moeller van den Brucks, 1925 wurde er zum wichtigsten Programmatiker dieser Tendenz, die konservative Position aus der Defensive gegenüber dem Liberalismus ebenso befreien wollte wie aus den Bindungen, die sie im 19. Jahrhundert notgedrungen eingegangen war.
Die Jung-Konservativen bildeten die wichtigste Strömung innerhalb der Konservativen Revolution, lehnten die Fixierung auf den Rassegedanken der Völkischen ebenso ab wie den Aktivismus der Nationalrevolutionäre. Für sie war »Konservatismus« weder Kaschierung von Klasseninteressen noch geistige Trägheit, sondern ein Versuch, angemessener Wirklichkeitsauffassung.
Das hieß aber auch, daß das »Bewahren« nicht absolut gesetzt wurde. In deutlicher Anlehnung an Moeller formulierte Jung als »konservativ-revolutionäres Prinzip«, die metaphysisch begründeten, überindividuellen »Werte« bildeten die Grundlage aller Gemeinschaft:
Der Trieb, diese um jeden Preis zu erhalten, kann konservativ genannt werden. … Soweit bisherige, allgemeingültige Werturteile geeignet sind, eine falsche Einstellung zu jenen höchsten Werten zu erzeugen, soweit sind wir für die ‘Umwertung aller Werte´. Ist diese Umwertung gleichbedeutend mit einer Umwälzung der Dinge, dann mag man uns revolutionär nennen. Unsere Rechtfertigung ist: daß man aus tiefstem Willen zur Erhaltung – zerstören muß.
Die Sätze stammen aus einem Buch, das Jung mit einem Schlag bekannt machte. Es erschien 1927 unter dem Titel Die Herrschaft der Minderwertigen. Die deutlich auf Nietzsche bezogene Formulierung signalisierte schon, daß es sich im Kern um eine Parlamentarismus- und Demokratiekritik handelte.
Während seines Studienjahrs in Lausanne hatte Jung auch bei Vilfredo Pareto gehört, dessen Vorstellung von der »Zirkulation« der Eliten ihn stark beeinflußte, später beschäftigte er sich eingehend mit Robert Michels und Alexis de Tocqueville.
Durch die Entwicklung der Weimarer Republik sah Jung die Annahme bestätigt, daß der »Liberalismus« außerstande sei, die Auswahl von Führungsschichten zu bewerkstelligen. Die durch die »Ideen von 1789« wie durch die objektiven Tendenzen der Massengesellschaft bewirkte Egalisierung führte nach seiner Meinung dazu, daß die Unfähigen – die »Minderwertigen« – an die Spitze traten und jede große Ordnung zerstörten.
Die Herrschaft der Minderwertigen war nicht nur Kulturkritik etwa in Fortsetzung Spenglers, Jung verstand sie auch als Enzyklopädie einer Gegen-Aufklärung, als Grundlage für „eine neue konservative Ideologie“. Er versuchte auf dreihundert Seiten eine möglichst umfassende Analyse der Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens zu geben und die notwendigen Veränderungen zu skizzieren.
Allerdings empfand er rasch Ungenügen an seiner Darstellung. Deshalb arbeitete er die erste Fassung der Herrschaft in den folgenden beiden Jahren um und veröffentlichte 1930 eine zweite Version, die fast auf den doppelten Umfang anwuchs. Bemerkenswerter als diese Äußerlichkeit waren die inhaltlichen Änderungen, die Jung vornahm.
Sprach er 1927 noch von der Notwendigkeit eines »neuen Nationalismus«, der sehr weitgehend dem entsprach, was die kleinen nationalrevolutionären Gruppen propagierten, so stand jetzt die „Reichsidee“ im Zentrum:
Neuordnung, beginnend mit dem mittleren, nahöstlichen und nahsüdöstlichen Raum und von dort zu den Rändern fortschreitend, in der Form eines europäischen Staatenbundes.
Frankreich, das Jung ehedem als Erzfeind gegolten hatte, der in einem neuen Waffengang niederzuwerfen war, wurde hier schon als möglicher Partner beim Aufbau der abendländischen Einheit betrachtet.
Jung war zu der Auffassung gelangt, daß man nicht Deutschland allein im Blick haben dürfe und daß nicht die jakobinische »Nation«, sondern das »Volk« die Grundlage neuer politischer Bildungen auf dem Kontinent sein müsse. Er äußerte sich skeptisch gegenüber der Idee einer »organischen Demokratie« wie sie die Jungkonservativen ursprünglich favorisiert hatten und wandte sich stattdessen der Idee eines »autoritären Staates« zu.
Ganz deutlich standen seine Ideen unter dem Einfluß des »Universalismus«, den der österreichische Philosoph und Nationalökonom Othmar Spann vertrat. Von Spann übernahm Jung auch die Vorstellung von „Stand“ und „Genossenschaft“ sowie die Konzeption eines gestuften Wahlrechts.
Den Korporativismus verband er mit der von Leopold Ziegler und Nikolaj Berdjajew inspirierten Überzeugung, daß ein »neues Mittelalter« die aufklärerische Moderne ablöse, vorbereitet von jener Konservativen Revolution, die nicht nur politische Ziele erreichen, sondern auch »Gott einen neuen Altar errichten werde«.
Ziegler stand Jung persönlich nahe, beide verfaßten zusammen das Buch Fünfundzwanzig Sätze vom deutschen Staat (1931), das allerdings nur unter dem Namen Zieglers erschien. Dieser Philosoph gehörte zu einer Gruppe europäischer Intellektueller, die sich besonders für die religiöse Überlieferung unter Einschluß esoterischer Lehren interessierte und die man als »Traditionalisten« bezeichnet hat.
Der wichtigste ihrer Köpfe in Italien war ohne Zweifel Julius Evola, der auch in Kontakt zu Jung trat, und dessen Hauptwerk Revolte gegen die moderne Welt (1934) nicht zufällig gewisse Übereinstimmungen mit der Herrschaft der Minderwertigen aufweist.
Als die zweite Auflage der Herrschaft erschien, lag die Weimarer Republik bereits in Agonie. Zu früh nach Jungs Auffassung, der sah, wie sich die Ereignisse überstürzten und auf einen Punkt hindrängten, der mit den Vorstellungen des revolutionären Konservatismus nichts zu tun hatte.
Die Erwartung, daß Brüning die Katastrophe immerhin solange aufhalten würde, bis die eigenen Kräfte formiert waren, zerschlug sich ebenso rasch wie der anfängliche Optimismus, den Jung im Blick auf eine neue Partei hegte. Die „Volkskonservative Partei“ entstand aus einer Gruppe von Parlamentariern der DNVP, die aus ganz unterschiedlichen Motiven gegen die Führung Hugenbergs rebelliert hatten.
Jung, der bei der Gründung, vor allem aber bei der Formulierung des Programms der Partei, eine maßgebliche Rolle spielte, mußte rasch erkennen, daß sich aus diesem Kern niemals jene »konservativ-revolutionäre Bewegung« entwickeln würde, wie sie ihm eigentlich vorschwebte, um die »Lücke« zwischen der Elite und den Massen zu schließen.
Jungs ausgeprägter Vorbehalt gegen Parteien war nur zeitweise zurückgetreten hinter dem Wunsch, Macht zu gewinnen. Die Bereitschaft zu dem Experiment mit den Volkskonservativen erklärt sich aber wahrscheinlich auch aus einem Unvermögen auf andere Art zu einer politischen Basis zu kommen.
Jung wirkte nicht wie Moeller kreisbildend und hielt immer eine gewisse Distanz zu den jungkonservativen Vereinigungen, auch zum einflußreichen Herrenklub Heinrichs von Gleichen. Das hing mit persönlichen Differenzen zusammen, aber auch mit Jungs Vorbehalt gegenüber der »Club- und Salonpolitik« einerseits, der Skepsis von Gleichens gegenüber dem Plan einer »Neuen Front« andererseits.
Jungs Aufsätze erschienen deshalb nicht im Zentralorgan der Jungkonservativen, dem von Gleichen herausgegeben Ring, sondern in den Süddeutschen Monatshefen, in der Deutschen Rundschau und in den Münchener Neuesten Nachrichten. Sie fanden seit dem Ende der zwanziger Jahre breitere Resonanz, auch seine Vorträge galten als brillant.
Aber Jung fühlte sich zu anderem als Publizistik und Propaganda berufen, viele Zeitgenossen bemerkten seinen »brennenden Ehrgeiz« (Rüdiger Robert Beer), und einer seiner engsten Freunde, entdeckte sogar »dämonische« Züge (Rudolf Pechel).
Nach dem Scheitern der Volkskonservativen und des letzten Kabinetts Brüning glaubte Jung, in letzter Stunde selbst Zugang zum Zentrum der Entscheidungen finden zu können. Er stellte sich dem neuen Reichskanzler Franz von Papen als Berater und Redenschreiber zur Verfügung.
Dessen Programm übernahm die Parole der Jungkonservativen vom »Neuen Staat«, konnte ihr aber keine Substanz verleihen. Nach einem halben Jahr war auch dieser Versuch gescheitert. Im Januar 1933 kam Jung zu der Feststellung, es gebe »keine regierungsfähige deutsche Rechte«.
Die NSDAP gehörte für Jung nur bedingt zur »Rechten«. Er pflegte seit der Münchener Zeit eine ausgeprägte Aversion gegen Hitler, dem er nicht verzieh, daß er 1923 seinen Leuten die Beteiligung am Ruhrkampf verboten hatte, um den »Marsch auf Berlin« vorzubereiten.
Umgekehrt wurde Jung von Nationalsozialisten als »Jude« beschimpft oder als Handlanger des politischen Katholizismus. Er hatte sich ebenso gegen die außenpolitischen Pläne Hitlers gewandt, denen er sein eigenes Programm einer mitteleuropäischen, dann gesamteuropäischen Einigung entgegenstellte, wie gegen den biologischen Materialismus, der seinem christlich geprägten Menschenbild widersprach.
Allerdings hielt Jung die NSDAP trotz seiner Reserve auch für eine »Widerstandsbewegung« gegen Versailles und die Dekadenz des parlamentarischen »Systems«. Nur folge sie dem faschistischen Muster und bleibe deshalb der absterbenden Epoche des Liberalismus verhaftet.
Die Opferbereitschaft ihrer Anhänger werde durch einen »Volkskondottiere« wie Hitler mißbraucht und in die Irre geführt. Im November 1932 schrieb er:
Hitler verdankt seinen Erfolg seiner ideologischen und sozial-ethischen Veranlagung. Er repräsentiert deshalb das Gesetz der Entwicklung, unter dem unsere Zeit steht. Er repräsentiert es schlecht.
Jung glaubte sich Hitler in analytischer wie strategischer Hinsicht überlegen. Deshalb empfand er die Machtübertragung am 30. Januar als persönlichen Schlag. Für einige Zeit verfiel er Depressionen. Ziegler berichtete, er habe im Sommer 1933 sogar mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt.
Ende des Jahres hatte sich Jung aber wieder gefangen. In einem kleinen Band, der unter dem Titel Sinndeutung der deutschen Revolution erschien, legte er etwas wie eine Bilanz der Gesamtentwicklung seit dem Kriegsende vor. Es blieb bei der Verwerfung von Republik und liberaler Demokratie, aber kaum verhohlen wurde Hitler als »Kind der Masse«, die NSDAP als »Partei der Enterbten … des bürgerlichen Zusammenbruchs« apostrophiert, unfähig jene Wende herbeizuführen, die eigentlich notwendig sei.
Neben Friedrich Sieburgs Es werde Deutschland, Richard Benz’ Geist und Reich sowie Oswald Spenglers Jahre der Entscheidung war die Sinndeutung die schärfste Absage an das neue Regime durch einen Autor der Konservativen Revolution.
Nachdem Jung den länger erwogenen Plan, selbst ein Attentat auf Hitler durchzuführen, aufgegeben hatte, begann er mit seinem Freund Herbert von Bose im Büro Papens – aber ohne das Wissen des Vizekanzlers – ein konspiratives Zentrum aufzubauen.
Die Gruppe um Bose und Jung deckte Opfer des neuen Regimes und verhalf Deutschen jüdischer Herkunft, die besonders gefährdet waren, zur Ausreise. Die Pläne beider gingen aber weiter. Sie zielten auf einen Staatsstreich unter Nutzung des Konflikts zwischen dem Obersten SA-Führer Röhm und der Reichswehrführung, um mit Rückendeckung Hindenburgs ein Militärregime zu errichten, das den Aufbau des »organischen Staates« vorbereiten sollte.
Im November 1933 arbeitete Jung einen Verfassungsplan aus, der von drei Prinzipien getragen war: »völlige Entmassung des Volkes« durch Kombination direktdemokratischer Elemente mit korporativer Organisation, »verhältnismäßige Emanzipation des völkischen Lebens von dem der Staaten« und Schaffung eines föderativ gegliederten, wirtschaftlichen »Großraums« Europa.
In scharfem Gegensatz zu seinen eigenen früheren Auffassungen sprach er jetzt davon, daß »völlig nationalisierte Völker« wie sie vom Faschismus angestrebt würden ihre Dynamik zwangsweise gegeneinander richten müßten, jedenfalls kein Fundament einer dauerhaften Ordnung des politischen Lebens sein könnten.
Im Frühjahr 1934 deutete vieles auf eine krisenhafte Zuspitzung der Lage hin. Die Zahl der Arbeitslosen stagnierte, die wirtschaftliche Entwicklung entsprach nicht den Erwartungen, Röhms Forderung nach einer »zweiten«, nicht nur »nationalen«, sondern »nationalsozialistischen Revolution« stand im Raum, die Reichswehr fühlte sich durch das dramatische Anwachsen der SA-Verbände in ihrer Stellung als einziger »Waffenträger« des Reiches bedroht.
Das schien den Verschwörern um Jung und Bose die Möglichkeit zum Umsturz zu eröffnen. Mitte Juni 1934 lief die Aktion an. In einer Rede vor dem Marburger Universitätsbund am 17. des Monats sollte Papen ohne es zu ahnen das Signal zum Losschlagen geben. Den Text hatte Jung geschrieben, und Hitler war außer sich über diese Ansprache, in der vor der »Gefahr des Byzantinismus«, der Unterdrückung von Meinungen und Glaubensüberzeugungen gewarnt und deutliche Kritik am »Totalitätsanspruch« der Partei geäußert wurde, der Geistfeindlichkeit und ein »halbreligiöser Materialismus« zugrunde liege:
»Die Vorherrschaft einer einzigen Partei an Stelle des mit Recht verschwundenen Mehr-Parteiensystems« hatte Jung Papen sagen lassen, »erscheint … geschichtlich als ein Übergangszustand, der nur so lange Berechtigung hat, als es die Sicherung des Umbruchs verlangt und bis die neue personelle Auslese in Funktion tritt«.
Für Hitler war die Behauptung, daß der Nationalsozialismus und die in der Nachkriegszeit entstandene »Art von konservativ-revolutionärer Bewegung« gleichrangige Verbündete seien, ebenso durchsichtig wie der Versuch Jungs, die »nationale« in eine »konservative Revolution« umzudeuten und den Nationalsozialismus auf das Programm einer neuen »Ghibellinen-Partei in Europa« zu verpflichten, die dem Bund der abendländischen Völker vorarbeiten sollte.
Die vor allem bürgerliche Zuhörerschaft reagierte auf die »Marburger Rede« mit anhaltendem Beifall, während Parteifunktionäre unter Protest den Saal verließen. Der bereits gedruckte Text wurde sofort nach Bekanntwerden beschlagnahmt, eine Übertragung im Rundfunk verboten.
Zwar stellte die Gestapo fest, daß handschriftliche Kopien umliefen und im – formell gleichgeschalteten – »Stahlhelm« Versuche gemacht wurden, den Inhalt weiter zu verbreiten, aber die Kenntnis blieb trotzdem auf kleine Kreise beschränkt. Rasch drang nach außen, daß Jung das Manuskript verfaßt hatte, woraufhin Hitler am 25. Juni seine Verhaftung befahl.
Papens halbherziger Interventionsversuch wurde von Hitler unter fadenscheinigem Vorwand abgewiesen. Nach einer Tagebuchnotiz Rosenbergs soll er höhnisch auf Papen gewiesen haben, mit der Bemerkung »Der kommt wegen seines Dr. Jung!«
Kurz nachdem man Bose im Rahmen der Aktion vom 30. Juni ermordet hatte, erschossen SS-Wachen Jung am 1. Juli in einem Wäldchen bei Oranienburg. Die angebliche Niederwerfung des Röhmputsches war auch sonst mit einem ersten vernichtenden Schlag der nationalsozialistischen Führung gegen die konservative Opposition verbunden, dem neben Jung und Bose auch Kurt von Schleicher und Gustav von Kahr zum Opfer fielen, während sich andere, wie Brüning oder Gottfried Treviranus, nur durch die Flucht ins Ausland retten konnten.
Die Ereignisse selbst standen im Zusammenhang mit dem, was nach dem Tod Hindenburgs am 2. August folgte: durch die Selbsternennung Hitlers zum »Führer und Reichskanzler« und die Vereidigung der Reichswehr auf seine Person war der Prozeß der Machtübernahme abgeschlossen.
Hitler hatte seine Gegner innerhalb und außerhalb der Partei geschlagen und konnte seine Position für die nächsten Jahre als unangefochten betrachten. Es ist nicht so, als ob zwischen der Opposition von 1934 und der von 1944 kein Zusammenhang bestand, aber die Handlungsmöglichkeiten, die sich in der Zwischenzeit eröffneten, boten niemals dieselben Perspektiven wie zu Beginn und in der Agonie des »Dritten Reiches«.
Es gehört heute zu den schlechten Gewohnheiten, den konservativen Widerstand gegen die NS-Herrschaft zu denunzieren. Dabei spielt die Behauptung eine wichtige Rolle, die Konservativen hätten sich ursprünglich Hitlers bedient und erst als dieser scheiterte, versucht, ihre Anteile aus dem Konkursunternehmen zu retten.
Dem ist entgegenzuhalten, daß mit Männern wie Edgar Julius Jung die Konservativen zur Opposition der ersten Stunde gehörten. Und es wäre hinzuzufügen, daß diese Auflehnung den reinsten Motiven folgte, – um noch einmal Jungs Freund Borchardt zu zitieren:
Nichts ist möglich ohne die Ehre, nichts wünschbar ohne die Ehre, nichts von Wert ohne die Ehre.