Die unterwanderte Linke

pdf der Druckfassung aus Sezession 5 / April 2004

sez_nr_5von Christian Vollradt

„Du hast mir wenig geglaubt in der Einschätzung von Personen aus unserem Umkreis. … Nur eins sollst Du nie aus dem Kopf verlieren, das ist die 99,9-Prozent-Überzeugung von mir, daß, wenn es einen `Abgang´ von mir gibt, dann ist das in der gegenwärtigen Phase eher durchgeführt durch SU-DDR-Geheimdienst als durch westlichen.“

Rudi Dutsch­ke hat­te die­se Zei­len in einem Brief, datiert vom 25. Febru­ar 1975, an sei­ne Frau geschrie­ben, den sie nur im Fal­le eines Unglücks öff­nen soll­te. Selbst wenn man berück­sich­tigt, daß der seit dem Atten­tat von 1968 schwer gezeich­ne­te Prot­ago­nist der Stu­den­ten­be­we­gung unter Angst­zu­stän­den litt, trifft sei­ne „Ein­schät­zung“ ohne Zwei­fel zu, in sei­nem „Umkreis“ sei­en Mit­ar­bei­ter des Staats­si­cher­heits­diens­tes der DDR tätig.
Daß das SED-Regime die­je­ni­gen Insti­tu­tio­nen und Reprä­sen­tan­ten der Bun­des­re­pu­blik, die ihm ant­ago­nis­tisch gegen­über­stan­den, zum Zwe­cke des Aus­spio­nie­rens oder der „Diver­si­on“ ins Visier sei­nes Geheim­diens­tes nahm, ist wenig ver­wun­der­lich. Selbst wenn der Umfang, in dem sol­che Maß­nah­men statt­ge­fun­den haben, bis­wei­len unter­schätzt wur­de und die Ent­hül­lun­gen nach Aus­wer­tung der Akten des ehe­ma­li­gen Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit (MfS) – ins­be­son­de­re das aus­zugs­wei­se erfolg­te Öff­nen der soge­nann­ten „Rosen­holz-Kar­tei­en“ – jetzt für Auf­se­hen sor­gen: Spio­na­ge lag in der Natur der Blockkonfrontation.
In den Hin­ter­grund droht jedoch zu gera­ten, daß gera­de auch die­je­ni­gen Kräf­te im west­li­chen Teil Deutsch­lands, die poli­tisch aus­drück­lich gegen das Sys­tem der Bon­ner Repu­blik agier­ten, das Inter­es­se der DDR-Macht­ha­ber weck­ten. Geht es um „die Acht­und­sech­zi­ger“, die „Außer­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­ti­on“ oder die Frie­dens­be­we­gung, so ruft heu­te noch der Hin­weis auf ihre Beein­flus­sung und Instru­men­ta­li­sie­rung durch die SED den Vor­wurf her­vor, man bedie­ne sich des Argu­ments reak­tio­nä­rer „Kal­ter Krie­ger“, die die Exis­tenz einer „Fünf­ten Kolon­ne“ behaup­te­ten. Das bekam nicht zuletzt der His­to­ri­ker Wolf­gang Kraus­haar zu spü­ren, der als ehe­ma­li­ger Funk­tio­när des Sozia­lis­ti­schen Deut­schen Stu­den­ten­bunds (SDS) im April 1998 in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung einen Arti­kel über die Ein­fluß­nah­me des MfS auf die Stu­den­ten­be­we­gung („Unse­re unter­wan­der­ten Jah­re“) ver­öf­fent­lich­te. Die kri­ti­sche „Bewäl­ti­gung“ der eige­nen Ver­gan­gen­heit ist – das zei­gen stets eini­ge empör­te Reak­tio­nen – auch unter Alt-Acht­und­sech­zi­gern nicht son­der­lich populär.
Seit den Ver­öf­fent­li­chun­gen von Huber­tus Kna­be – ins­be­son­de­re Die unter­wan­der­te Repu­blik (1999) und Der dis­kre­te Charme der DDR (2001) – lie­gen jedoch Erkennt­nis­se dar­über vor, inwie­weit die kom­mu­nis­ti­schen Macht­ha­ber ver­sucht haben, Ein­fluß auf lin­ke Orga­ni­sa­tio­nen und Grup­pen zu neh­men, die infil­triert und zu Kata­ly­sa­to­ren der SED-Poli­tik im Wes­ten umge­wan­delt wer­den soll­ten. Dabei nutz­te man einer­seits offi­zi­el­le Wege in Form von Kon­tak­ten und Bünd­nis­sen mit DDR-Orga­ni­sa­tio­nen, zum ande­ren ope­rier­te ver­deckt das MfS mit ein­ge­schleus­ten Agenten.
Bereits Ende der fünf­zi­ger Jah­re hat­ten die SED-Macht­ha­ber Gefolgs­leu­te im Wes­ten auf den sich hoff­nungs­voll ent­wi­ckeln­den Ber­li­ner SDS ange­setzt. Die soge­nann­te „Kon­kret-Frak­ti­on“, also die Mit­ar­bei­ter der von Klaus Rai­ner Röhl unter Initia­ti­ve der FDJ gegrün­de­ten Zeit­schrift, erlang­ten bald Pos­ten im Lan­des­vor­stand und konn­ten dort ihre DDR-freund­li­chen Posi­tio­nen (zum Ärger der SPD) durch­set­zen. Spä­ter waren mit Peter Heil­mann ein Infor­mel­ler Mit­ar­bei­ter (IM) Mit­glied sogar des Bun­des­vor­stands und mit Wal­ter Bart­hel ein IM Lan­des­se­kre­tär des SDS. Die Unter­wan­de­rung erwies sich als beson­ders wich­tig, als es dar­um ging, die soge­nann­ten „Anti­au­to­ri­tä­ren“ um Rudi Dutsch­ke zu ver­drän­gen. Kna­be stell­te fest, daß allein in Ber­lin wäh­rend der Hoch­zei­ten der Außer­par­la­men­ta­ri­schen Oppo­si­ti­on das MfS über zwei Dut­zend IM und Kon­takt­per­so­nen (KP) inner­halb der APO ver­füg­te, dar­un­ter drei IM und vier KP im „Repu­bli­ka­ni­schen Club“, neun IM und vier KP im SDS sowie zwei IM und drei KP in den ASten von Frei­er und Tech­ni­scher Universität.

Wur­den in den fünf­zi­ger und zu Beginn der sech­zi­ger Jah­re in Ber­lin (West) meist sol­che Infor­mel­len Mit­ar­bei­ter ein­ge­setzt, die noch als Bür­ger der DDR für die Sta­si rekru­tiert und dann in Rich­tung Wes­ten ent­sandt wor­den waren, warb man spä­ter zuneh­mend Bun­des­bür­ger für die Mit­ar­beit. Die Haupt­ver­wal­tung Auf­klä­rung (HVA) ging in ihren Dienst­an­wei­sun­gen von einem „Moti­va­ti­ons­ge­fü­ge“ der IM aus. Nach einer Sta­tis­tik der Gauck-Behör­de waren 60 Pro­zent der Ende 1988 in der Bun­des­re­pu­blik und Ber­lin (West) akti­ven IM auf­grund „poli­tisch-ideo­lo­gi­scher Über­zeu­gung“ für die Staats­si­cher­heit der DDR tätig gewor­den; bei 27 Pro­zent über­wo­gen „mate­ri­el­le Inter­es­sen“, nur ein Pro­zent ist unter Druck – also vor allem Erpres­sung – zur Mit­ar­beit bewo­gen wor­den. Die Abtei­lung II der HVA unter Oberst Dr. Kurt Gai­lat besorg­te mit 50 haupt­amt­li­chen Mit­ar­bei­tern die Spio­na­ge inner­halb der west­deut­schen Par­tei­en. Für die Berei­che Grü­ne, Links­extre­mis­ten und die Frie­dens­be­we­gung war das Refe­rat 6 unter Major Rolf Kess­ler zustän­dig. Ende 1988, so das Ergeb­nis einer Stu­die der Gauck-Behör­de, waren für die­ses Refe­rat min­des­tens fünf „Objekt-Quel­len“ tätig, also Infor­man­ten, die im zu beob­ach­ten­den „Objekt“ beschäf­tigt waren.
Eine unda­tier­te, wohl Mit­te der acht­zi­ger Jah­re auf­ge­stell­te Lis­te der HVA führt neben zahl­rei­chen bun­des­deut­schen Insti­tu­tio­nen, For­schungs- und Mili­tär­be­rei­chen sowie Fir­men auch eine Rei­he lin­ker Orga­ni­sa­tio­nen als „Ziel­ob­jek­te“. Dazu gehö­ren die Ber­li­ner Alter­na­ti­ve Lis­te, der Arbei­ter­bund für den Wie­der­auf­bau der KPD, ver­schie­de­ne ASten, Akti­on Süh­ne­zei­chen, Deut­sche Frie­dens­ge­sell­schaft / Kriegs­dienst­geg­ner, der DGB, die trotz­kis­ti­sche Euro­päi­sche Arbei­ter­par­tei, Sozia­lis­ti­sche Jugend / Fal­ken, Grup­pe Inter­na­tio­na­ler Mar­xis­ten, IG Metall, Kom­mu­nis­ti­scher Bund, Die Grü­nen, Sozia­lis­ti­scher Bund, sowie die SPD.
Die Koor­di­na­ten für die „poli­tisch-ideo­lo­gi­sche Über­zeu­gung“ – aus Sicht der Sta­si ohne Zwei­fel die viel­ver­spre­chends­te Moti­va­ti­on – waren im Lau­fe der Jah­re einer gewis­sen Ver­schie­bung unter­wor­fen. Muß­te der IM-Kan­di­dat zunächst noch von der „Über­le­gen­heit des sozia­lis­ti­schen Lagers“ über­zeugt sein, änder­te man beim MfS die Dienst­an­wei­sung im Jah­re 1968 unter dem Ein­druck der west­deut­schen Stu­den­ten­be­we­gung dahin­ge­hend, daß eine Über­ein­stim­mung mit der „Frie­dens­po­li­tik des sozia­lis­ti­schen Lagers“, sowie eine Ableh­nung „kapi­ta­lis­ti­scher Staa­ten“ vor­lie­gen müs­se. Zehn Jah­re spä­ter war nur noch lapi­dar die Rede von einer „pro­gres­si­ven poli­ti­schen Über­zeu­gung“ des IM als Vor­aus­set­zung für sei­ne Tätigkeit.
Jedoch wur­den lin­ke Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen nicht nur als mög­li­che Ver­bün­de­te im Klas­sen­kampf gegen „die BRD“ ange­se­hen. Ins Visier der Sta­si gerie­ten auch sol­che, die man als Bedro­hung wahr­nahm, weil sie die DDR und ihre Staats­par­tei von links her in Fra­ge stell­ten. Dazu gehör­ten Tei­le der Grü­nen sowie die Ende der sieb­zi­ger Jah­re gegrün­de­te alter­na­ti­ve Tages­zei­tung taz. Bereits wäh­rend ihrer Ent­ste­hungs­zeit wur­den die Grü­nen von der SED wegen der kla­ren Oppo­si­ti­on gegen die Nach­rüs­tungs­po­li­tik der Bun­des­re­gie­rung (NATO-Dop­pel­be­schluß) geschätzt. Miß­trau­en erreg­ten jedoch die inner­halb der Par­tei ver­ein­zelt auf­tre­ten­den natio­nal­neu­tra­lis­ti­schen Posi­tio­nen sowie die Bemü­hun­gen grü­ner Poli­ti­ker, Kon­tak­te mit oppo­si­tio­nel­len Frie­dens- und Umwelt­grup­pen in der DDR auf­zu­bau­en. Die­se Kon­tak­te zu unter­bin­den wur­de eine der Haupt­auf­ga­ben der HVA. Es galt den­je­ni­gen inner­halb des viel­schich­ti­gen Spek­trums der Grü­nen zum Durch­bruch zu ver­hel­fen, die „rea­lis­ti­sche­re“ Posi­tio­nen gegen­über der DDR ver­tra­ten und gleich­zei­tig die Tätig­keit der „ent­schie­den anti­kom­mu­nis­ti­schen Kräf­te“ zu hintertreiben.
Eine der Quel­len an pro­mi­nen­ter Stel­le bei den Grü­nen war Dirk Schnei­der (IM „Lud­wig“), der als Mit­glied des Bun­des­tags von 1983 bis 1985 als deutsch­land­po­li­ti­scher Spre­cher fun­gier­te und die Par­tei im Aus­schuß für inner­deut­sche Bezie­hun­gen ver­trat. Schnei­der ver­riet an die Sta­si bei­spiels­wei­se eine 1983 gemein­sam mit DDR-Frie­dens­grup­pen geplan­te Akti­on der Grü­nen-Abge­ord­ne­ten Petra Kel­ly; poten­ti­el­le Teil­neh­mer aus den Rei­hen der öst­li­chen Frie­dens­be­we­gung konn­ten dar­auf­hin noch vor Beginn der Ver­an­stal­tung vom MfS fest­ge­nom­men wer­den. Gleich­zei­tig distan­zier­te sich Schnei­der öffent­lich­keits­wirk­sam von sei­ner Par­tei­freun­din, deren Akti­on er „unver­ant­wort­lich“ nann­te. Unter Schnei­ders Ein­fluß bemüh­ten sich die Grü­nen dann um ein bes­se­res Ver­hält­nis zum SED-Regime: Die Opti­on einer deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung hal­te die Par­tei für „frie­dens­be­dro­hend“, so eine von Schnei­der ver­faß­te Pres­se­mit­tei­lung, sie ver­lan­ge daher, die „DDR ohne Ein­schrän­kun­gen anzu­er­ken­nen“. Nach­dem die Frak­ti­ons­spre­che­rin Ant­je Voll­mer bereits im Sep­tem­ber 1984 in einer Bun­des­tags­de­bat­te die Posi­tio­nen Schnei­ders über­nom­men und die „Gera­er For­de­run­gen“ Hon­eckers (unter ande­rem Respek­tie­rung der DDR-Staats­an­ge­hö­rig­keit und Auf­lö­sung der Erfas­sungs­stel­le in Salz­git­ter) unter­stützt hat­te, konn­te das MfS im Dezem­ber 1985 zufrie­den fest­stel­len: „Von maß­geb­li­chen rea­lis­ti­scher den­ken­den Ver­tre­tern der ‚Grü­nen‘ wird zuneh­mend Kri­tik an den ‚deutsch­land­po­li­ti­schen‘ Posi­tio­nen von P. Kel­ly und G. Bas­ti­an geübt.“

Ins­ge­samt soll Schnei­der bis 1987 knapp 330 Infor­ma­ti­ons­lie­fe­run­gen an die HVA geleis­tet haben, wobei es sich nicht nur um Inter­na aus der Bun­des­tags­frak­ti­on der Grü­nen han­del­te, son­dern auch um Per­so­nal­dos­siers, in denen er sei­nen Auf­trag­ge­bern „Ein­schät­zun­gen“ über ver­schie­de­ne Grü­nen-Poli­ti­ker mit­teil­te. Außer­dem infor­mier­te „Lud­wig“ das MfS über „Akti­vi­tä­ten von sozia­lis­mus­feind­li­chen Kräf­ten in der grün-alter­na­ti­ven Bewe­gung“ sowie über die „ver­such­te Ein­fluß­nah­me von feind­lich-nega­ti­ven Kräf­ten der DDR auf die rea­lis­ti­schen deutsch­land­po­li­ti­schen Posi­tio­nen in der Bundestagsfraktion“.
Aus den Rei­hen der West-Ber­li­ner Alter­na­ti­ven Lis­te (AL) berich­te­te neben Schnei­der auch der IM „Zeitz“, laut Kna­be ein noch nicht ent­tarn­ter Pro­fes­sor der Frei­en Uni­ver­si­tät, der bereits Ende der sech­zi­ger Jah­re für den Ost-Geheim­dienst tätig gewor­den war. Sein Auf­ga­ben­feld war ins­be­son­de­re die Bespit­ze­lung des erklär­ter­ma­ßen DDR-kri­ti­schen Tei­le der Lin­ken. Als sich 1982 inner­halb der AL ehe­ma­li­ge DDR-Bür­ger, die in deut­li­cher Oppo­si­ti­on zum SED-Regime stan­den, der „Arbeits­grup­pe Ber­lin- und Deutsch­land­po­li­tik“ anschlos­sen und mit der The­ma­ti­sie­rung der Deut­schen Fra­ge die Macht­ha­ber jen­seits der Mau­er reiz­ten, setz­ten die­se „Zeitz“ auf die Grup­pe an. Gegen meh­re­re ihrer Mit­glie­der wur­den „Vor­gän­ge“ und „Ope­ra­ti­ve Per­so­nen­kon­trol­len“ durch das MfS ein­ge­lei­tet. Als sich die Arbeits­grup­pe schließ­lich auch immer stär­ke­rem inner­par­tei­li­chem Druck aus­ge­setzt sah, hat­te die Zer­set­zungs­maß­nah­me der Sta­si ihr Ziel erreicht: die Grup­pe lös­te sich auf. Der bereits erwähn­te Dirk Schnei­der hat­te unter ande­rem behaup­tet, in ihr befän­den sich „natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re Rechts­extre­mis­ten“. Zu Beob­ach­tungs­ob­jek­ten von „Zeitz“ gehör­ten wei­ter lin­ke DDR-Kri­ti­ker wie Wolf Bier­mann, Robert Have­mann, das Komi­tee für die Frei­las­sung Rudolf Bahros und – Rudi Dutschke.
Das „Inter­es­se“ der Staats­si­cher­heit an Dutsch­ke, der 1975 ein von der SED als „anti­so­wje­tisch“ beur­teil­tes Buch unter dem Titel Die Sowjet­uni­on, Sol­sche­ni­zyn und die west­li­che Lin­ke mit­her­aus­ge­ge­ben hat­te, begrün­de­te die­ser selbst in dem ein­gangs zitier­ten Brief: „… ohne Über­heb­lich­keit, ich bin für sie lei­der die ein­zi­ge wirk­li­che theo­re­ti­sche Her­aus­for­de­rung“. Kna­be bestä­tigt in sei­ner Unter­su­chung, die Staats­si­cher­heit habe die­se Art inner­lin­ker Angrif­fe „stär­ker alar­miert als … offen anti­kom­mu­nis­ti­sche Kritiker“.
Das Phä­no­men des Ver­rats in der west­deut­schen Lin­ken zuguns­ten der DDR-Macht­ha­ber ist schwer zu beur­tei­len. Wer für das MfS bei­spiels­wei­se eine bun­des­deut­sche Behör­de aus­spio­nier­te, betrieb Hoch- oder Lan­des­ver­rat: Zuguns­ten eines frem­den Staa­tes wur­de ein kon­kre­tes, klar umris­se­nes Treue­ver­hält­nis gebro­chen. Kann jedoch die „eine Lin­ke“ an eine „ande­re Lin­ke“ ver­ra­ten wer­den? Einer­seits muß­te ja gera­de durch die von den IM als bes­te Moti­va­ti­on für ihre Tätig­keit gefor­der­te „poli­tisch-ideo­lo­gi­sche Über­zeu­gung“, ihre „pro­gres­si­ve“ Ein­stel­lung ihren Ein­satz inner­halb des lin­ken Spek­trums leich­ter ermög­li­chen als im bür­ger­li­chen poli­ti­schen Milieu. Ande­rer­seits stellt sich dann die Fra­ge, inwie­fern ihre IM-Tätig­keit noch „Ver­rat“ im eigent­li­chen Sin­ne dar­stellt. Waren sie nicht viel­mehr beson­ders „treu“, näm­lich im Sin­ne einer Loya­li­tät gegen­über der über­ge­ord­ne­ten sozia­lis­ti­schen und kom­mu­nis­ti­schen Ideo­lo­gie? Mar­gret Boveri zitiert in ihrer zum Klas­si­ker gewor­de­nen Schrift Der Ver­rat im Zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert die The­se des deut­schen Sozio­lo­gen Hans Nau­mann, wonach die „Hier­ar­chie der Pflich­ten“ nicht mehr ein­deu­tig sei: „Heu­te ver­rät man nicht mehr sein Vater­land, man ver­rät heu­te eine Par­tei“. Was aber ist – im Fal­le der Lin­ken – die Partei?
Der IM inner­halb der CDU bei­spiels­wei­se, aus wel­cher Moti­va­ti­on her­aus er auch immer tätig gewe­sen sein mag, ver­riet nicht nur sei­ne Par­tei, son­dern auch ihre Ideo­lo­gie, die der­je­ni­gen der SED ent­ge­gen­ge­setzt war. Konn­te dem­ge­gen­über nicht ein Mit­glied der Alter­na­ti­ven Lis­te guten Gewis­sens behaup­ten, die „natio­nal“ ori­en­tier­ten Anti­kom­mu­nis­ten in den eige­nen Rei­hen hät­ten doch Ver­rat (näm­lich an der wah­ren Par­tei) betrie­ben, den es zu unter­bin­den galt? Erschien nicht der Ver­rat an einem ein­zel­nen Men­schen, bei­spiels­wei­se an Dutsch­ke, weni­ger schlimm als des­sen Ver­rat an „der Mensch­heit“ durch sei­ne anti­kom­mu­nis­ti­sche Agitation?
Die IM inner­halb der west­deut­schen Lin­ken, die als flei­ßi­ge Gehil­fen der tota­li­tä­ren Macht­ha­ber im ande­ren Teil Deutsch­lands funk­tio­nier­ten, las­sen sich viel­leicht nicht juris­tisch oder mora­lisch, gewiß aber epo­chal klar ein­ord­nen. Am Ende ihres Werks über den „Ver­rat“ stell­te Boveri fest: „Die Zei­ten des blin­den Gehor­sams, der ein­mal zum Treuebe­griff gehör­te, sind vor­bei. Die Fra­ge ist, ob sie nicht von einer Epo­che des blin­den, weil ideo­lo­gisch aus­ge­rich­te­ten und von kei­ner eige­nen Ein­sicht bestimm­ten Urtei­lens abge­löst wurden.“

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