Rudi Dutschke hatte diese Zeilen in einem Brief, datiert vom 25. Februar 1975, an seine Frau geschrieben, den sie nur im Falle eines Unglücks öffnen sollte. Selbst wenn man berücksichtigt, daß der seit dem Attentat von 1968 schwer gezeichnete Protagonist der Studentenbewegung unter Angstzuständen litt, trifft seine „Einschätzung“ ohne Zweifel zu, in seinem „Umkreis“ seien Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR tätig.
Daß das SED-Regime diejenigen Institutionen und Repräsentanten der Bundesrepublik, die ihm antagonistisch gegenüberstanden, zum Zwecke des Ausspionierens oder der „Diversion“ ins Visier seines Geheimdienstes nahm, ist wenig verwunderlich. Selbst wenn der Umfang, in dem solche Maßnahmen stattgefunden haben, bisweilen unterschätzt wurde und die Enthüllungen nach Auswertung der Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) – insbesondere das auszugsweise erfolgte Öffnen der sogenannten „Rosenholz-Karteien“ – jetzt für Aufsehen sorgen: Spionage lag in der Natur der Blockkonfrontation.
In den Hintergrund droht jedoch zu geraten, daß gerade auch diejenigen Kräfte im westlichen Teil Deutschlands, die politisch ausdrücklich gegen das System der Bonner Republik agierten, das Interesse der DDR-Machthaber weckten. Geht es um „die Achtundsechziger“, die „Außerparlamentarische Opposition“ oder die Friedensbewegung, so ruft heute noch der Hinweis auf ihre Beeinflussung und Instrumentalisierung durch die SED den Vorwurf hervor, man bediene sich des Arguments reaktionärer „Kalter Krieger“, die die Existenz einer „Fünften Kolonne“ behaupteten. Das bekam nicht zuletzt der Historiker Wolfgang Kraushaar zu spüren, der als ehemaliger Funktionär des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) im April 1998 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Artikel über die Einflußnahme des MfS auf die Studentenbewegung („Unsere unterwanderten Jahre“) veröffentlichte. Die kritische „Bewältigung“ der eigenen Vergangenheit ist – das zeigen stets einige empörte Reaktionen – auch unter Alt-Achtundsechzigern nicht sonderlich populär.
Seit den Veröffentlichungen von Hubertus Knabe – insbesondere Die unterwanderte Republik (1999) und Der diskrete Charme der DDR (2001) – liegen jedoch Erkenntnisse darüber vor, inwieweit die kommunistischen Machthaber versucht haben, Einfluß auf linke Organisationen und Gruppen zu nehmen, die infiltriert und zu Katalysatoren der SED-Politik im Westen umgewandelt werden sollten. Dabei nutzte man einerseits offizielle Wege in Form von Kontakten und Bündnissen mit DDR-Organisationen, zum anderen operierte verdeckt das MfS mit eingeschleusten Agenten.
Bereits Ende der fünfziger Jahre hatten die SED-Machthaber Gefolgsleute im Westen auf den sich hoffnungsvoll entwickelnden Berliner SDS angesetzt. Die sogenannte „Konkret-Fraktion“, also die Mitarbeiter der von Klaus Rainer Röhl unter Initiative der FDJ gegründeten Zeitschrift, erlangten bald Posten im Landesvorstand und konnten dort ihre DDR-freundlichen Positionen (zum Ärger der SPD) durchsetzen. Später waren mit Peter Heilmann ein Informeller Mitarbeiter (IM) Mitglied sogar des Bundesvorstands und mit Walter Barthel ein IM Landessekretär des SDS. Die Unterwanderung erwies sich als besonders wichtig, als es darum ging, die sogenannten „Antiautoritären“ um Rudi Dutschke zu verdrängen. Knabe stellte fest, daß allein in Berlin während der Hochzeiten der Außerparlamentarischen Opposition das MfS über zwei Dutzend IM und Kontaktpersonen (KP) innerhalb der APO verfügte, darunter drei IM und vier KP im „Republikanischen Club“, neun IM und vier KP im SDS sowie zwei IM und drei KP in den ASten von Freier und Technischer Universität.
Wurden in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre in Berlin (West) meist solche Informellen Mitarbeiter eingesetzt, die noch als Bürger der DDR für die Stasi rekrutiert und dann in Richtung Westen entsandt worden waren, warb man später zunehmend Bundesbürger für die Mitarbeit. Die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) ging in ihren Dienstanweisungen von einem „Motivationsgefüge“ der IM aus. Nach einer Statistik der Gauck-Behörde waren 60 Prozent der Ende 1988 in der Bundesrepublik und Berlin (West) aktiven IM aufgrund „politisch-ideologischer Überzeugung“ für die Staatssicherheit der DDR tätig geworden; bei 27 Prozent überwogen „materielle Interessen“, nur ein Prozent ist unter Druck – also vor allem Erpressung – zur Mitarbeit bewogen worden. Die Abteilung II der HVA unter Oberst Dr. Kurt Gailat besorgte mit 50 hauptamtlichen Mitarbeitern die Spionage innerhalb der westdeutschen Parteien. Für die Bereiche Grüne, Linksextremisten und die Friedensbewegung war das Referat 6 unter Major Rolf Kessler zuständig. Ende 1988, so das Ergebnis einer Studie der Gauck-Behörde, waren für dieses Referat mindestens fünf „Objekt-Quellen“ tätig, also Informanten, die im zu beobachtenden „Objekt“ beschäftigt waren.
Eine undatierte, wohl Mitte der achtziger Jahre aufgestellte Liste der HVA führt neben zahlreichen bundesdeutschen Institutionen, Forschungs- und Militärbereichen sowie Firmen auch eine Reihe linker Organisationen als „Zielobjekte“. Dazu gehören die Berliner Alternative Liste, der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, verschiedene ASten, Aktion Sühnezeichen, Deutsche Friedensgesellschaft / Kriegsdienstgegner, der DGB, die trotzkistische Europäische Arbeiterpartei, Sozialistische Jugend / Falken, Gruppe Internationaler Marxisten, IG Metall, Kommunistischer Bund, Die Grünen, Sozialistischer Bund, sowie die SPD.
Die Koordinaten für die „politisch-ideologische Überzeugung“ – aus Sicht der Stasi ohne Zweifel die vielversprechendste Motivation – waren im Laufe der Jahre einer gewissen Verschiebung unterworfen. Mußte der IM-Kandidat zunächst noch von der „Überlegenheit des sozialistischen Lagers“ überzeugt sein, änderte man beim MfS die Dienstanweisung im Jahre 1968 unter dem Eindruck der westdeutschen Studentenbewegung dahingehend, daß eine Übereinstimmung mit der „Friedenspolitik des sozialistischen Lagers“, sowie eine Ablehnung „kapitalistischer Staaten“ vorliegen müsse. Zehn Jahre später war nur noch lapidar die Rede von einer „progressiven politischen Überzeugung“ des IM als Voraussetzung für seine Tätigkeit.
Jedoch wurden linke Parteien und Organisationen nicht nur als mögliche Verbündete im Klassenkampf gegen „die BRD“ angesehen. Ins Visier der Stasi gerieten auch solche, die man als Bedrohung wahrnahm, weil sie die DDR und ihre Staatspartei von links her in Frage stellten. Dazu gehörten Teile der Grünen sowie die Ende der siebziger Jahre gegründete alternative Tageszeitung taz. Bereits während ihrer Entstehungszeit wurden die Grünen von der SED wegen der klaren Opposition gegen die Nachrüstungspolitik der Bundesregierung (NATO-Doppelbeschluß) geschätzt. Mißtrauen erregten jedoch die innerhalb der Partei vereinzelt auftretenden nationalneutralistischen Positionen sowie die Bemühungen grüner Politiker, Kontakte mit oppositionellen Friedens- und Umweltgruppen in der DDR aufzubauen. Diese Kontakte zu unterbinden wurde eine der Hauptaufgaben der HVA. Es galt denjenigen innerhalb des vielschichtigen Spektrums der Grünen zum Durchbruch zu verhelfen, die „realistischere“ Positionen gegenüber der DDR vertraten und gleichzeitig die Tätigkeit der „entschieden antikommunistischen Kräfte“ zu hintertreiben.
Eine der Quellen an prominenter Stelle bei den Grünen war Dirk Schneider (IM „Ludwig“), der als Mitglied des Bundestags von 1983 bis 1985 als deutschlandpolitischer Sprecher fungierte und die Partei im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen vertrat. Schneider verriet an die Stasi beispielsweise eine 1983 gemeinsam mit DDR-Friedensgruppen geplante Aktion der Grünen-Abgeordneten Petra Kelly; potentielle Teilnehmer aus den Reihen der östlichen Friedensbewegung konnten daraufhin noch vor Beginn der Veranstaltung vom MfS festgenommen werden. Gleichzeitig distanzierte sich Schneider öffentlichkeitswirksam von seiner Parteifreundin, deren Aktion er „unverantwortlich“ nannte. Unter Schneiders Einfluß bemühten sich die Grünen dann um ein besseres Verhältnis zum SED-Regime: Die Option einer deutschen Wiedervereinigung halte die Partei für „friedensbedrohend“, so eine von Schneider verfaßte Pressemitteilung, sie verlange daher, die „DDR ohne Einschränkungen anzuerkennen“. Nachdem die Fraktionssprecherin Antje Vollmer bereits im September 1984 in einer Bundestagsdebatte die Positionen Schneiders übernommen und die „Geraer Forderungen“ Honeckers (unter anderem Respektierung der DDR-Staatsangehörigkeit und Auflösung der Erfassungsstelle in Salzgitter) unterstützt hatte, konnte das MfS im Dezember 1985 zufrieden feststellen: „Von maßgeblichen realistischer denkenden Vertretern der ‚Grünen‘ wird zunehmend Kritik an den ‚deutschlandpolitischen‘ Positionen von P. Kelly und G. Bastian geübt.“
Insgesamt soll Schneider bis 1987 knapp 330 Informationslieferungen an die HVA geleistet haben, wobei es sich nicht nur um Interna aus der Bundestagsfraktion der Grünen handelte, sondern auch um Personaldossiers, in denen er seinen Auftraggebern „Einschätzungen“ über verschiedene Grünen-Politiker mitteilte. Außerdem informierte „Ludwig“ das MfS über „Aktivitäten von sozialismusfeindlichen Kräften in der grün-alternativen Bewegung“ sowie über die „versuchte Einflußnahme von feindlich-negativen Kräften der DDR auf die realistischen deutschlandpolitischen Positionen in der Bundestagsfraktion“.
Aus den Reihen der West-Berliner Alternativen Liste (AL) berichtete neben Schneider auch der IM „Zeitz“, laut Knabe ein noch nicht enttarnter Professor der Freien Universität, der bereits Ende der sechziger Jahre für den Ost-Geheimdienst tätig geworden war. Sein Aufgabenfeld war insbesondere die Bespitzelung des erklärtermaßen DDR-kritischen Teile der Linken. Als sich 1982 innerhalb der AL ehemalige DDR-Bürger, die in deutlicher Opposition zum SED-Regime standen, der „Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik“ anschlossen und mit der Thematisierung der Deutschen Frage die Machthaber jenseits der Mauer reizten, setzten diese „Zeitz“ auf die Gruppe an. Gegen mehrere ihrer Mitglieder wurden „Vorgänge“ und „Operative Personenkontrollen“ durch das MfS eingeleitet. Als sich die Arbeitsgruppe schließlich auch immer stärkerem innerparteilichem Druck ausgesetzt sah, hatte die Zersetzungsmaßnahme der Stasi ihr Ziel erreicht: die Gruppe löste sich auf. Der bereits erwähnte Dirk Schneider hatte unter anderem behauptet, in ihr befänden sich „nationalrevolutionäre Rechtsextremisten“. Zu Beobachtungsobjekten von „Zeitz“ gehörten weiter linke DDR-Kritiker wie Wolf Biermann, Robert Havemann, das Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros und – Rudi Dutschke.
Das „Interesse“ der Staatssicherheit an Dutschke, der 1975 ein von der SED als „antisowjetisch“ beurteiltes Buch unter dem Titel Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke mitherausgegeben hatte, begründete dieser selbst in dem eingangs zitierten Brief: „… ohne Überheblichkeit, ich bin für sie leider die einzige wirkliche theoretische Herausforderung“. Knabe bestätigt in seiner Untersuchung, die Staatssicherheit habe diese Art innerlinker Angriffe „stärker alarmiert als … offen antikommunistische Kritiker“.
Das Phänomen des Verrats in der westdeutschen Linken zugunsten der DDR-Machthaber ist schwer zu beurteilen. Wer für das MfS beispielsweise eine bundesdeutsche Behörde ausspionierte, betrieb Hoch- oder Landesverrat: Zugunsten eines fremden Staates wurde ein konkretes, klar umrissenes Treueverhältnis gebrochen. Kann jedoch die „eine Linke“ an eine „andere Linke“ verraten werden? Einerseits mußte ja gerade durch die von den IM als beste Motivation für ihre Tätigkeit geforderte „politisch-ideologische Überzeugung“, ihre „progressive“ Einstellung ihren Einsatz innerhalb des linken Spektrums leichter ermöglichen als im bürgerlichen politischen Milieu. Andererseits stellt sich dann die Frage, inwiefern ihre IM-Tätigkeit noch „Verrat“ im eigentlichen Sinne darstellt. Waren sie nicht vielmehr besonders „treu“, nämlich im Sinne einer Loyalität gegenüber der übergeordneten sozialistischen und kommunistischen Ideologie? Margret Boveri zitiert in ihrer zum Klassiker gewordenen Schrift Der Verrat im Zwanzigsten Jahrhundert die These des deutschen Soziologen Hans Naumann, wonach die „Hierarchie der Pflichten“ nicht mehr eindeutig sei: „Heute verrät man nicht mehr sein Vaterland, man verrät heute eine Partei“. Was aber ist – im Falle der Linken – die Partei?
Der IM innerhalb der CDU beispielsweise, aus welcher Motivation heraus er auch immer tätig gewesen sein mag, verriet nicht nur seine Partei, sondern auch ihre Ideologie, die derjenigen der SED entgegengesetzt war. Konnte demgegenüber nicht ein Mitglied der Alternativen Liste guten Gewissens behaupten, die „national“ orientierten Antikommunisten in den eigenen Reihen hätten doch Verrat (nämlich an der wahren Partei) betrieben, den es zu unterbinden galt? Erschien nicht der Verrat an einem einzelnen Menschen, beispielsweise an Dutschke, weniger schlimm als dessen Verrat an „der Menschheit“ durch seine antikommunistische Agitation?
Die IM innerhalb der westdeutschen Linken, die als fleißige Gehilfen der totalitären Machthaber im anderen Teil Deutschlands funktionierten, lassen sich vielleicht nicht juristisch oder moralisch, gewiß aber epochal klar einordnen. Am Ende ihres Werks über den „Verrat“ stellte Boveri fest: „Die Zeiten des blinden Gehorsams, der einmal zum Treuebegriff gehörte, sind vorbei. Die Frage ist, ob sie nicht von einer Epoche des blinden, weil ideologisch ausgerichteten und von keiner eigenen Einsicht bestimmten Urteilens abgelöst wurden.“