Autorenportrait Pierre-Joseph Proudhon

pdf der Druckfassung aus Sezession 5 / April 2004

sez_nr_5von Eberhard Straub

„Was für eine Gesellschaft streben Sie also an?“ fragte Prinz Napoleon, der spätere Kaiser Napoleon III., den ihn interessierenden Pierre-Joseph Proudhon. „Eine, in der ich als ein Konservativer geköpft würde“, antwortete verschmitzt l‘homme terreur, der Schreckensmann aller leicht zu verängstigenden Bürger während der Februar-Revolution 1848. Er verstand sich, wie er oftmals wiederholte, als Revolutionär, der jedoch zutiefst konservativ sei. „Wer Revolution sagt, meint notwendigerweise Fortschritt und damit unweigerlich Bewahrung (conservation)“. Denn die gesellschaftlichen Veränderungen in der Geschichte entwickeln sich in einer ununterbrochenen Reihe von Metamorphosen, in der jede Umgestaltung sich aus Vorformen ergibt, die den Keim zu Umwandlungen in sich enthalten. Revolutionen, die sich selber idealisieren und darüber die „revolutionäre Geduld“ verlieren, weil sie Abstraktionen, weltfremde Ideale verwirklichen wollen, statt aus dem konkreten Leben zu neuen Lebensformen hinüber zu leiten, müssen, wie die Große, die Französische Revolution bestätigte, nach Proudhons Ansicht scheitern.

In die­sem Sin­ne war er tat­säch­lich ein Kon­ser­va­ti­ver und Revo­lu­tio­när, der ers­te, der mit sei­ner Freu­de am Para­dox die­se bei­den Gegen­sät­ze mit­ein­an­der­ver­söhn­te und für die Kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on warb, weil alles Neue, was sich nicht aus der Tra­di­ti­on recht­fer­tigt, nur Wie­der­ho­lung, Pla­gi­at ist, Wie­der­kehr des Alten, das gewalt­sam umge­stürzt wur­de und in ver­zerr­ter Gestalt erst recht als lebens­feind­li­che Macht wirkt. Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865) war als kon­ser­va­ti­ver Revo­lu­tio­när kein Repu­bli­ka­ner. „Res publi­ca meint die öffent­li­che Sache, und wer immer sich der öffent­li­chen Sache wid­met unter wel­cher Regie­rungs­form auch immer, kann sich Repu­bli­ka­ner nen­nen. Auch Köni­ge sind daher Repu­bli­ka­ner“. Als Demo­krat moch­te er nicht gel­ten, aus Miß­trau­en gegen­über dem soge­nann­ten Volk, das sich nach Füh­rern seh­ne. Mon­ar­chist oder Aris­to­krat konn­te er nicht sein, weil er die Herr­schaft eines Ein­zel­nen und auch die eini­ger Weni­ger ver­ur­teil­te. Ver­fas­sun­gen und Gewal­ten­tei­lung hielt er für gro­ße Täu­schungs­ma­nö­ver. Er wit­ter­te unter allen insti­tu­tio­nel­len Mas­ke­ra­den die Schel­me­rei und den Betrug, auch im Kom­mu­nis­mus oder Sozia­lis­mus. So war er für alle Rich­tun­gen ver­däch­tig, von allen je nach ihrer Dog­ma­tik exkom­mu­ni­ziert, wie er, der reso­lu­te Anti-Dog­ma­ti­ker, zufrie­den bemerkte.
Mit dem Selbst­be­wußt­sein des frei­en Man­nes, der die Wür­de des Men­schen dar­in erkennt, zur Frei­heit beru­fen zu sein, begriff er sich als Anar­chis­ten. Als Herr sei­ner selbst, kei­ner Auto­ri­tät hörig, ent­zog er sich schroff allen Ver­su­chen, ihn zum Kon­for­mis­ten oder Kol­la­bo­ra­teur zu machen, ihn ein­zu­pas­sen in die ideo­lo­gi­schen Sys­tem­le­gi­ti­ma­tio­nen, also zur poli­ti­schen Kor­rekt­heit zu erzie­hen, wie heu­te Schel­me befrei­en­der Auf­klä­rung die Gleich­schal­tung zur sys­tem­ge­rech­ten Funk­ti­ons­tüch­tig­keit nen­nen. Proudhon mach­te sich unmög­lich für all jene, die nach dem bes­ten Staat und der bes­ten Ver­fas­sung such­ten, wohin­ge­gen er als frei­er Mann jede Regie­rungs­form danach beur­teil­te, in wie weit sie es dem Men­schen erlau­be, frei zu leben und dadurch sei­ne Frei­heit als sei­ne Bestim­mung und Beru­fung zu erle­ben. Er ging vom Men­schen aus, von der radi­ka­len Frei­heit des Ein­zel­nen, der im Ande­ren nicht sei­nen Nächs­ten sieht, son­dern den Frem­den, den ganz ande­ren fürch­tet, der mit sei­ner radi­ka­len Frei­heit ihm gefähr­lich wird. Proudhons Fein­de – Geg­ner hat­te er nicht – spra­chen vom Staat, von der Ver­fas­sung, von all­ge­mei­nen Ideen, auf die sie jeden Ein­zel­nen mit sei­ner pro­prie­tas, mit sei­nem unver­wech­sel­ba­ren Eigen­tum bezo­gen. Proudhons deut­scher Zeit­ge­nos­se Max Stir­ner brach­te den liber­tä­ren Anar­chis­mus 1845 auf die prä­gnan­te und pole­mi­sche For­mel: Der Ein­zi­ge und sein Eigen­tum. Jeder Mensch ist ein­zig, eine Welt für sich, uner­schöpf­lich, unaus­sprech­bar und kei­nes Ande­ren Nach­hall oder Widerschein.

Was Proudhon dazu ver­an­laß­te, Hym­nen auf die unein­ge­schränk­te Sou­ve­rä­ni­tät des Ich anzu­stim­men, beruh­te auf sei­ner dra­ma­ti­schen, sich bis zur Ver­zweif­lung stei­gern­den Angst, daß der Staat, wie auch immer ver­faßt, ein Eigen­le­ben ent­fal­ten wür­de, alles erfas­send, durch­drin­gend und struk­tu­rie­rend und jedes ande­re Eigen­le­ben ersti­ckend und abwür­gend. Es war der moder­ne Staat, der nach­re­vo­lu­tio­nä­re, den er fürch­te­te, des­sen des­po­ti­sche Mög­lich­kei­ten mit der Aus­wei­tung sei­ner Auf­ga­ben ver­bun­den sind. Die Aus­beu­tung des Men­schen durch Men­schen hielt er für unend­lich aus­dehn­bar in Staa­ten, die ihrer Ten­denz, ihrem inners­ten Gesetz gemäß nach Tota­li­tät stre­ben, der Erfas­sung, Koor­di­nie­rung und Mobil­ma­chung aller indi­vi­du­el­ler Kräf­te für den Staats­zweck. Proudhon, der auf „Lebens­to­ta­li­tät“, auf die freie Ent­fal­tung geis­tig-see­li­scher Ener­gien hoff­te, emp­fand ein Grau­en unter dem Ein­druck der den Men­schen dro­hen­den Gefahr, mecha­ni­siert und in Ver­wal­tungs- oder Pro­duk­ti­ons­pro­zes­sen zu Funk­ti­ons­ele­men­ten redu­ziert zu wer­den. Da er nicht an einen kon­se­quen­ten, ziel­ge­rich­te­ten Gang der Geschich­te glaub­te, son­dern gera­de wegen der Frei­heit des Men­schen Kata­stro­phen, Rück­schlä­ge, Ein­brü­che des Cha­os und damit Frei­heits­ver­lus­te stets als mög­lich erach­te­te, über­kam ihn eine wach­sen­de Angst vor der Zukunft. Für das zwan­zigs­te Jahr­hun­dert erwar­te­te er eine Zeit der voll­stän­di­gen Kol­lek­ti­vie­rung des Men­schen, also der Frei­heits­be­rau­bung und Ver­skla­vung im Namen gesell­schaft­li­cher Har­mo­ni­sie­rung. „Ganz Euro­pa ist krank; die Unmo­ral wird fürch­ter­lich und das Elend folgt ihr auf den Fuß. Mord­und Tot­schlag wer­den zu ganz gewöhn­li­chen Vor­komm­nis­sen und die Erschöp­fung nach sol­chen Blut­bä­dern wird ent­setz­lich sein. Wir sehen nicht die Mor­gen­rö­te einer neu­en Zeit; wir kämp­fen mit­ten in der Nacht. Wir müs­sen, wenn wir klug sind, stil­le hal­ten und unse­re Pflicht tun, um die­ses Leben trotz fast zer­mür­ben­der Trau­er auf uns zu neh­men; ste­hen wir ein­an­der bei, rufen wir ein­an­der im Dun­kel und sor­gen wir uns, wann immer sich die Gele­gen­heit dazu bie­tet, um die Gerech­tig­keit: das bleibt als Trost der ver­folg­ten Tugend“. Solch düs­te­re Ahnun­gen quäl­ten Zeit­ge­nos­sen wie den lei­den­schaft­li­chen Anti-Demo­kra­ten Arthur de Gobi­neau oder einen besieg­ten Aris­to­kra­ten wie Alexis de Toc­que­ville, der unab­läs­sig dar­über nach­sann, wie aus dem Schoß der unver­meid­li­chen Demo­kra­tie die Frei­heit her­vor­ge­hen kön­ne. Der demo­kra­ti­sche Sou­ve­rän, nach Toc­que­ville mit Voll­mach­ten aus­ge­stat­tet, von denen kein Mon­arch je zu träu­men wag­te, „bricht den Wil­len nicht; er weicht auf und beugt und lenkt ihn; er zwingt sel­ten zum Tun, aber er wen­det sich fort­wäh­rend dage­gen, daß man etwas tue, er zer­stört nicht, er hin­dert, daß etwas ent­ste­he, er tyran­ni­siert nicht, er hemmt, drückt nie­der, er zer­bricht, er löscht aus, er stumpft ab, und schließ­lich bringt er jedes Volk soweit her­un­ter, daß es nur noch eine Her­de arbeit­sa­mer Tie­re ist, deren Hir­te die Regie­rung ist“. Es nimmt die Bevor­mun­dung hin, indem es sich sagt, daß es sei­ne Vor­mün­der sel­ber aus­ge­wählt hat, die es ihm ermög­li­chen end­lich vom frei­en Men­schen zum frei­zeit­ver­til­gen­den Ver­brau­cher auf­zu­stei­gen. Toc­que­vil­les Bild des demo­kra­ti­schen Ver­wal­tungs­staa­tes, hof­fend, die Idee der Frei­heit wer­de stär­ker sein und des­sen Ein­bruch in die Wirk­lich­keit ver­hin­dern, unter­schei­det sich kaum von den ban­gen Erwar­tun­gen Proudhons. Bei­de fürch­te­ten den staat­li­chen Abso­lu­tis­mus, den die Demo­kra­ti­sie­rung nicht gebro­chen habe, viel­mehr fort­schrei­tend ver­stär­ke. Wie über­haupt von Früh­so­zia­lis­ten wie Saint-Simon, Fou­rier oder Leroux, Libe­ra­len wie Miche­let oder Qui­net, Kon­ser­va­ti­ven wie Bonald, Bal­zac oder Cha­teau­bri­and besorgt dar­über debat­tiert wur­de, wie ein neu­es Gleich­ge­wicht zwi­schen der Frei­heit des Ein­zel­nen, der Frei­heit aller Ein­zel­nen als Gesell­schaft und der Frei­heit des Staa­tes gefun­den wer­den könne.

Alle beun­ru­hig­ten Beob­ach­ter beklag­ten die heil­lo­se Zer­ris­sen­heit der öffent­li­chen Zustän­de, die Unmo­ral, Kor­rup­ti­on, par­tei­li­chen Zwis­te und Klas­sen­kämp­fe. Der Mythos der Revo­lu­ti­on und Napo­le­ons, der natio­na­len Idee, der sich gera­de wegen der offen­kun­di­gen all­ge­mei­nen Kri­se ent­wi­ckel­te, ergab sich in Anknüp­fung an das revo­lu­tio­nä­re Ziel, eine Ein­heit unter den ein­zel­nen Wil­len und Tem­pe­ra­men­ten zu schaf­fen, eine Über­ein­stim­mung der Her­zen und ver­nünf­ti­gen Über­zeu­gun­gen her­zu­stel­len, die den Staat und die Nati­on zu einer dyna­mi­schen Lebens­ge­mein­schaft umwan­del­ten. Par­tei­lich­keit, Plu­ra­lis­mus, Frak­ti­ons­geist faß­ten die Revo­lu­tio­nä­re schon 1789 als zer­set­zen­de Übel auf, weil sie die ver­nünf­ti­ge Ein­mü­tig­keit des sou­ve­rä­nen Vol­kes gefähr­de­ten. Die eine Ver­nunft muß sich in der einen, unteil­ba­ren Nati­on, die Aus­druck der künf­ti­gen Ein­heit des Men­schen­ge­schlech­tes ist, ein­mü­tig, das heißt ein­stim­mig zu erken­nen geben. Die Demo­kra­tie und die zu ihr gehö­ren­de Nati­on ega­li­sie­ren und uni­for­mie­ren, sie ver­ein­heit­li­chen, denn sie wol­len den Volks­wil­len ver­an­schau­li­chen, der unter Umstän­den, wie Robes­pierre lehr­te, der auf­klä­ren­den Schu­lung durch Wohl­fahrts­aus­schüs­se bedarf, um zu sei­ner Gleich­ge­stimmt­heit zu fin­den. Die unter sich zer­strit­te­nen Erben oder Geg­ner der Revo­lu­ti­on setz­ten trotz aller Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten ihre Hoff­nung auf den Staat, auf einen jeweils anders nuan­cier­ten Staat als Stif­ter und Neu­be­grün­der jener Ein­heit, die zer­bro­chen ist und wel­che die Gesell­schaft aus sich, heil­los zer­spal­ten, nicht mehr her­vor­zu­brin­gen vermag.
In einem sol­chen Milieu auf­ge­reg­ter Nie­der­ge­schla­gen­heit ent­warf Proudhon sei­ne Gedan­ken. Wie kaum ein ande­rer ließ er sich auf die Wider­sprü­che sei­ner Zeit ein, wes­halb er sich selbst zuwei­len in Wider­sprü­che ver­wi­ckel­te. Aber gera­de des­halb wur­de er neben Toc­que­ville zu einem der ein­dring­lichs­ten Wirk­lich­keits­wis­sen­schaft­ler sei­ner Zeit. Den Ursprung aller Übel erkann­te der Kämp­fer gegen eine nahe­zu unkon­trol­lier­bar gewor­de­ne Aus­wei­tung der Staats­be­fug­nis­se in dem Umstand, daß sich die Revo­lu­ti­on von 1789 und deren Erben gar nicht von dem zu lösen ver­moch­ten, woge­gen sie rebel­lier­ten, von katho­lisch-auto­ri­tä­ren Begrif­fen, die den könig­li­chen Staat legi­ti­miert hat­ten. Hin­ter den libe­ra­len Beschwö­run­gen der Frei­heit des Men­schen als Staats­bür­ger wit­ter­te er nur den Ego­is­mus einer Klas­se oder der Besit­zen­den, die mit der Wür­de des Geset­zes und der Hei­lig­keit des Eigen­tums – anlog zur kirch­li­chen Zwangs­an­stalt – die freie Bewe­gung im Sin­ne ihrer Inter­es­sen beschnei­den wol­len. Die Macht der Kir­che sah er in ande­rer Gestalt im staat­li­chen, all­mäh­lich demo­kra­ti­schen Abso­lu­tis­mus nach­ge­ahmt. Frei­heit, Gleich­heit und Men­schen­wür­de, genu­in christ­li­che Vor­stel­lun­gen, wie Proudhon Libe­ra­len, Demo­kra­ten oder Sozia­lis­ten erläu­ter­te, nahm er beim Wort, um mit ihnen gegen einen Auto­ri­täts­be­griff zu strei­ten, der sich von der gött­li­chen Auto­ri­tät ablei­te­te. Er bemerk­te den theo­lo­gi­schen Kern in allen poli­ti­schen Begriffen.

Der gelehr­te Theo­lo­ge, der er auch war, erkann­te in der Auto­ri­tät Got­tes, jen­seits vom Men­schen und über ihn erho­ben, einen Angriff auf die Frei­heit und die Men­schen­wür­de. In den reli­giö­sen Epo­chen, die er durch­aus als Fort­schritt zur Frei­heit betrach­te­te, konn­te es noch ange­hen, in der Auto­ri­tät des Königs – weil der Staat sich als Pro­lon­ga­ti­on der Fami­lie ver­stand – einen Hin­weis auf die väter­li­che All­macht Got­tes zu erken­nen. Epo­chen, die vor­ge­ben, im Namen der Frei­heit aller Glei­chen sich reli­giö­ser Mys­ti­fi­ka­tio­nen zu ent­zie­hen, ver­fal­len jedoch, um Auto­ri­tä­ten zu recht­fer­ti­gen, sofort wie­der in Mys­ti­fi­ka­tio­nen, jetzt rein welt­li­che, ideo­lo­gi­sche, die sich dog­ma­tisch gegen den frei­en Ein­zel­nen rich­ten und mit ihren eige­nen Ver­hei­ßun­gen unver­ein­bar sind. Alle Regie­run­gen seit 1789 ver­fin­gen sich in Wider­sprü­chen. Sie ver­ab­schie­de­ten sich als Anti­kle­ri­ka­le von der Kir­che, möch­ten aber einen durch die Kir­che über­lie­fer­ten Auto­ri­täts­be­griff bewah­ren, mit dem sie schlau die gesam­te Gesell­schaft mani­pu­lie­ren. Auch freie Wah­len kön­nen kei­ne legi­ti­me Auto­ri­tät ermög­li­chen. Sie sind nur Ver­an­stal­tun­gen, um par­ti­el­le Belan­ge, in der Regel zum Vor­teil von Besitz und Bil­dung, durch­zu­set­zen und ihnen anschlie­ßend mit der Wür­de des Geset­zes eine Pseu­do­hei­lig­keit zu ver­schaf­fen, die den nack­ten Ego­is­mus kaum ver­schlei­ern kön­nen. Es behaup­tet sich also eine Auto­ri­tät, ja sie ver­stär­ke zuneh­mend ihre Wirk­sam­keit, der jeder inne­re, über­zeu­gen­de Gehalt feh­le, die sich aber des­to rück­sichts­lo­ser und belie­bi­ger gegen die Ein­zel­nen und Ver­ein­zel­ten wende.
Die Herr­schaft der Geset­ze ist eine rein äußer­li­che Macht, die sich mit ihrem Zwang gera­de um die jedem Men­schen in sei­ner Inner­lich­keit, in sei­nem Gewis­sen ver­trau­te Gerech­tig­keit nicht küm­me­re, sie nicht ein­mal beach­te. Der vor sich hin wuchern­de Gesetz­ge­bungs­staat, der unun­ter­bro­chen ege­lungs­be­darf ent­deckt, ver­dun­ke­le die Idee des Rech­tes. Proudhon woll­te die lee­ren, nur noch äußer­li­chen Auto­ri­tä­ten end­gül­tig erschüt­tern, indem er sich gegen das Urbild aller Auto­ri­tät und der Herr­schaft über Men­schen wand­te, gegen Gott. Der habe dem Men­schen die Frei­heit zuge­stan­den, zwi­schen Gut und Böse, Freund und Feind wäh­len zu kön­nen. Aber eigen­sin­nig behielt er sich vor, zu bestim­men, was Gut und Böse sei, womit er die Frei­heit des Men­schen auto­ri­tär ein­schränk­te. Gott ist das Bild der unein­ge­schränk­ten Frei­heit. Sein Eben­bild auf Erden, der Mensch, weiß was ihm vor­ent­hal­ten wird: die vol­le Frei­heit, die Gott eifer­süch­tig sich vor­be­hält. Ana­log zu sei­ner sou­ve­rä­nen Eifer­sucht ver­hält sich der Gesetz­ge­bungs­staat, der eine uner­meß­li­che Unab­hän­gig­keit bean­sprucht und sich wie Gott stra­fend, regle­men­tie­rend, beloh­nend, für­sorg­lich in alles ein­mischt. Die Frei­heit und Auto­ri­tät Got­tes sind für Proudhon ein Sym­bol für die Frei­heit und Auto­ri­tät aller Men­schen, die in glei­cher Wei­se zu der Unab­hän­gig­keit beru­fen sind, die sich in der Vor­stel­lung vom frei­en Gott äußert. Weil sich die sitt­lich lee­ren Auto­ri­tä­ten der soge­nann­ten Recht­staat­lich­keit, höchs­tens ange­rei­chert mit ideo­lo­gi­schen Abso­lu­tis­men, die nur den Macht­wahn einer poli­ti­schen Theo­lo­gie und poli­ti­sie­ren­den Kir­che wie­der­ho­len, bloß als Zwang bemerk­bar machen, strei­tet Proudhon gegen Gott, des­sen Gerech­tig­keit libe­ra­le Geset­zes­gläu­bi­ge aus­höh­len, eben in Unkennt­nis der Gerech­tig­keit, die Gott ist. Sie bean­spru­chen eine mai­es­tas, die nur Gott, also der Gerech­tig­keit, zusteht, für belie­bi­ge Ver­ord­nun­gen, die jeder mai­es­tas ent­beh­ren, weil sie nicht mit dem Urbild der Gerech­tig­keit in Über­ein­stim­mung zu brin­gen sind.

Die­ser Antit­he­ist, der den Athe­is­mus miß­bil­lig­te, dach­te nach eige­nem Bekennt­nis seit er atme­te an Gott. Das regnum Dei, die Königs­herr­schaft Got­tes, ver­warf Proudhon als Mit­tel auto­ri­tä­rer Selbst­ent­frem­dung des Men­schen. Aber die Gerech­tig­keit Got­tes blieb ihm die höchs­te Auf­ga­be, denn an ihr wirkt der Mensch mit, des­sen Bestim­mung es sei, der Gerech­tig­keit zur Erschei­nung in der Rea­li­tät zu ver­hel­fen. Inso­fern ist es trotz gele­gent­lich blas­phe­mi­scher Aus­fäl­le bibli­scher Geist, der auch sei­ne poli­ti­schen Begrif­fe erfüll­te. Den ein­zi­gen Gerech­ten auf Erden fei­er­te er in Jesus Chris­tus, den unver­gleich­li­chen, der als leben­di­ges Wort der Gerech­tig­keit im Mit­tel­punkt der Geschich­te der Mensch­heit steht. Im Pro­test gegen eine ver­faul­te und von ver­fau­len­den Inter­es­sen­grup­pen gequäl­te Gesell­schaft – sein auf­merk­sams­ter Leser unter den Deut­schen, Richard Wag­ner, hat das im Ring des Nibe­lun­gen dra­ma­ti­siert – ver­setz­te er die Gerech­tig­keit, das gött­lich freie Ver­mö­gen, in das Gewis­sen eines jeden Einzelnen.
Er darf und muß sich gegen alle Unge­rech­tig­kei­ten zur Wehr set­zen. Gott in sei­nem abso­lu­ten Herr­schafts­an­spruch ver­tre­ten in der moder­nen poli­ti­schen Gesell­schaft die phi­lo­so­phi­schen Sys­te­me, die Ideo­lo­gien und poli­tisch-öko­no­mi­schen Ziel­vor­stel­lun­gen. Sie neh­men mit ihrer Dog­ma­tik, mit ihrem tota­len, den gan­zen Men­schen for­dern­den Wunsch nach abso­lu­ter Gel­tung die Stel­le Got­tes ein, die Gesell­schaft mög­lichst zu einer Wer­te-Gemein­schaft umdeu­tend, einer inner­welt­li­chen Kir­che, deren Kult, statt einem per­sön­li­chen Gott, den Höchs­ten Wer­ten dient. Inso­fern ver­warf Proudhon sämt­li­che Ideo­lo­gien oder Ent­wür­fe von einem idea­len Staat als been­gend. Der Staat ver­schwin­det nicht, er ist wie der Nacht­wäch­ter not­wen­dig, aber Poli­tik und Theo­lo­gie, vor allem theo­lo­gi­sier­te Poli­tik müs­sen ver­schwin­den, die ideo­lo­gi­schen Über­mäch­te, die nur Unfrei­heit und Unord­nung bewir­ken. Dann erst wird eine mecha­ni­sier­te Gesell­schaft, das Kor­re­lat zu einem mecha­nis­ti­schen Staat und den kapi­ta­lis­ti­schen Markt­me­cha­nis­men, zu einer orga­ni­schen Ord­nung gelan­gen, die in dau­ern­der Bewe­gung den Ein­zel­nen und die Gesell­schaft umfängt, ohne sie aber in eins zu set­zen. Proudhon sieht Bezie­hun­gen, Schwin­gun­gen, kei­ne Abhän­gig­kei­ten. Gegen­sät­ze wer­den in einer kon­kre­ten Ord­nung der Gerech­tig­keit aus­ge­gli­chen, gemil­dert und sozi­al ver­träg­lich gemacht. Denn die grund­sätz­li­che Span­nung von Indi­vi­du­um, Gesell­schaft und Staat soll und darf gar nicht auf­ge­ho­ben wer­den, da sie unmit­tel­bar zur Frei­heit gehört.
Als Geg­ner aller Uto­pien war Proudhon sich dar­über klar, daß ein span­nungs­lo­ses Dasein uto­pisch ist. Jedes sozia­le Phä­no­men erhält sich aus Gegen­sät­zen, aus dem Wett­streit nach­tei­li­ger und vor­teil­haf­ter Anla­gen. Nicht der Staat, die Auto­ri­tät, das Gesetz sind schlecht oder böse, son­dern es sind die redu­zier­ten und dann auch noch ver­ab­so­lu­tier­ten Vor­stel­lun­gen von ihnen läs­tig und hin­der­lich, mit denen ein­zel­ne Aspek­te iso­liert und zu ego­is­ti­schem Herr­schafts­an­spruch miß­braucht wer­den. Der stren­ge Mora­list, ohne Scheu vor Prü­de­rie im Kampf gegen die bour­geoi­se Por­no­kra­tie, erwar­te­te vom Ein­zel­nen, des­sen Frei­heit er begeis­tert ver­tei­dig­te, Opfer­be­reit­schaft, Ver­zicht, Aske­se, um als sacri­fi­ci­um jus­ti­tiae, sich der Gerech­tig­keit in der Nach­fol­ge Chris­ti opfernd, sein Ich zu erwei­tern zum Du und Wir, sein Eigen­tum zum Aus­druck der Gat­tung, der Mensch­heit, zu stei­gern. Das alles nann­te er Anar­chie, freie Selbst­be­herr­schung im Bünd­nis mit gleich­be­rech­tig­ten Anderen.

Im hem­mungs­lo­sen Indi­vi­dua­lis­mus der gött­lich-schö­nen Men­schen, im Hedo­nis­mus kapi­ta­lis­ti­scher Ver­brau­cher oder im Lust­prin­zip der sich ankün­di­gen­den Spaß­ge­sell­schaft der ver­gnü­gungs­süch­ti­gen Unter­hal­tungs­de­mo­kra­tien ver­mu­te­te er eine sata­ni­sche Gesetz­lo­sig­keit im Zei­chen der Auf­lö­sung, der Unord­nung und des Cha­os. So oft er auch von Revo­lu­ti­on sprach, er lehn­te es ab, sie zu „machen“. Auch sie soll­te ein Akt spon­ta­ner Über­ein­stim­mung sein, das Ergeb­nis einer lan­gen Ent­wick­lung, die sich im Ein­ver­ständ­nis mit der Ver­gan­gen­heit in die Zukunft ergießt. Im Gegen­satz zu Karl Marx, mit dem er sich schnell über­wor­fen hat­te, im Mar­xis­mus eine der fürch­ter­lichs­ten Bedro­hun­gen der Frei­heit ver­mu­tend, dach­te er nicht an Klas­sen­kampf, son­dern an eine all­mäh­li­che Ver­söh­nung der Besit­zen­den mit denen, die nichts besa­ßen, indem die­sen Besitz ermög­licht und die Ver­mö­gen durch wech­sel­sei­ti­ges Ent­ge­gen­kom­men aus­ge­gli­chen wür­den. Er ist einer der ers­ten Ver­fech­ter der Sub­si­dia­ri­tät und des Föde­ra­lis­mus, um mit frei­en Ver­ei­ni­gun­gen gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Auf­ga­ben bewäl­ti­gen zu kön­nen und damit zugleich den das kon­kre­te Leben miß­ach­ten­den demo­kra­tisch-zen­tra­li­sie­ren­den Orga­ni­sa­ti­ons­trieb abzu­schwä­chen. Der Föde­ra­lis­mus schien ihm das bes­te Mit­tel zu sein, den des­po­ti­schen, tota­li­tä­ren Ten­den­zen ent­ge­gen­zu­wir­ken, die er, unbe­rührt von Illu­sio­nen, auch im libe­ra­len, ideo­lo­gi­schen Gesetz­ge­bungs­staat wie in der Demo­kra­tie ver­mu­te­te mit ihrer Nei­gung zur Gleich­schal­tung unter dem tyran­ni­schen Druck der Mehrheit.
Hier, wie in vie­len sei­ner Über­le­gun­gen trifft er sich mit Sor­gen und Befürch­tun­gen Toc­que­vil­les, der aller­dings Proudhon als sozia­len Auf­stei­ger und Auto­di­dak­ten für kei­nes­wegs satis­fak­ti­ons­fä­hig in geis­ti­gen Duel­len hielt. Proudhon mit sei­nem See­len­adel, den Kar­di­nal Hen­ri de Lubac ihm zuge­stand, betrach­te­te Toc­que­ville als ver­bür­ger­lich­ten Sys­tem­po­li­ti­ker des Bür­ger­kö­nig­tums Lou­is Phil­ip­pes – womit er ihm unrecht tat –, aber er las Toc­que­ville auf­merk­sam, durch­aus bereit, von ihm metho­disch zu ler­nen und sich von ihm anre­gen zu las­sen. Er hat­te als Freund der Frei­heit kei­ne sozia­len Vor­ur­tei­le und des­halb auch kei­ne Angst vor Gedan­ken. Er hielt nahe­zu alle Gedan­ken für frucht­bar und brauch­bar, erst deren Iso­lie­rung aus bele­ben­den Zusam­men­hän­gen, ihre ideo­lo­gi­sche Ver­selb­stän­di­gung konn­ten sie unnütz machen, wor­in er übri­gens wie­der mit Toc­que­ville über­ein­stimm­te, dem jeder Dog­ma­tis­mus in gesell­schaft­lich-his­to­risch-poli­ti­schen Über­le­gun­gen höchst wider­wär­tig war. Wirk­lich ver­stan­den haben die­sen frei­en, sich auf das Wag­nis des Lebens und dadurch auf das Wag­nis des Den­kens ein­las­sen­den Revo­lu­tio­när, der weder links noch rechts, und am aller wenigs­ten im jus­te milieu zu Hau­se war, son­dern unge­bun­den, immer bereit für geis­ti­ge Aben­teu­er, nur Künst­ler, geis­ti­ge Aben­teu­rer wie Richard Wag­ner, Charles Bau­de­lai­re, Bar­bey d‘Aurevilly oder spä­ter in Spa­ni­en radi­ka­le Indi­vi­dua­lis­ten wie Miguel de Unamu­no oder José Orte­ga y Gas­set, der Künst­ler unter den Phi­lo­so­phen. Sie alle stemm­ten ihr Ich – und ihr Werk – einer Zeit, einer Gegen­wart, einer Moder­ne ent­ge­gen, der sie sich ver­wei­ger­ten. Mit der gro­ßen Ver­wei­ge­rung – die Demo­kra­tien genau­so wenig mag wie tyran­ni­sche – Proudhon hät­te gesagt: wie ande­re tyran­ni­sche – Sys­te­me, behaup­te­ten sie ihre längst pre­kä­re Unab­hän­gig­keit, zu der in der fins­te­ren Moder­ne, wie Bau­de­lai­re mein­te, neben dem Künst­ler nur noch der Pries­ter und Sol­dat fähig sind, weil bereit zum sacri­fi­ci­um ius­ti­tiae, der Auf­op­fe­rung im Dienst der Gerech­tig­keit. In die­sem Sin­ne trös­te­te Proudhon 1863 einen depri­mier­ten Priester.
Mensch zu sein, heißt sich nicht von den Wider­wär­tig­kei­ten des Daseins nie­der­drü­cken zu las­sen, son­dern das Bild Got­tes in uns zu ent­wik­keln. Wir sind die Zeit und so wir­ken wir am Reich des Geis­tes hier auf Erden, das ist unser Ziel, unser Zweck und unse­re Auf­ga­be. Was Proudhon ver­lang­te ent­sprach der cor­te­sia chris­tia­na, wie sie seit Rai­mun­dus Lul­lus und Bern­hard von Clairvaux für vor­neh­me, anspruchs­vol­le Euro­pä­er zur Ver­pflich­tung wur­de: mög­lichst auf sehr anmu­ti­ge Wei­se, „leicht wie aus dem Nichts gesprun­gen“ ein Heroe und zugleich ein Hei­li­ger zu sein. Ein sol­ches Lebens­pro­gramm war zu Proudhons Zei­ten schon völ­lig alt­mo­disch, unver­ständ­lich und es ist mitt­ler­wei­le ganz ein­fach lächer­lich gewor­den. Inso­fern muß es nicht erstau­nen, daß Proudhon, der revo­lu­tio­nä­re Ver­nei­ner, der Anar­chist, gefürch­tet und ange­fein­det von bra­ven Bür­gern, ganz unbe­fan­gen von sich sagen konn­te: Le vrai con­ser­va­teur, c‘est moi – der wah­re Kon­ser­va­ti­ve bin ich.

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