Jedoch hat man sich die Realität, in der der vorzivilisatorische Mensch lebte, härter, grausamer und amoralischer vorzustellen als das, was wir heute vorfinden. Die technologischen Möglichkeiten der modernen Archäologie tragen fast täglich dazu bei, den Mythos des „edlen Wilden“ als Wunschgedanken zu entlarven.
Der Gedanke, daß der „edle Wilde“ im Einklang mit seiner Umwelt lebte, zählt zweifellos zu den nachhaltigsten Mythen der Menschheit. Insbesondere die Ureinwohner Amerikas dienten und dienen dabei als Vorbild eines gelungenen Ausgleichs zwischen Mensch und Natur, dessen Harmonie erst durch die Ankunft der Europäer zerstört wurde. Die erste durch Menschen verursachte ökologische Katastrophe in Nordamerika hatte sich allerdings schon zwischen 9000 und 5000 Jahre vor Christus vollzogen, in einer Epoche, die allgemein als pleistocene overkill bekannt ist: Während dieser Zeit wurden große Säugetiere wie das amerikanische Pferd, der Säbelzahntiger, Faultiere und der Riesenbiber, insgesamt circa 160 Tierarten, Opfer der wachsenden Menschenzahl in Nordamerika.
Auch in späteren Epochen griff der edle Wilde ökologisch verheerend in seine Umwelt ein. Als herausragendes Beispiel dafür kann die Stadt Cahokia, eines der Zentren der Mississippi- Hochkultur dienen. Die hölzernen Hütten, Palisaden, Wehrgänge und Wehrtürme der Stadt, aber auch der Brennholzbedarf, waren eine signifikante ökologische Belastung, die zum Untergang Cahokias im 12. beziehungsweise 13. Jahrhundert beigetragen hat. Allein der Bau der etwa vier Kilometer langen Palisaden bedeutete das Fällen von ungefähr 80 000 Bäumen.
Die archäologischen Beweise deuten außerdem im Bereich der Nahrungsbeschaffung auf gelegentliche Massentötung. So setzten die Miamis Feuer ein, um die Bisons den Jägern zuzutreiben: Bis zu zweihundert Tiere am Tag wurden erlegt, weit mehr als der Bedarf.
Ähnlich problematisch wie in Nordamerika war die ökologische Realität im vorkolonialen Neuseeland. Dort hatten die Maoris innerhalb der ersten 600 Jahre nach ihrer Ankunft etliche Vogelarten ausgerottet und die Hälfte des Baumbestandes gerodet, woraus insgesamt mindestens 4000 Forts und Festungen entstanden sind.
Aus diesen und ähnlichen Beispielen läßt sich ableiten, daß auch der edle Wilde, insofern ihm die technologischen Möglichkeiten zur Verfügung standen, ökologischen Gesichtspunkten geringe Beachtung schenkte. Wo das ökologische Gleichgewicht bewahrt wurde, spielte meist die mangelnde Fähigkeit zur Naturausbeutung mit geringer Siedlungsdichte und kleinen Bedarfsmengen zusammen. Oder man trifft auf die sehr entwickelte Kulturtechnik einer optimalen und nachhaltigen Nutzung der Naturressourcen. Es kann jedoch kaum die Rede sein von einem ökologischen Bewußtsein im Sinne eines ethischen Leitgedankens oder von einem vorbewußten Eingebettetsein ins sanfte Widerspiel von Natur und Mensch.
Die erwähnte hohe Anzahl von Befestigungen in Neuseeland und die Palisaden der Ureinwohner Amerikas widerlegen auch die Annahme, daß Krieg eine Erfindung der Zivilisation sei. Versuche, die Palisaden als „Umzäunung“ zu beschreiben, deren Zweck es war, die Dorfbewohner gegen wilde Tiere zu schützen, scheitern an der Beweislast. Weder das neolithische Zeitalter in Europa noch die primitiven Gesellschaften anderswo waren von besonderer Friedfertigkeit geprägt. Vielmehr läßt sich zeigen, daß zivilisatorisch fortgeschrittene Gemeinschaften weniger häufig und zeitlich begrenzt ihre Kriege führen, der technischen Möglichkeiten wegen jedoch mit hoher Intensität und Zerstörungskraft.
Im Gegensatz dazu führten vorindustrielle Gesellschaften meist im zyklischen Jahresrhythmus die petite guerre. Deren Dauerhaftigkeit führte zu einem starken kriegerischen Mobilisierungsgrad und zu Verlusten, die prozentual viel höher lagen als beispielsweise die der Deutschen während beider Weltkriege. Solche Überlegungen lassen sich auch am vorkolonialen Bevölkerungswachstum abgleichen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag dieses Wachstum in Afrika, südlich der Sahara, bei 0,1 Prozent. Durch die Kolonisierung und die damit verbundene Unterbrechung der Kriegszyklen – auch als Tegria- oder Killikriege bekannt – stieg das Bevölkerungswachstum rapide an und erreichte bis zum Zeitpunkt der Entkolonisierung, nicht zuletzt auch durch die verbesserte medizinische Versorgung, bis zu drei Prozent.
Außerdem schwanden unter der weißen Herrschaft Menschenopfer oder ritueller Kannibalismus – bis dahin ein integraler Bestandteil der Kriegführung des edlen Wilden. Jahrzehntelang verpönt als Propaganda zum Zwecke der Entmenschlichung des „Anderen“, belegen archäologische Funde heute, daß unter den Polynesiern, in den meisten Stämmen Amerikas, aber auch in großen Teilen Afrikas südlich der Sahara, der rituelle Kannibalismus eine wesentliche Rolle spielte. Nicht anders das Bild auf der anderen Seite des Ozeans. Die Azteken scheinen ihren hohen Bedarf an Menschenopfern durch ein regelrechtes „Ernten“ unter den tributpflichtigen Nachbarstämmen perfektioniert zu haben, wobei die körperlichen Überreste offenbar auch als Nahrungsquelle dienten. Dabei unterschied sich die Gewalt nicht nur durch den Kannibalismus von den Gewaltexzessen der Europäer. Vielmehr erschreckte die breite gesellschaftliche Beteiligung. Bei den edlen Wilden hatten das Foltern, Töten und der Kannibalismus Volksfestcharakter. Die Briefe und Berichte der spanischen Conquistadores sind Dokumente des Entsetzens über die grausamen Praktiken der Kulturen Mittelamerikas. Die sicher nicht zart besaiteten Eroberer glaubten, in Mexiko die Hölle gefunden zu haben und schilderten mit Widerwillen das Ausmaß des Totenkults. In Afrika verlief, aus topographischen und geostrategischen Gründen, die Kolonialepoche mit einer anderen Dynamik. Aber noch 1906 führten die Briten eine Strafexpedition in Benin zur Unterbindung von Menschenopfer und rituellem Kannibalismus durch. Heute zeigt sich eine Wiederbelebung solcher Praktiken in weiten Teilen Afrikas, je stärker der westliche Einfluß und staatliche Strukturen zurückgedrängt werden.
Unstrittig ist, daß der edle Wilde über einen ausgeprägten Sinn für Freiheit verfügte. Fraglich ist jedoch, ob er dieses Freiheitsverständnis als universal gültig betrachtete, wie oft impliziert wird, wenn es beispielsweise um die Kritik am europäischen Sklavenhandel vergangener Jahrhunderte geht. Denn auch hier zeigen Untersuchungen, daß lange vor dem transatlantischen Sklavenhandel etwa 70 bis 75 Prozent aller afrikanischen Männer mindestens einmal in ihrem Leben versklavt waren. Sklaverei war ein gängiges und in unterschiedlichen Kulturen anzutreffendes Phänomen, das jeden Verlierer eines Krieges treffen konnte.
Tatsächlich war die Ökonomie Afrikas eine Sklavenökonomie: Die fast gänzliche Abwesenheit von domestizierten Tieren konnte nur durch die Körperkraft der Versklavten ausgeglichen werden. Die Küsten West- und Ostafrikas boten die Märkte für den transatlantischen und nordafrikanischen Sklavenhandel. So erklärte ein westafrikanisches Stammesoberhaupt im 19. Jahrhundert: „We want three things: powder, ball and brandy, and we have three things to sell: men, women and children.“
Die westlichen Staaten beteiligten sich für eine gewisse Zeit massiv am Sklavenhandel. Jedoch wandten sie sich aus eigener, auf ethische Normen gestützter Überlegung wieder davon ab. Humanismus und Christentum sensibilisierten die Menschen in Europa und Nordamerika und führten sie dazu, ihr eigenes Handeln zu hinterfragen, Freiheit als universalen Wert auf die ganze Menschheit zu projizieren und selbstkritisch eigenes Verhalten zu ändern. Als die Europäer im 19. Jahrhundert obendrein die Sklaverei in ihren jeweiligen Einflußbereichen bekämpften, stießen sie auf den Widerstand der Einheimischen. Stammesfürsten aus Gambia, dem Kongo und Dahomey schickten Delegationen in europäische Hauptstädte und forderten die jeweiligen Kolonialmächte auf, das Sklavereiverbot rückgängig zu machen, da der Menschenhandel ein integraler Bestandteil ihrer Kultur sei und seine Abschaffung wirtschaftlich destabilisierend wirke.
Bleibt zuletzt die Behauptung einer besonderen egalitären Einstellung des edlen Wilden. Die ist nicht nur unwahrscheinlich aufgrund der erwähnten Befunde zur Bedeutung der Sklaverei. Auch die Herrschaftsstrukturen und Geschlechterrollen lassen eine Gleichheitsvorstellung kaum erkennen. Absolute Macht über Leben und Tod lag oft in den Händen einzelner Herrscher. In der Selbstdefinition zeigen sich enge Identifikationsradien, die meist den Nichtmitgliedern des eigenen Stammes das Menschsein absprachen. In der Rollenverteilung unter den Geschlechtern zeigt sich bis heute, daß Frauen in traditionellen Gesellschaften nur selten über Bedingungen verfügen, die auch nur annähernd der Gleichberechtigung entsprechen. Vielmehr litten und leiden Frauen entlang der Entwicklungsperipherie an massiver Benachteiligung, wurden und werden verkauft, geraubt oder durch Genitalverstümmelung in ihrer persönlichen Entfaltung eingeschränkt. Zwar gab es Frauen, die Führungsrollen übernahmen, beispielsweise unter den Indianern entlang der Ostküste Nordamerikas; jedoch war dieses Phänomen stets auf nur wenige Personen beschränkt und keineswegs der Normalzustand.
Der „edle Wilde“ ist ein Konstrukt westlicher, vor allem linker Phantasie. Es gab ihn nie.