pdf der Druckfassung aus Sezession 6 / Juli 2004
Ein Gespräch mit Brigadegeneral Reinhard Günzel
Der Brigadegeneral Reinhard Günzel ist im Rahmen der Affaire um den Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann (CDU) von Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) entlassen worden. Grund dafür war ein zustimmender Brief, den Brigadegeneral Günzel dem Abgeordneten Hohmann geschrieben hatte, nachdem er dessen umstrittene Rede zum 3. Oktober 2004 gelesen hatte. Brigadegeneral Günzel ist seit seiner Entlassung als Redner in eigener Sache vor vielen konservativen und freiheitlichen Gruppierungen aufgetreten. Der Verlag Edition Antaios bringt im September einen Gesprächsband mit General Günzel heraus, in dem auch sein wichtigster Vortrag („Das Ethos des Offiziers“) dokumentiert ist. Sezession druckt im Folgenden einige Fragen und Antworten vorab.
Herr General, wie weit ging Friedrichs: „Die Herren Offiziere dürfen räsonieren, wenn sie nur parieren“? Muß nicht bei Anspruch auf Gewissensentscheidung immer in Kauf genommen werden, daß man in Ungnade fällt?
Günzel: Gehorsam ist für jede Armee die conditio sine qua non. Eine Truppe, die dieses Prinzip in Frage stellt, wird zu einer Räuberbande. Darum werden in allen Armeen der zivilisierten Welt schon im Frieden Ungehorsam und erst recht Gehorsamverweigerung drakonisch bestraft, in der Bundeswehr beispielsweise mit Gefängnis.
Andererseits tut dieselbe Bundeswehr alles, um die Umsetzung des Gehorsams und der Disziplin im täglichen Dienst der unteren Führungsebene so schwierig wie möglich zu machen. Alle Vorschriften, die diesen Bereich regeln, sind entweder nicht an der Praxis orientiert, oder sie sind so kompliziert, daß sie den Vorgesetzten – und erst recht den einfachen Soldaten – regelmäßig überfordern. Auch hier kann „der aus Einsicht gehorchende Staatsbürger in Uniform“ als besonders einfältige Verkennung der Realität angeführt werden.
Die Wehrdisziplinarordnung, die Wehrbeschwerdeordnung, die Vorgesetztenverordnung, die Grußordnung, der Innendienst, der Wachdienst und vieles andere mehr sind im Grunde nur mit einem kleinen Jurastudium zu begreifen. Keine Armee der Welt leistet sich den Luxus, über die Jahre hinweg viele Monate wertvoller Ausbildungszeit aufzuwenden, um ihr Führerkorps auf diesem Nebenkriegsschauplatz einigermaßen handlungssicher zu machen. In allen Armeen der Welt kommt es vor, daß Vorgesetzte Untergebene schikanieren. Aber nur in der Bundeswehr ist es möglich, daß ein Untergebener einen Vorgesetzten schikanieren kann.
Zurück zu Friedrich dem Großen: Ja, räsonieren ist erlaubt, während Ungehorsam immer die extreme Ausnahme bleibt, für die der Soldat natürlich die Verantwortung trägt. Aber das Leben beim Militär besteht ja nicht nur aus Befehl und Gehorsam. Es gibt immer Möglichkeiten, Vorschläge zu machen, mit den Vorgesetzten zu reden und eine gegenteilige Meinung vorzutragen. Und gerade der höhere Offizier hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, im Vorfeld der Befehlsgebung frei und mutig seine Meinung zu äußern. Und selbst das unterbleibt so oft in der Bundeswehr, das ist doch verblüffend; denn es geht ja in einer Armee – mittelbar oder unmittelbar – immer um durchaus lebenswichtige Angelegenheiten. Genau darum ist Zivilcourage für den Offizier eine unabdingbare Forderung.
Das würden die Anhänger des Leitbilds „Staatsbürger in Uniform“ vielleicht genauso sehen.
Günzel: „Staatsbürger in Uniform“: Das ist ein schwammiger Begriff, die Gründungsväter der Bundeswehr hatten ihn damals eingeführt, um einen gewünschten Soldatentyp zu beschreiben. Und leider benutzt die Bundeswehr diesen Begriff immer noch, allenfalls ein wenig abgemildert. Was ist das doch für ein idyllisches Bild aus der Biedermeierzeit! Der brave Bürger, der auf der Stadtmauer oder hinter seiner Schießscharte steht und seine Heimat verteidigt, – also ein Bäcker, Schuster oder Uhrmacher, der jetzt vorübergehend eben Uniform trägt, der aber natürlich kein Soldat ist, und der daher auch schon damals nichts getaugt hat.
Das sagt übrigens viel aus über die Schlagkraft der Bundeswehr: Die Bundeswehr mußte ja nie kämpfen können. Man konnte sich den wackeren Mann hinter der Schießscharte im Atomzeitalter nur leisten, weil die Bundeswehr von Anfang an als Abschreckungsarmee konzipiert war. Wenn die Abschreckung versagt hätte, wäre die Armee ohnehin wenige Sekunden später im Feuerball verglüht. Das war die herrschende Vorstellung. Und darum brauchte der Soldat auch nicht kämpfen zu können. Die Schlagkraft der Truppe war völlig irrelevant.
Dieses Bild ist aber mit den heutigen Auslandseinsätzen – „Verteidigung am Hindukusch“ – überholt, gleichwohl noch nicht widerrufen. Ehrlicherweise hätte der „Staatsbürger in Uniform“ mit dem ersten Auslandseinsatz feierlich begraben werden müssen. Denn: Jetzt muß auch der deutsche Soldat wieder kämpfen können. Aber man hat dieses Leitbild des „Staatsbürger in Uniform“ immer noch stehen lassen – zumindest ist mir nicht bekannt, daß es aufgehoben worden wäre.
Mit welchen Auswirkungen im Ernstfall?
Günzel: Nehmen wir doch das jüngste Beispiel aus dem Kosovo. Ich bewerte das nun alles unter Vorbehalt, ich habe keine authentischen Informationen. Aber wenn das stimmt, was unsere Zeitungen berichteten, und was wir aus „wohlunterrichteten Kreisen“ hören konnten, dann: „Gute Nacht deutsches Soldatentum!“ Dann haben wir tatsächlich das ganze Elend der Bundeswehr überdeutlich vorgeführt bekommen.
Da rücken also zweihundert UCK-Kämpfer an, um ein serbisches Kloster abzufackeln und sagen etwa sinngemäß zu den deutschen Soldaten: „Wir tun Euch nichts, aber geht mal ein bißchen zur Seite, damit wir das Kloster niederbrennen können.“ Polizisten der UNO rufen um Hilfe: „Holt uns hier raus, die bringen uns um“. Das ist also die Lage, und der deutsche Panzergrenadierzugführer beurteilt diese Lage und kommt zu dem Entschluß, daß zweihundert Kosovaren doch ein bißchen zuviel sind. Also lädt er die fünf serbischen Mönche in sein Fahrzeug ein und bläst zum Rückzug. Der deutsche Panzergrenadierzugführer ergreift – horribile dictu – die Flucht.
Also wenn das vor 60 oder 90 Jahren einem deutschen Zugführer passiert wäre – kaum vorstellbar, aber nur einmal angenommen: Er hätte sich noch am selben Abend leise weinend erschossen. Was passiert jedoch hier und jetzt? Die Bundeswehrführung – anstatt nun wenigstens den Mantel des Schweigens über diese höchst peinliche Affäre zu legen – erteilt diesem Mann (die Zunge sträubt sich, es auszusprechen), eine förmliche Anerkennung, „weil er umsichtig gehandelt und Verluste vermieden habe“, denn Gebäudeschutz stand wohl nicht auf seiner Auftragsliste. Wo waren hier die Vorgesetzten? Wenn das Vermeiden von Verlusten der Auftrag der Armee ist und wenn das Ausweichen – eine Schande vor der ganzen Weltöffentlichkeit – mit einem Orden, mit einer förmlichen Anerkennung ausgezeichnet wird, dann bin ich froh, heute keine Uniform mehr tragen zu müssen.
Mußte das alles so kommen?
Günzel: Die Armee war von Anfang an falsch, mindestens aber unglücklich konzipiert. Oder anders ausgedrückt: Die Bundeswehr war von Anfang an ein ungeliebtes Kind dieses Staates. Sie wurde nie wirklich innerlich akzeptiert, bestenfalls toleriert. Sie war immer ein „notwendiges Übel“. Ja, sie war sogar ein ungewolltes Kind. Denn sie ist ja nicht aus dem Volk heraus entstanden, sondern aus einer „Liaison“ mit den Besatzungsmächten. Adenauer ging es ausschließlich darum, mit zwölf schnell aufgestellten Divisionen die Bündnisfähigkeit der BRD wiederherzustellen. Die Schlagkraft spielte dabei überhaupt keine Rolle.
Und dann hat man – unter der Last der Vergangenheitsbewältigung und begeistert von der „Gnade der Stunde Null“ – eine Armee konzipiert, die sich in allem von der Wehrmacht unterscheiden sollte. Das ist brillant gelungen. Denn während die Wehrmacht allen Armeen ihrer Zeit in jeder Beziehung weit überlegen war, wird man das von der Bundeswehr wohl nicht behaupten können. Man hatte das Gefühl, daß sich die Schöpfer der Bundeswehr für ihr Werk entschuldigen wollten. Daher um Himmels willen bloß nicht zu militärisch, bloß keine Ähnlichkeit mit früheren deutschen oder preußischen Armeen! „Der Friede ist der Ernstfall“ und anderer Sprechblasen sind mir noch deutlich in Erinnerung.
Die Aufstellung der ersten Divisionen war also getragen von einem deutlichen Mißtrauen gegen den Soldaten, gegen das Militär, dem man ja die Schuld an der Katastrophe gegeben hatte. Diese Angst spiegelt sich in vielen Organisationsstrukturen wider, angefangen bei der Einrichtung des Wehrbeauftragten, der sozusagen das institutionalisierte Mißtrauen gegen das Militär ist. Andere Beispiele sind die Wehrgesetzgebung oder die Tatsachen, daß wesentliche Funktionen in der Hand von Beamten liegen, daß die Bundeswehr keine Militärgerichtsbarkeit ausüben darf und daß der höchste Soldat unter dem Staatssekretär rangiert.
Man hat immer das Gefühl, daß irgendeine geheime Kraft ständig Sand in das Getriebe schaufelt, und daß man bei der Organisation der Bundeswehr weit mehr darum bemüht war, den braven Soldaten vor seinem bösen Vorgesetzten zu schützen und den Staat vor dem Soldaten, als darum, den Soldaten optimal in die Lage zu versetzen, diesen Staat zu schützen.
War aber dennoch die Bundeswehr die „Fortführung der Wehrmacht mit anderen Mittel“? Vielleicht soviel: Etwa zehntausend Offiziere und dreißigtausend Unteroffiziere der Wehrmacht haben die Bundeswehr aufgebaut und dabei natürlich versucht, ihr Geist und Haltung zu vermitteln. Insofern gab es schon ein Anknüpfen an die Wehrmacht. Aber – wie jeder Pfadfinder weiß – wenn die Marschkompaßzahl falsch eingestellt ist, dann kann man laufen wie der Wind: Man kommt nicht ans Ziel.
Erschwerend kommt hinzu, daß dieser Homunculus „Staatsbürger in Uniform“, den man ja aus purer Angst vor dem Soldatischen geschaffen hatte, natürlich keinerlei Verbindung haben durfte zur großen deutschen soldatischen Tradition. Man hat also einen Baum gepflanzt ohne Wurzeln. Wen kann es da wundern, daß dieser Baum wie ein Schilfrohr im Sumpf des Zeitgeistes hin und her schwankt. Und darum haben auch die vielen exzellenten Soldaten und Kommandeure, die diese Bundeswehr natürlich hatte und hat, letztlich nichts an der betrüblichen Gesamtsituation ändern können.
Welche Rolle spielte die Innere Führung, welche spielt sie heute?
Günzel: Das ist wohl eher eine Frage für ein Wochenendseminar. Man hat ja eigens zur Erklärung und Vermittlung dieses äußerst schillernden Begriffes eine eigene Schule geschaffen – das Zentrum Innere Führung in Koblenz. Ganze Bibliotheken sind mit entsprechenden Abhandlungen gefüllt! Und das zeigt bereits, daß diese Idee – um nicht zu sagen: Ideologie – nicht truppentauglich ist. Das „Handbuch Innere Führung“ ist eine Ansammlung von Annahmen, falschen Behauptungen und Idealvorstellungen, die für die Ausrichtung einer Armee völlig untauglich sind. Die Truppe kann jedenfalls nicht viel damit anfangen.
Ich unterstelle dem Grafen Baudissin – dem Schöpfer der Inneren Führung – durchaus ehrenwerte Absichten, edle Motive. Aber er war, bei allem schuldigen Respekt, in vielen Bereichen ein Romantiker, auf der Suche nach der „Blauen Blume“ des Militärs! Und „heilige Einfalt“ kann und darf doch nicht die Grundlage einer Armee sein, bei der es im Ernstfall um nichts Geringeres als um Leben und Tod geht, um die Existenz unseres Staates!
Innere Führung wird häufig als „zeitgemäße Menschenführung“ übersetzt. Aber das greift natürlich viel zu kurz. Wenn es nur das wäre, dann hätte man sich die Kubikmeter von Literatur sparen können. Welche Armee würde denn nicht von sich behaupten, daß sie ihre Soldaten „zeitgemäß“ führt? Und gerade die deutschen und preußischen Armeen sind – schon seit dem Großen Kurfürsten – beispielhaft in ihrer Menschenführung gewesen. Anders wären doch die großen Erfolge – zumal überwiegend aus einer Unterlegenheit an Zahl – gar nicht möglich gewesen. Nein, Menschenführung mußte in Deutschland nicht neu erfunden werden. Das Wesen der Inneren Führung ist deshalb etwas ganz Anderes:
Erstens darf der Soldat keine eigene Kultur mehr haben und schon gar nicht eine Sonderstellung im Staat. Der Satz „Soldat – ein Beruf wie jeder andere“ bündelt diese verhängnisvolle Forderung. Aber so etwas funktioniert, wie bereits dargestellt, allenfalls in einer Abschreckungsarmee. Der Soldat brauchte im Kalten Krieg nicht gehätschelt zu werden, weil er ja für diesen Staat nicht kämpfen und schon gar nicht sterben mußte. Aber genau das gilt jetzt nicht mehr, und darum hat sich auch der Begriff der Inneren Führung erledigt.
Zweitens bedeutet Innere Führung die Zivilisierung des Soldaten: Sein Wesenskern, das Soldatische soll verschwinden. Er soll eigentlich Zivilist sein, soll aber gleichzeitig das können, was ein Soldat kann – von dem besonderen Berufsethos einmal ganz abgesehen. Und das kann nicht funktionieren. Es ist dies ein Spagat, der jeden Menschen überfordert. Man kann nicht von einem Fallschirmjäger verlangen, bei Nacht und Nebel aus 3000 Meter Höhe in einen Busch hineinzuspringen, vier feindliche Soldaten bei den Ohren zu packen – und sich dann tags darauf so brav zu benehmen wie die Oberschwester Maria. Diesen Menschen gibt es nicht. Die Verwirklichung der klassischen soldatischen Tugenden setzt einen besonderen Typus voraus, der eben nicht „nebenbei“ auch noch Zivilist ist.
Der Verteidigungsminister Strauß hat einmal so ironisch gesagt: „Die Bundeswehr soll einerseits die sowjetischen Divisionen an der innerdeutschen Grenze aufhalten und andererseits so brav sein wie die Freilassinger Feuerwehr.“ Wenn man von einem Soldaten verlangt, daß er mitten im Frieden sein Leben aufs Spiel setzt, während der satte Bundesbürger – Bier trinkend und Erdnüsse knabbernd – dies am Fernsehschirm mitverfolgt, dann muß man ihm wenigstens Geld geben – aber richtig. Mit einer Gewerkschaftsarmee, die man behandelt wie ein bewaffnetes „Technisches Hilfswerk“ ist so etwas nicht zu haben.