Die reaktionäre Linke

pdf der Druckfassung aus Sezession 5 / April 2004

sez_nr_5von Karlheinz Weißmann

Es gehört zu den Mißhelligkeiten aller Ideologien, daß sie im Stadium der Verwirklichung den Erwartungen ihrer Anhänger nicht oder nicht vollständig entsprechen. Besonders groß ist die Enttäuschung naturgemäß im Lager der Linken. Ein Grund dafür ist das utopische Moment, das allen linken Weltanschauungen eignet, ein anderer – wenig beachteter - ist die Neigung, die Geschichte der Linken um alles zu bereinigen, was dem orthodoxen Selbstverständnis widerspricht. Daß dem Ursprung nach Rassenlehre und Nationalismus, totalitäre Herrschaft und Terror genuin linke Konzepte sind, wurde dem Vergessen anheim gegeben. Der Aufstieg der Linken im 20. Jahrhundert setzte voraus, daß sie sich neu „erfand“ und alle Spuren ideologischer Ausschweifung verwischen konnte. Wenn sie wieder erkennbar werden, ist man peinlich berührt.

Die The­se von der Lin­ken, die sich neu erfun­den hat, wur­de in jüngs­ter Zeit von einem fran­zö­si­schen Poli­tik­wis­sen­schaft­ler, Marc Cra­pez, ein­drucks­voll belegt. Cra­pez behan­del­te in sei­nem ers­ten Buch über die „reak­tio­nä­re Lin­ke“ (La gau­che réac­tion­n­aire. Mythes de la plè­be et de la race dans le sil­la­ge des Lumiè­res, Paris: Berg Inter­na­tio­nal 1996, 339 S.) vor allem die in Deutsch­land wenig bekann­ten „Héber­tis­ten“. Die­se Grup­pie­rung stand in der Nach­fol­ge Jac­ques René Héberts, der wäh­rend der Revo­lu­ti­on zu den Füh­rern der radi­ka­len Jako­bi­ner gehör­te, aller­dings mit Robes­pierre kon­kur­rier­te. Wäh­rend Robes­pierre ein treu­er Schü­ler Rous­se­aus war, hing Hébert einer mate­ria­lis­ti­schen Phi­lo­so­phie an, die nur von einer Min­der­heit der Auf­klä­rer akzep­tiert wur­de. Auf Grund des­sen ver­trat er einen schar­fen Athe­is­mus (gegen die deis­ti­schen Ideen Robes­pierres) und ein zyni­sches Poli­tik­kon­zept. Der Macht­kampf inner­halb der jako­bi­ni­schen Par­tei ende­te trotz­dem zu Guns­ten Robes­pierres, der Hébert 1794 unter der Guil­lo­ti­ne ster­ben ließ. Des­sen Ein­fluß auf die fran­zö­si­sche Lin­ke des 19. Jahr­hun­derts blieb aller­dings erhalten.
Die­ser Ein­fluß erklärt nach Cra­pez vie­le irri­tie­ren­de Züge in den lin­ken Pro­gram­men, die nicht etwa auf die Über­nah­me „rech­ter“ Vor­stel­lun­gen zurück­zu­füh­ren sei­en, son­dern aus dem Fun­dus der eige­nen Denk­tra­di­ti­on stamm­ten: der aus­ge­präg­te Anti­se­mi­tis­mus, der nicht nur anti­ka­pi­ta­lis­tisch, son­dern auch anti­christ­lich moti­viert war und schließ­lich wis­sen­schaft­lich – also ras­sis­tisch – argu­men­tier­te, dann der Natio­na­lis­mus und schließ­lich die Ver­klä­rung der Gewalt als poli­ti­sches Mit­tel. Vor allem unter den Blan­quis­ten (benannt nach dem Früh­so­zia­lis­ten Augus­te Blan­qui) genoß man die Beschimp­fung der Sozia­lis­ten als „Bar­ba­ren“ und wen­de­te sie gegen die herr­schen­den „deka­den­ten“ Klas­sen, die die „Kul­tur“ rekla­mie­ren moch­ten, wenn man selbst doch die unge­bro­che­ne „Lebens­kraft“ besaß. Wie das römi­sche Reich an sei­ner Weich­lich­keit zugrun­de ging, wer­de der Kapi­ta­lis­mus zugrun­de gehen, wie die Ger­ma­nen über die Gren­zen flu­te­ten und die Herr­schaft über­nah­men, wer­de das Pro­le­ta­ri­at sich mit der sozia­lis­ti­schen Revo­lu­ti­on erhe­ben und die Macht gewinnen.

Cra­pez kann nach­wei­sen, daß die Héber­tis­ten in der Zeit des zwei­ten Kai­ser­reichs – vom eng­li­schen Exil aus, im Unter­grund, aber dann auch offen agie­rend – ihre Stel­lung stär­ken konn­ten. Das erklä­re den nach­hal­ti­gen Wider­stand inner­halb der fran­zö­si­schen Lin­ken gegen den (deut­schen und jüdi­schen) Mar­xis­mus, aber auch das Auf­tre­ten sozia­lis­ti­scher Ein­zel­gän­ger wie Vacher de Lapouge, der ras­si­sche Segre­ga­ti­on und Euge­nik zu zen­tra­len Anlie­gen der Lin­ken machen woll­te, und die Stär­ke der lin­ken Antidrey­fusards, die einen auto­ri­tä­ren und natio­na­len Sozia­lis­mus propagierten.
Für Cra­pez war die Drey­fus-Affä­re der wich­tigs­te Ein­schnitt in der Geschich­te der moder­nen Lin­ken, eigent­lich ihre „Geburts­stun­de“ wie er in einem zwei­ten Buch dar­ge­legt hat (Nais­sance de la gau­che. Essai, Paris: Edi­ti­ons Mich­alon 1998). In der Aus­ein­an­der­set­zung um Schuld oder Unschuld des Haupt­manns jüdi­scher Her­kunft, dem man Spio­na­ge für Deutsch­land vor­warf, spal­te­te sich der fran­zö­si­sche Sozia­lis­mus. Gera­de auf der äußers­ten Lin­ken gab es vie­le, die instink­tiv von der Berech­ti­gung der Vor­wür­fe über­zeugt waren: der Haß auf die Juden als Ver­kör­pe­rung des Reich­tums, der Haß auf das Bür­ger­tum, dem der Offi­zier ent­stamm­te, und der Haß auf Deutsch­land moti­vier­ten den Anschluß an die Fein­de von Drey­fus, die eine Ver­ur­tei­lung for­der­ten und auch dann noch ver­tei­dig­ten, als des­sen Unschuld offen­sicht­lich gewor­den war. Letzt­lich hat der Sieg der Drey­fusards – des „Repu­bli­ka­nis­mus von Cle­men­ceau“ und des „Sozia­lis­mus von Jau­rès“ wie Cra­pez sagt – die alte Lin­ke mar­gi­na­li­siert oder deren „Abglei­ten“ nach rechts zur Fol­ge gehabt.
Die­ser eigen­ar­ti­ge Vor­gang ist am Bei­spiel von Geor­ges Sor­el und ande­ren Meis­ter­den­kern schon häu­fi­ger beschrie­ben wor­den, Cra­pez spürt sei­nen Fol­gen aber auch an der Basis nach. Er sieht in Frank­reich beson­ders klar bestä­tigt, was für den roma­ni­schen Faschis­mus all­ge­mein gel­tend gemacht wer­den kann: den Ursprung die­ser neu­ar­ti­gen Bewe­gung im Bemü­hen, dem Sozia­lis­mus sein revo­lu­tio­nä­res Sub­jekt zurück­zu­ge­win­nen. Cra­pez ergänzt damit die The­sen des israe­li­schen His­to­ri­kers Zeev Stern­hell, die mitt­ler­wei­le auch in Deutsch­land eine gewis­se Bekannt­heit erlangt haben. Stern­hells Unter­su­chun­gen zur Vor- und Früh­ge­schich­te des Faschis­mus pos­tu­lier­ten aller­dings eine Kon­ver­genz der ent­täusch­ten Rech­ten und Lin­ken, wäh­rend Cra­pez den Akzent ein­deu­tig auf die Lin­ke setzt. Er betont aus­drück­lich das Schei­tern des Ver­suchs, die Rech­te (in Gestalt der Action Fran­çai­se) neu zu grün­den, so daß die innen­po­li­ti­sche Ent­wick­lung der Drit­ten, der Vier­ten und der Fünf­ten Repu­blik dahin ten­dier­te, alle Kon­flik­te inner­halb des jako­bi­ni­schen Lagers aus­zu­tra­gen: zwi­schen der kom­mu­nis­ti­schen, der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen und der natio­na­lis­ti­schen Lin­ken. Sie alle stüt­zen sich auf die Mas­sen, müs­sen des­halb ein ten­den­zi­ell ega­li­tä­res Pro­gramm ver­tre­ten, unter­schei­den sich aber hin­sicht­lich der Gren­zen von Inklu­si­on und Exklu­si­on. Wenn in dem Zusam­men­hang die natio­na­lis­ti­sche Lin­ke – etwa der Front Natio­nal – als „rechts“ apo­stro­phiert wird, han­delt es sich nur um eine Mas­ke­ra­de: Auch die Welt­an­schau­ung Le Pens wur­zelt in den „Ideen von 1789“.

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